Das 2. Vatikanische Konzil überwinden
Warum das Konzil heute kaum noch inspiriert
Von Christian Modehn
Am 11. Oktober vor 50 Jahren begann in Rom/Vatikanstadt das 2. Vatikanische Konzil, es hatte vier “Sitzungsperioden” und endete am 8. 12. 1965. Dieses Konzil mit der Teilnahme fast aller katholischen Bischöfe damals ist auch für philosophisch interessierte LeserInnen etwas interessant, weil es einen beachtlichen Wandel des römischen Katholizismus anzeigt, vor allem den Übergang aus einer absoluten Moderne–feindlichen Haltung zu einer offeneren Annahme der modernen, aufgeklärten Welt. Mit Jubeltönen sollte man sich allerdings sehr zurückhalten, wie der folgende Beitrag von Christian Modehn zeigt, der in kürzerer Fassung in der Zeitschrift PUBLIK FORUM am 5. 10. 2012 veröffentlicht wurde.
1.
Die verriegelten Fenster wurden aufgestoßen, der stickige, morbide Geruch der Inquisition wurde vertrieben, der Staub der Jahrhunderte etwas hinweggefegt. Bilder, die heute „progressive, reformerische Katholiken“ faszinieren, wenn sie an das 2. Vatikanische Konzil denken. Die Attacken reaktionärer Kreise, vor allem der traditionalistischen „Piusbrüder“, stärken den Willen, das Konzil unbedingt als „Sprung vorwärts“ (Johannes XXIII.), als „Einschnitt und Wende“ zu bewerten. Reformkatholiken klammern sich an das Konzil, verehren es wie eine Art Heiligtum. Tatsächlich: Das Konzil hat den mittelalterlich geprägten Katholizismus unterbrochen. Die bislang verteufelte Religionsfreiheit wurde anerkannt, von Dialog war die Rede, von Öffnung der Kirche zur Welt.
2.
Aber „progressive Kreise“ sind naiv, wenn sie dieses Konzil zum wichtigsten Bezugspunkt ihrer Erneuerungsvorschläge machen. Denn die theologischen Grenzen dieses Konzils liegen deutlich vor Augen; dabei soll dieses Ereignis nicht unbedingt „klein geredet“ werden. Schon gar nicht geht es darum, ins Fahrwasser reaktionärer und dummer pauschaler Konzilskritik zu geraten. Das Konzil hatte damals tatsächlich seine Bedeutung in der Ablösung aus der offiziell – amtlichen, feudal geprägten Mentalität. Aber kann dieses Konzil noch die theologischen, religiösen, philosophischen, kulturellen und globalen Probleme und Fragen zu Beginn des 21. Jahrhunderts beantworten? Wir sind der Meinung: Sicher nicht.
Das 2. Vatikanische Konzil beantwortete für die brave katholische Welt einige Fragen des 17. und 18. und 19. Jahrhunderts, die – nebenbei gesagt – protestantische Theologen läängst beantwortet hatten. Diese Konzils – Antworten waren also nur noch für bestimmte katholische Kreise “sensationell”, weil endlich die mittelalterliche Welt des römischen Systems ein wenig „angekratzt“ wurde.
3.
Was sind einige wichtige Begrenztheiten des Konzils?
– Es war eine reine Männerveranstaltung, meist greiser Herren, die noch in den Zeiten des „eingemauerten Katholizismus“ (so der Mentalitätshistoriker Jean Delumeau) denken gelernt hatten. Laien, schon damals 95 Prozent der Katholiken, hatten bei dieser drei Jahre währenden Veranstaltung absolut nichts zu sagen und auch gar nichts zu entscheiden. Einige wenige Laien, etwa zwei Frauen, waren als “ZuhörerInnen” zugelassen. „Für“ die Laien wurde vom Klerus entschieden, nicht mit ihnen, es war also eine extrem patriarchale Runde, die sich da traf. Es war alles andere als ein von demokratischem Geist bestimmtes Ereignis. Insofern war es schon damals Vergangenheit! Von „Frauen“ ist nur an 5 Stellen der offiziell verabschiedeten Konzilsdokumente die Rede. Ihnen wird die „häusliche Sorge der Mutter“ zugewiesen. Gleichzeitig wird unvermittelt die „gesellschaftliche Hebung“ ihres Statuts gefordert.
– Die offiziellen Konzils – Dokumente sind fast immer in einer Sprache verfasst, die „klerikal – pathetisch“ genannt werden kann. So wird die Kirche etwa „Braut des fleischgewordenen Wortes“ genannt. (Dokument: Offenbarung § 23). Wer kommt da – als ein Nichtmystiker zu Beginn des 21. Jahrhunderts – nicht ins Schmunzeln? Wie viel Unsinn (Mißbrauch usw.) hat diese “Braut” inzwischen begangen? Ist diese “mystische Überhöhung” der Kirche nicht ein radikaler Fehler? Diese “mystisch” – nebulöse Selbstdefinition der Kirche (durch den Klerus definiert!) verstellt den Blick auf reale Zustände in der römischen Kirche, etwa Korruption oder auch “Priestermangel”, bedingt durch den Mangel an zölibatären Männern, die dieser “Braut” ihre ganze (!) Hingabe geben sollen.
– Diese offiziellen, also maßgeblichen Konzils – Texte sind für sehr viele Leser von heute schon sprachlich Ausdruck einer „fremden Welt“. Sie berühren, das ist langst empirisch nachgewiesen, nur noch Insider, vielleicht nur noch Kirchenangestellte, die den Jargon einüben mussten. In jedem Fall bewegen diese Formeln wohl wenige Menschen, die jünger als 60 Jahre sind. Man schaue in die Runden der heute debattierenden „Konzilsfreunde“ und mache einmal dort einen Altersdurchschnitt. Die viel beschworene Liebe zum Konzil ist, mit Verlaub gesagt, vielleicht eine Art katholischer Seniorenveranstaltung, besonders in Europa. Diese Liebe zum Konzil ist sehr verständlich, weil man in einer immer reaktionärer werdenden römischen Kirche noch retten will, was zu retten ist… in dem berühmten reformerischen “Dauer – Lauf” gegen die hohen (vatikanischen) Festungsmauern. Aber diese (masochistisch?) eingefärbte “Liebe zum Konzil” könnte erkennen: Sie lebt aus der dialektischen Verklammerung mit den Feinden des Konzils, den reaktionären Piusbrüdern und anderen (!), viel einflussreicheren Kreisen im Katholizismus. Die “reformerischen Kreise” sehen aber nicht, dass auch dieses Konzil ein neuer Ausdruck einer Klerus – Herrschaft war. Ist das so wirklich so attraktiv für das “Volk Gottes”?
– Die Mehrheit der Konzilsväter war wohl „reformgesinnt“, aber es handelte sich um eine bunte, „mehrdeutige“ (so der Historiker Giuseppe Alberigo) Reformergruppe. So verteidigten etwa die US – Bischöfe damals noch die Todesstrafe… Der Pluralismus macht die offiziellen Konzilsdokumente widersprüchlich und deswegen offen für alle möglichen Interpretationen. Es gibt nicht „das“ Reformkonzil. Der Konzilsberater P. Giulio Girardi SDB spricht deswegen von „zwei Vatikanums“ zur gleichen Zeit. „Ich erinnere mich an gemeinsame Sitzungen mit Bischof Karol Wojtyla bei der Redaktion des Dokuments =Kirche in der Welt von heute=: Da zeigte er eine kämpferische Haltung gegen die offene Position der Mehrheit“. Im ganzen gilt: „Die Konzilstexte sind Kompromisse; die Beurteilung der vom Konzil gewollten Erneuerung kann gar nicht einheitlich sein“ (so der Historiker Daniele Menozzi). Auch der Papst hat heute seine eigene Lesart, und die sei absolut gültig, sagt er. Der Papst allein bestimmt die einzig legitime Interpretation des Konzils – und kann sich dabei auf die Konzilstexte selbst berufen. Schließlich sind diese Dokumente ja geschaffen von der Hierarchie selbst. Das nennt man “Zirkel” – Argumentation…und Ideologie.
– „Niemals wurde der Widerstand reaktionärer Anti –Konzils – Bischöfe gebrochen“, betont G. Alberigo. Papst Paul VI. ließ sich für ihre Zwecke instrumentalisieren. Von brüderlicher Kollegialität wollte er nichts wissen. Paul VI. war alles andere als eine “progressive Figur”… Kann man da allen Ernstes von einem „Konzil der Freiheit“ (Karl Rahner) sprechen? Wie viel Ideologie verbirgt sich in der modernen Konzils – Theologie? Eine unbeantwortete Frage… Giovanni Franzoni nahm als Benediktiner – Abt von St. Paul (Rom) an den beiden letzten Sitzungsperioden als „Konzilsvater“ teil. Er schreibt: „Papst Paul VI. hat alles getan, dass der Konzilsgeist zuerst gezähmt und später eingefroren wurde. Johannes Paul II. und Joseph Ratzinger setzten dieses Werk fort“. Kollegialität wird in den Konzilstexten nur im Zusammenhang der „vorrangigen Gewalt des Papstes“ besprochen. Paul VI. als der „Herr der Kirche“ verfügte: Eine die absolute Macht des Papsttums stärkende Ausführung sollte der „Dogmatischen Konstitution über die Kirche“ noch ergänzend folgen. Später hat er gegen den ausdrücklichen Willen der Konzilsväter „Maria als Mutter der Kirche“ proklamiert: „Achtung, ihr Bischöfe“, so deutet G. Franzoni die Eigenmächtigkeit des Papstes, „ihr könnt diskutieren, was ihr wollt. Ich entscheide“. „Die Konzilsväter hatten nicht den Mut zu fordern, dass gründlich diese Frage in der Konzilsaula besprochen wird“. (D. Menozzi).
– Das Konzil war europäisch geprägt, trotz der Anwesenheit etlicher afrikanischer oder asiatischer Bischöfe. „Die Beteiligung der gesamten lateinamerikanischen Kirche am Konzil war, von Ausnahmen abgesehen, bescheiden“, so der Befreiungstheologe Gustavo Gutiérrez.
– Es war eine Veranstaltung, die unkritisch an den europäisch geprägten Fortschritt glaubte: Das Dokument „Über die Kirche in der Welt von heute“ lobt etwa die „Herrschaft (!) der Menschheit über die Schöpfung“! Der Krieg wird zwar als großes Übel dargestellt. Aber: “Wer als Soldat im Dienst des Vaterlandes (sic!) steht, betrachte sich als Diener der Sicherheit und Freiheit der Völker“.
– Es war eine Veranstaltung, die das wohlhabende Europa repräsentierte und weithin in dessen Kategorien dachte: „Die Reflexion über die Kirche der Armen übte keinen gewichtigen Einfluss auf die Konzilstexte aus“, so der Konzilstheologe und Dominikaner Edward Schillebeeckx. Die Forderung von Kardinal Lercaro, Bologna, ein offizielles Bekenntnis zur Kirche der Armen zu formulieren, fand kein Gehör. Nach dem Konzil wurde Lercaro in die “Wüste geschickt”. Nur sehr halbherzig wurde an einigen Stellen der Konzilstexte von der armen Kirche gesprochen. Der Reichtum der europäisch/amerikanisch/vatikanischen Kirche mit ihren (Vatikanischen) Banken und den entsprechenden, heute öffentlichen Schiebereien, war überhaupt kein Thema des Konzils. Alles verlief gehorsam – würdevoll, wie es der Papst wünscht. Alles war irgendwie noch “Barock”, eine Aufführung des “Hofes” (Curia, Hof, ist ja der offizielle Titel des Papst – Staates).
– Es war ein Konzil, das den Dialog hochtrabend forderte, aber eigentlich nicht anstrebte. Z.B: Die Überzeugungen der Atheisten werden „verderbliche Lehren“ genannt, sie werden „mit aller Festigkeit verurteilt“. Daraus folgt, ziemlich dreist: “Für die Glaubenden verlangt die Kirche Handlungsfreiheit (in Gesellschaft und im Staat), damit sie in dieser Welt auch den Tempel Gottes errichten können. Die Atheisten aber lädt die Kirche schlicht ein, das Evangelium unbefangen zu würdigen“…Die Gruppen für den „Dialog mit den Ungläubigen“ wurden schon in den achtziger Jahren aufgelöst…Theologen in Indien, Japan, Sri Lanka, Peru usw., die den vom Konzila geforderten Dialog tatsächlich lebten, wurden ihrer Ämter entfernt…Sie erkannten dann die “große Illusion”.
– Es war ein Konzil, das die „Autonomie der Welt“ nur oberflächlich akzeptierte: Es sagt Ja zur Eigengesetzlichkeit der Welt. ABER damit sei gemeint, dass der Mensch die Autonomie „nicht ohne Bezug auf den Schöpfer“ gebrauchen darf. Wer aber lehrt den rechten Bezug zum Schöpfer? Das oberste Lehramt!
– Freiheit der theologischen Wissenschaft ist ausgeschlossen. Über historisch – kritisch arbeitende Exegeten heißt es: „Sie stehen unter Aufsicht des kirchlichen Lehramtes“.
– Es werden widersprüchliche Symbole für das Selbstverständnis der Kirche beschworen: Das „Volk Gottes unterwegs“ und der „mystische Leib Christi“. Das „Volk“ kennt die Gleichheit der Mitglieder. Der Leib Christi wird beherrscht vom alles bestimmende Haupt, dem Klerus.
– Es wird eine Ökumene konzipiert, die vorausgesetzt, dass Gott selbst die katholische Kirche gestiftet hat. Die “anderen Kirchen”, vor allem die protestantischen, sind bloß “christliche Gemeinschaften”. Was Benedikt XVI. heite sagt, ist in den Konzilstexten grundgelegt.
– „Mission“ bedeutet für das Konzil Bekehrung zur Katholischen Kirche. Von interreligiösem Dialog ist nur ganz am Rande die Rede.
– Das Konzil begnügte sich, die Texte der Messe in die jeweilige Landessprache zu übersetzen. Das führte zu lebensfern klingenden Formeln und Floskeln in den Gottesdiensten. Der gemeinte Inhalt hätte ganz neue sprachliche Gestalt finden müssen. Unter der weltfremden Sprache leiden Katholiken noch heute…Zudem wurde die Messfeier derartig als absolutes Zentrum katholischer Frömmigkeit überhöht, weil eben nur der zölibatäre Klerus, die Männer, die Messe feiern darf. So wird über die Spiritualität der sogenannten “absolut wichtigen Messfeier” nur die absolute Bedeutung des zölibatären Klerus verteidigt und festgeschrieben…
Das 2. Vatikanische Konzil gilt es also zu „überholen“, vor allem, weil es – wie die Konzilien zuvor – viel zu viel von Gott, Christus, Maria, der Trinität, der Kirche, den Sakramenten und so weiter und so weiter weiß. Das Konzil gibt sich nahezu allwissend der Gottesfrage und den genannten anderen Fragen gegenüber. In einer die heutige Skepsis und vor allem die mystische Erfahrung aufgreifenden Theologie ist sehr viel mehr intellektuelle Bescheidenheit angebracht. Diese Alleswisserei damaliger Bischöfe wird nicht erst heute eher als störend denn als Inspiration empfunden. Könnte man den Kern der christlichen, auf Jesus von Nazareth bezogenen Erfahrung, nicht auch auf 10 Seiten sprachlich nachvollziehbar ohne klerikales Pathos (s.o.) mitteilen?
Kirchenreformer sollten ihren Enthusiasmus für dieses Konzil sehr bremsen und seine grundgelegten Begrenztheiten anerkennen. Sie werden dieses Konzil wohl überwinden müssen, wenn sie für einen ökumenischen Katholizismus der Zukunft eintreten, also für eine tatsächlich andere, “evangelische” und dialogische Kirche mit sehr wenig Hierarchie, aber viel mehr Mitbestimmung und Gleichberechtigung, vor allem von Frauen. Die offiziellen Konzilstexte sind theologisch ein Stück Vergangenheit. Es gibt dringendere Themen der religiösen Menschheit und der nicht – religiösen Menschheit von heute…
copyright:Christian Modehn/Religionsphilosophischer Salon Berlin.