Im Juli 2009 veröffentlichte PUBLIK FORUM ein Interview von mir mit Prof. Friedrich Wilhelm Graf, dem bekannten protestantischen Theologen von der Universität München. Inzwischen hat Friedrich Wilhelm Graf das viel beachtete Buch „Kirchendämmerung“ (becksche Reihe 2011) veröffentlicht, ein anregendes theologisches Buch, in einer Deutlichkeit geschrieben, wie sie heute selten noch Theologen wagen. Auch wenn wir mit einzelnen Aussagen nicht einverstanden sind, etwa zur optimistischen Einschätzung des „freien Marktes“ oder der Prognose, die rechtlichen Rahmenbedingungen der Volkskirche würden sich nicht ändern, so können wir das Buch „Kirchendämmerung“ ausdrücklich allen empfehlen, die über die Zukunft der etablierten Kirche in Deutschland nachdenken. Grafs Plädoyer für eine von der Vernunft “kontrollierte” Theologie wird philosophisch Interessierte ohnehin erfreuen.
In dem Buch „Kirchendämmerung“ wird von der römischen Kirche eher am Rande gesprochen, deswegen bieten wir hier noch einmal das Interview vom Juli 2009, es hat unseres Erachtens nichts an Aktualität verloren.
»Jesus-Nachfolge ist nicht der Weg des Papstes«
Über den Papst wird der protestantische Theologe Friedrich Wilhelm Graf (München) befragt
Von Christian Modehn
Herr Graf, seit Beginn seines Pontifikats betont Benedikt XVI. die römisch-katholische Identität. Ist das eine Kampfansage an den Protestantismus?
Friedrich Wilhelm Graf: Man kann nur dankbar sein, dass der Papst das spezifisch Katholische – jedenfalls so, wie er es versteht – prägnant formuliert. Denn es ist immer besser, wenn man es mit Leuten zu tun hat, die genau wissen, wer sie sind und was sie wollen. Für Benedikt ist die Ökumene mit den Protestanten sehr viel weniger wichtig als die Verständigung mit den orthodoxen Kirchen. Denn er täuscht sich nicht darüber, dass die Situation in Deutschland, wo beide Kirchen jeweils ein Drittel der Bevölkerung ausmachen, im europäischen Vergleich die Ausnahme ist.
Warum ist dem Papst die Annäherung an die Orthodoxie so wichtig?
Graf: Wenn wir Benedikts Aussagen oder denen des zuständigen Kardinals, Walter Kasper, folgen, dann fällt auf, dass sie regelmäßig die große Nähe der jeweiligen Amtsverständnisse betonen. Wie der Katholizismus kennt die Orthodoxie eine steile Amtstheologie. Ebenso betonen beide die Autorität der Kirche als Institution. So weit die Gemeinsamkeiten. Doch dann muss man genauer hinschauen. Zum einen hat die Orthodoxie in sich große Unterschiede. Viele orthodoxe Kirchen sind so etwas wie Ethno-Religionen, die das Christentum in einem engen nationalen Kontext auslegen und deren Symbolsprachen den Anspruch dokumentieren, Trägerinnen der nationalen Seele zu sein. Zum anderen haben die orthodoxen Kirchen keine eigenen Aufklärungstraditionen. Das macht sie in Fragen von Menschenrechten, Menschenwürde, Demokratie zu äußerst heiklen Dialogpartnern.
Bei diesen Punkten gäbe es zum Protestantismus größere Nähe. Trotzdem zeigt der Papst den Protestanten die kalte Schulter. Warum?
Graf: Der Papst weiß, dass sich die Kernanliegen der Reformation nicht in den Katholizismus übertragen lassen: das Priestertum aller Gläubigen, die starke Betonung der Weltlichkeit des Glaubens, die Unterscheidung von Religion und Politik. Außerdem braucht der Protestantismus keinen Papst. Insofern kann man es Benedikt nicht übelnehmen, dass er am Gespräch mit den Protestanten kein großes Interesse hat.
Aber muss man deswegen den protestantischen Kirchen das Kirchesein absprechen?
Graf: Zum Glück muss ja niemand seine eigene Identität von der Bestätigung durch andere abhängig machen. Denn die Sache ist klar: Nach Maßgabe der römisch-katholischen Kirchenlehre sind protestantische Kirchen nicht im gleichen Sinne Kirche wie die katholische. Die katholische Kirche hat im Zuge der Modernisierung ihre Machtansprüche immer deutlicher betont, sie hat immer steilere Amtstheologien entwickelt und die Priester den Laien deutlich vorgeordnet. Das alles liegt dem Protestantismus fern. Mit dieser Differenz kann man aber konstruktiv umgehen. Es ist niemandem damit gedient, sie einfach zu leugnen.
Ist diese starke Betonung des Amtes und der Hierarchie der Versuch, die Kirche als eine Art Gegenwelt zur Moderne zu etablieren?
Graf: Man kann sagen, dass sich die römisch-katholische Kirche seit 200 Jahren als Gegeninstitution zum Prozess der Modernisierung versteht. Deshalb hat sie im 19. Jahrhundert die Autorität des Papstes gestärkt, deshalb hat sie zunehmend auf einen römischen Zentralismus gesetzt. Was wir bei Benedikt XVI. erleben, ist die logische Fortsetzung einer in sich konsequenten Kirchenpolitik: einer Politik, die man als Identitätspolitik beschreiben könnte, als Pflege der eigenen Corporate Identity. Unter den Bedingungen eines zunehmenden Pluralismus ist das plausibel.
Viele Katholiken in Deutschland sehen das anders. Unter Berufung auf das Zweite Vatikanische Konzil mahnen sie an, dass die römische Kirche sehr wohl lernfähig sein kann und dass es einen durchaus anderen Katholizismus gibt als denjenigen, den der Papst mit Macht in seiner Kirche durchzusetzen versucht.
Graf: Nun ja, er ist eben der Papst, und das müssen auch reformorientierte und liberale Katholiken in irgendeiner Weise akzeptieren. Aber wie dem auch sei: Über die Deutung des Zweiten Vatikanums kann man trefflich streiten. Die meisten Dokumente des Konzils sind Kompromisstexte, die man nach der einen wie nach der anderen Richtung hin lesen kann. Ich persönlich sehe nicht, dass der amtierende Papst die Ideale des Zweiten Vatikanums verraten hätte. Wenn man bei den Tatsachen bleiben will, muss man gestehen, dass viele seiner Aussagen durch das Konzil gedeckt sind. Das ist das eine. Und was die Lernfähigkeit der katholischen Kirche angeht, so muss man sehen, dass der Papst keineswegs lernunwillig ist. Denken Sie nur an seine Symbolpolitik: Da verzichtet er etwa auf den altehrwürdigen Titel »Patriarch des Abendlandes«. Das kann eine Demutsgeste, es kann aber auch eine Herrschaftsgeste sein. Tatsache aber ist: Es hat sich etwas geändert. Insofern würde ich bestreiten, dass die römische Kirche nicht lernbereit ist. Sie verändert sich permanent. Es ist nur nicht immer ganz leicht zu sagen, was die Zeichen, die sie dabei setzt, bedeuten.
Die katholische Kirche ist eine Weltkirche. Ist den Katholiken – sagen wir in Brasilien oder Korea – die von Benedikt XVI. propagierte katholische Identität überhaupt vermittelbar? Wie sollen die Menschen dort mit Ratzingers enger Verbindung von Griechentum und Evangelium klarkommen?
Graf: Da spielen Sie nun auf sein Lieblingsthema an: Glaube und Vernunft. Und Sie spielen an auf seine Regensburger Rede. Aber auch hier müssen wir genau hinschauen. In der Tat behauptet der Papst, die einzig legitime Form des Christentums sei diejenige, in der es sich mit dem griechischen Denken verbunden und darin seine Glaubenswahrheit formuliert hat. Das freilich ist eine radikale Absage an neue protestantische Christentümer, die überall auf der Welt enorme Erfolge erzielen und in Lateinamerika den traditionellen Volkskatholizismus aushöhlen. Benedikts Reaktion darauf ist: Wir müssen das Katholische schärfer profilieren, dann wissen die Leute, warum sie besser bei uns sind als bei den anderen.
Steckt dahinter aber nicht auch ein elitärer Machtanspruch: dass nämlich der Klerus durch seine philosophische Bildung als Führungselite der Kirche legitimiert ist?
Graf: Aber natürlich. Es wäre ganz naiv zu meinen, dass die Symbole der Religion nichts mit Macht zu tun hätten. Religiöse Symbole sind Kommunikationsmedien, in denen Ordnungsstrukturen thematisiert werden. Insofern hängen Macht und Religion eng zusammen, und es besteht überhaupt kein Zweifel, dass Benedikt XVI. einen extrem steilen normativen Machtanspruch erhebt: Er weiß besser als alle anderen, was die wahren Ordnungen des Zusammenlebens sind, er weiß besser, was Wahrheit ist. Denken Sie nur an seine Äußerungen zur Naturrechtslehre oder an seine Formulierung von der »Diktatur des Relativismus«. Was wäre denn der Gegenpol? Doch wohl ein Absolutismus. Man könnte das sicher auch differenzierter formulieren, aber im Kern läuft es auf eine starke Betonung der normativen Deutungskompetenzen des Papstes als Institution hinaus.
Gegen kirchliche Machtansprüche beriefen sich die Reformatoren auf das Evangelium als höchste Autorität. In der Theologie von Benedikt XVI. kommt die Heilige Schrift aber eher am Rande vor.
Graf: Fairerweise muss man sagen, dass der Heilige Vater ein Jesusbuch angekündigt hat, das in Kürze erscheinen soll. Vielleicht sollte man dieses Buch abwarten. Aber eines ist ganz klar: Eine tat- und herzbetonte Frömmigkeit der Jesus-Nachfolge ist ganz bestimmt nicht der Weg dieses Papstes.
Friedrich Wilhelm Graf geboren 1948, ist Ordinarius für Systematische Theologie und Ethik an der Universität München. Der Beitrag erschien in Publik Forum. Zeitschrift Kritischer Christen