Ich zweifle, also bin ich
Prüfen und fragen. Wie wir Gewissheit finden
Von Christian Modehn
Veröffentlicht in der empfehlenswerten Zeitschrift PUBLIK FORUM am 27.9. 2013
Ein Gefühl breitet sich aus, es droht unsere Seele zu vergiften: Allzu oft fühlen wir uns betrogen und belogen. Politiker, als Vorbilder gerühmt, werden als korrupt enttarnt. Berühmte Demokraten sind nur selten Verteidiger der Menschenrechte. Religiöse Führer nennen sich spirituell, sind in Wahrheit aber an persönlicher Bereicherung interessiert. Was wir gutgläubig für Realität hielten, entlarvt sich als trügerische Kulisse. Gibt es keine Gewissheit mehr, keine Zuverlässigkeit und Wahrheit? Ist Sein nur Schein und Wirklichkeit nichts als Fälschung?
Wer diese Fragen stellt, befindet sich in guter Gesellschaft: Es sind die Philosophen, besonders die Skeptiker, die hier Auswege und Hilfen bieten: »Hätten Sie doch mehr gezweifelt und öfter deutlich nachgefragt, dann wären Sie der Wahrheit nähergekommen.« Gewissheit im Leben zu finden ist, philosophisch gesehen, eine Mühe, aber sie »lohnt« sich. Naturwissenschaftler sind längst mit der Einsicht vertraut, dass sie in der Forschung niemals endgültige Wahrheiten erlangen, nur fragend und zweifelnd kommen sie weiter. Sie wissen, dass »physikalische Theorien nur hypothetischen Charakter erreichen können«, so der Philosoph Karl Popper (1902-1994). Im Berufsalltag kann man sich ja damit abfinden, dauerhaft im Zweifel zu leben. Aber gilt das auch für unsere Existenz, für das geistige Leben, für die Frage nach dem Sinn meines Lebens?
Das gilt schon einmal zweifelsfrei: Ohne lebendiges Vertrauen in die Wirklichkeit können wir gar nicht leben. Aber dieses Vertrauen haben wir immer schon, es begleitet unser Dasein oft unbewusst. Wenn wir mit anderen sprechen, sind wir »wie von selbst« überzeugt, dass sie uns verstehen. An Verabredungen glauben wir einfach. Auf die Liebe unserer Partner vertrauen wir. Darin zeigt sich schon das Grundvertrauen. Geistiges Leben kann niemals darauf verzichten. Aber Grundvertrauen muss begründet werden, es ist etwas anderes als Gutgläubigkeit. Skeptische Philosophen machen den Vorschlag: »Schaut um euch, versucht, möglichst vieles wahrzunehmen und auf die Wahrheit hin zu prüfen.« Sie beziehen sich auf das griechische Wort skeptein. Es bedeutet: Um sich blicken, genau hinsehen, sich nicht alles einreden lassen, also Zweifeln lernen, nie aufhören mit konsequentem Fragen. »Und dieses Fragen ist Bewegung! Sich auf Dauer an Antworten zu klammern ist Stillstand. Wenn wir aber die Antworten als Aufforderung zu weiterem Fragen verstehen, dann sind wir wieder auf dem Weg, Neues zu entdecken und lebendig zu bleiben«, sagt Michael Braun. Er arbeitet als praktischer Philosoph in Berlin. »Menschliches Leben kann nur gelingen, wenn dem Fragen keine Grenzen gesetzt werden und zweifelnde Unruhe unseren Geist bestimmt.«
Anzeige
Aber: Ständiges Fragen und Zweifeln als Lebenshaltung, kann das gut gehen? Wird da nicht zu viel Misstrauen gefördert? Fühlen wir uns angesichts der Fülle von Verlogenheit und Betrug nicht schnell am Rande der Verzweiflung? Skeptische Philosophen wollen den Einzelnen nicht überfordern. Sie wissen genau, wie wenig wir in unserem kurzen Leben wirklich sicher wissen können. Darum gilt der moderne skeptische Vorschlag: »Suche dir in deinem Alltag die Bereiche aus, die dich leidenschaftlich interessieren, wo du die Kraft hast, genau hinzusehen und zu prüfen, etwa Gesundheit, Ernährung, Friedenspolitik, je nachdem. Überlasse andere Bereiche den anderen, aber tauscht euch darüber aus.«
Die Philosophen bleiben dabei: Skepsis und Zweifel können zu einer tragenden Gewissheit im Leben führen. Und die entdecken wir nur, wenn wir den Mut finden, immer wieder am Zweifel selbst zu zweifeln. Die Formulierung befremdet vielleicht. Es kommt darauf an, unseren Zweifel, unsere Skepsis selbst zum Thema zu machen. Hannah Arendt (1906-1975), die Philosophin und Politologin, plädiert dafür. Sie folgt dem Lehrmeister der modernen Skepsis, dem Franzosen René Descartes (1596-1650), wenn sie schreibt: »Wenn alles zweifelhaft geworden ist, so bleibt doch das Zweifeln selbst in uns unbezweifelbar wirklich.« Diese Einsicht ist entscheidend: Ich muss gleichsam nachdenkend mein Zweifeln noch einmal anschauen. In dieser Bezogenheit, Reflexion genannt, entdecke ich eine neue tragende Gewissheit: Sosehr ich auch weiterhin an einzelnen Tatsachen und Behauptungen, an Thesen und Programmen zweifeln muss: Im Zweifel selbst beziehe ich mich auf meinen Geist. Er ist das Bleibende, sozusagen das »Medium«, in dem sich alles Leben bewegt. Aber mein Geist ist nichts Individuelles oder für mich Exklusives. Mein Geist hat Teil am allgemeinen Geist, dem »universalen Geist« der Menschheit, wie die antiken Philosophen der Stoa zum Beispiel sagten.
Die Konsequenzen dieser Einsicht sind erheblich: Mein kritischer Geist, meine Vernunft, bleibt mir, selbst wenn alle Lehren und Meinungen, die ich irrtümlich für Wahrheit hielt, sich als Schein enthüllen. Unser Geist bleibt uns dann wie ein »tragendes Netz« erhalten, wie eine sichere Basis in unserem Menschsein. Darum betont Hannah Arendt: Der populäre Spruch von Descartes »Ich denke, also bin ich« ist noch gar nicht der Weisheit letzter Schluss. Denn Descartes schreibt viel provozierender: »Ich zweifle, also bin ich! Das heißt: Sie, die da zweifeln, Sie sind es selbst, die da zweifeln. Dabei spüren Sie: Ich lebe. Das ist so wahr, dass Sie daran nicht zweifeln können.«
Das geistvolle Leben erschließt sich über das Zweifeln oder die Skepsis. Sie bringen unserem Leben Transparenz und Klarheit, vielleicht auch eine Unerschütterlichkeit und Ruhe. Darin sahen schon die ersten Skeptiker das Ziel ihres Zweifels, wie Pyrrhon von Elis (360-270 vor Christus). Wer aber die Skepsis heute – im Sinne Descartes’ – einübt, kann auch seine eigene Spiritualität und seinen Glauben neu erleben. So kann sogar der Mönch und Wüstenbewohner Evagrius Ponticus aus dem 4. Jahrhundert ein Bundesgenosse werden, wenn er betont: »Sei ein Türhüter deines Herzens und lass keine Gedanken ohne eigene Befragung herein.« Und der Apostel Paulus schärfte seiner Gemeinde in Thessaloniki ein: »Prüfet alles, das Gute behaltet.« Tomas Halik, katholischer Theologe in Prag und viel beachteter Autor, entspricht dieser Haltung: »Mein Glaube ist immer ein Weg. Und ich versuche, immer tiefer und tiefer zu gehen. Das Christentum ist keine billige Sicherheitslehre. Das ist eine Herausforderung, mit dem Geheimnis zu leben, das ist nicht leicht. Und auch durch die Krisen und Nächte der Unsicherheit zu gehen.«
Christen sollten also immer wieder neu prüfen, ob sie tatsächlich den Unendlichen und Ewigen meinen, wenn sie von ihrem »lieben Gott-Vater« sprechen. Nur im konsequenten Fragen erkennen sie ihre begrenzten frommen Vorstellungen oder bloß erbaulichen Bilder von Gott, die sie im Laufe des Lebens wie eine Selbstverständlichkeit herausgebildet haben. Der evangelische Theologe und Psychotherapeut Günter Funke aus Berlin betont: »Halte nicht zu sehr an deinen Vorstellungen fest. Viele Menschen haben sehr viel Lebendigkeit ihren Vorstellungen geopfert. Wenn ich irgendwo beginne, Lebendiges für Vorstellungen zu opfern und wichtig zu nehmen, dann werden die Vorstellungen damit überhöht, sie bekommen einen Stellenwert, den die biblische Tradition Götzen nennt.«
Im konsequenten Fragen und Zweifeln werden »Götzenbilder« gestürzt, im kritischen Zweifel kann »der liebe Gott« nicht länger der »himmlische Garant« aller meiner Wünsche bleiben. Wenn der Zweifel mich von allzu schlichten religiösen Vorstellungen befreit, dann ist das – religiös gesehen – eine Tat des Geistes. Einige Theologen nennen den Heiligen Geist deswegen auch einen skeptischen Heiligen Geist. Der katholische Theologe Paul Michael Zulehner aus Wien betont: »Die Dogmen sind im Grund genommen wie die Laternen, die uns auf dem Weg durch die dunkle Nacht leuchten, und nur Betrunkene halten sich daran fest. Für mich gilt auch: Glauben lernen heißt Fragen lernen. Ich hab einmal gesagt: Wenn ich Zeit habe, schreibe ich einen Katechismus, der nur aus Fragen besteht. Wir müssen wieder lernen, die richtigen Fragen zu stellen. Aber das geht nur, wenn der Mensch radikal frei ist, also im Zustand des Risikos lebt. Und das ist der Akt des Zweifels.«
Anzeige
Dabei ist die kritische Theologie hilfreich. Sie befreit vom wortwörtlichen Verstehen der Bibel und deutet die Wunder Jesu als heilsame seelische Erfahrungen; sie lehrt, was die Jungfrauengeburt bedeutet oder die Himmelfahrt Jesu. Jens Schröter, Professor für Neues Testament an der Humboldt-Universität in Berlin, betont: »Es ist fundamental für jede religiöse Überzeugung, dass sie ihre Grundlagen auf den Prüfstand stellt, um eine wirklich fundierte intellektuell und ethisch überzeugende Position zu gewinnen. Deshalb stellt die akademische Theologie immer wieder die entscheidenden Fragen, wie der christliche Glaube sich in einer bestimmten Zeit so äußern kann, dass er überzeugend ist. Deswegen kommt der Frage und der Skepsis in der Theologie eine ganz grundlegende Funktion zu.«
Ein religiöser Mensch, der über den Zweifel am Zweifel seine tragende Gewissheit gefunden hat, wird dann theologischen »Neuentdeckungen« unbefangen begegnen. Er weiß: Auch im wissenschaftlichen Fragen äußert sich der Heilige Geist. Und der ist skeptisch.
copyright: Religionsphilosophischer-salon.de Christian Modehn