Zu Immanuel Kant: Vom Geschmack der Vernunft: Tischgespräche im Hause des Philosophen

Immanuel Kant verstehen lernen: Etliche Hörerinnen und Hörer meiner Sendungen wollen noch einmal den Text einer Ra­dio­sen­dung über Immanuel Kant lesen. Dieser Beitrag ist der Versuch, einige Aspekte im Denken Kants eher unterhaltsam und vor allem leicht nachvollziehbar darzustellen – in einer fiktiven Runde, am Mittagstisch in Königsberg, mit einigen prominenten Philosophen und Theologen der Gegenwart. Diese Sendung hat 2010 sehr viel Interesse gefunden, wie auch die anderen, ähnlich gebauten philosophischen “Salon-Radio-Sendungen” im RBB. Angesichts der Aktualität Kants ist dieser Beitrag vielleicht immer noch eine Inspiration, weiter das Philosophieren Kants kennenzulernen. CM.   Die Sendung “Vom Geschmack der Vernunft” kann im RBB Archiv noch gehört werden, klicken Sie hier:

RBB Kulturradio: Gott und die Welt am 18.7. 2010:

Vom Geschmack der Vernunft

Tischgespräche im Hause Immanuel Kants

Eine Sendung von Christian Modehn

1.SPR.: Berichterstatter

2.SPR.: Zitator

……………………..

1.SPR.:

Fast ein Idyll, dieses kleine Haus in Königsberg, Ostpreußen, zentral gelegen und doch ruhig inmitten schöner Gärten. Im kleinen Salon, dem „Besucherzimmer“, haben die Gäste Platz genommen.

musikal. Zusp. Geminiani.

1.SPR.:

Im Königsberger Schlosspark, gleich gegenüber, geben gerade italienische Musiker ein Konzert.

musikal. Zusp. 0 03“ freistehend

1.SPR.

Über Musik wird der Hausherr wohl nicht sprechen. Seine Leidenschaft ist die Philosophie.

musikal. Zusp. Noch einmal 0 03“ freistehend

O TON, 0 13“, Bongardt

Für Kant heißt Kritik nicht irgendwie ein mies machendes Auseinanderpflücken, sondern kritisch zu schauen, was kann die menschliche Vernunft und was kann sie nicht.

musikal. Zusp.

O TON, 0 07“, Schnädelbach

Bei Kant ist es ja so: Ich kann religiös sein, wenn ich moralisch bin. Aber ich muss nicht religiös sein, um moralisch zu sein.

musikal. Zusp. 0 03“ freistehend

O TON, 0 10“, Greisch

Es gibt nicht nur ein Recht zu denken, sondern vor dem Recht kommt auch die Freude, die Lebensfreude.

TITELSPRECHERIN:

Vom Geschmack der Vernunft

Tischgespräche im Hause Immanuel Kants

Eine Sendung von Christian Modehn

1.SPR.:

Der Gastgeber betritt den Raum. Er ist klein von Gestalt und fein gekleidet wie immer. Trotz seiner 70 Jahre ist er gesundheitlich noch auf der Höhe, seine zuvorkommende Herzlichkeit hat er sich bewahrt. Immanuel Kant begrüßt seine heutigen Gäste, die Philosophen Michael Bongardt, Jean Greisch und Herbert Schnädelbach sowie die Theologen Friedrich Wilhelm Graf und Dietmar Mieth. Mehrmals in der Woche gönnt sich Kant das Vergnügen, eine kleine Gesellschaft zu bewirten, hier auf der ersten Etage seines Hauses in der Prinzessinstraße. Für seine Gäste will er nicht der „berühmte Philosophieprofessor“ sein. Er möchte sich schon gar nicht als die weltweit geachtete Autorität mit einem umfangreichen, aber schwer verständlichen Werk verehren lassen. Kant will sich vielmehr von seiner besten Seite zeigen, als ein Freund geistvoller Gespräche.

2.SPR.:

Beim Essen gebe ich dem Körper seine Ehre. Es lohnt sich, ein Vergnügen zu kultivieren, das täglich genossen werden kann.

1.SPR.

Nach diesen Worten bittet Kant seine Gäste zu Tisch. An der Bibliothek und dem Schlafzimmer vorbei, folgen sie ihm zum Speiseraum.

In der Küche, unten im Erdgeschoß, werden noch die letzten Vorbereitungen getroffen.

1.SPR.:

Die Köchin hat Kants Lieblingsgericht zubereitet: Kabeljau in Senfsauce, mit Möhren und Teltower Rübchen als Beigabe. Im Speisezimmer hat der Diener Martin Lampe den Tisch schön gedeckt. Wie alle anderen Räume im Hause Kant ist aber auch der Speisesaal von schlichter Einfachheit, weiß gestrichene Wände, keine Tapeten, kein wertvolles Mobiliar. Ein großer Spiegel ist die einzige Zierde. Der Gastgeber hat als erster Platz genommen.

2.SPR.:

Natürlich ist das Essen auch eine Pflicht. Nur so können wir leben und überleben. Unsere Lust der Sinne wird beim Essen angesprochen. Immer wieder interessiere ich mich für neue Rezepte, meinen geliebten Senf rühre ich ja bekanntlich selbst an. Doch gibt es einen Unterschied, und damit sind wir bei meinem Lieblingsthema: Philosophie kann niemals Rezepte verteilen. Sie kann nur Orientierung bieten, als eine Anstrengung von Verstand und Vernunft, die jeder einzelne leisten soll.

1.SPR.:

Aber diese Leistung des Denkens muss doch wohl nicht ständig erbracht werden, meint der Philosoph Jean Greisch von der Berliner Humboldt Universität:

O TON, 0 14“, Greisch

Für mich ist das Denken keine Zwangsarbeit, es ist auch eine Lust zu denken. Und insofern hat das Denken etwas mit der Lebenslust zu tun.

1.SPR.:

Genau deswegen sind wir zusammen, sagt Kant mit einem ironischen Lächeln und fährt dann fort:

 2.SPR.:

Natürlich ist das sinnliche Gefühl, zum Beispiel die fein zubereiteten Speisen zu genießen, unsere schöne Empfindung für das Leben. Lust und auch Unlust machen das Leben aus. Aber ohne kritisches Nachdenken lassen wir uns von Lust und Unlust hinreißen und verwirren. Wir finden ohne Nachdenken keine Harmonie im Leben.

1.SPR.:

Herbert Schnädelbach, Philosoph aus Hamburg, greift den Gedanken auf und wendet sich an die anderen Gäste:

O TON, 0 11“, Schnädelbach

Ich verstehe die Philosophie immer als eine Kultur der Nachdenklichkeit und was das eigentlich heißt, so nachdenken, seinen Gedanken nachdenken. Das kann man bei Kant wirklich lernen, ja.

ATMO,

1.SPR.:

Nach dem ersten Schluck Sylvaner wendet sich die Tischgesellschaft erst einmal dem Essen zu. Die Gäste schweigen. Weil es ihnen so gut schmeckt oder philosophieren sie schon wieder still für sich? Wahrscheinlich beides, vermutet Kant, aber er überbrückt die Stille und kommt etwas ins Plaudern. Dabei spricht er eher selten über sich selbst. Aber auf die immer wieder gestellte Frage will er doch lieber gleich eingehen: Warum er denn Junggeselle geblieben sei?

2.SPR.:

Als ich eine Frau habe brauchen können, habe ich als junger Mann keine Frau ernähren können. Und als ich sie ernähren konnte, habe ich keine Frau mehr gebraucht. Denn mein ganzes Leben dient der Philosophie. Selbstdenken heißt für mich der oberste Prüfstein der Wahrheit. Das Kriterium für gut und böse liegt in unserer Vernunft selbst. Was wahr und falsch ist, darf uns niemand einreden.

ATMO,

1.SPR.:

Hilft Philosophie also sexuelle Lust zu kompensieren? Die Gäste schauen sich verständnisvoll an, als hätten sie in dem Moment dasselbe gedacht. Aber da ist Kant schon wieder ganz bei seiner Sache:

2.SPR.:

Ein Mensch ist erst dann erwachsen, wenn er einer wahren Maxime, einer wahren Lebenseinstellung, folgt. Sie heißt: Bemühe dich jederzeit selbst zu denken. Das ist der Sinn philosophischer Aufklärung. Luther und die Reformatoren haben das Selber – Lesen propagiert, nämlich das Selber – Lesen der Bibel. Ich sehe im Selber Denken die Voraussetzung für menschliches Leben. Jeder soll selber denken.

1.SPR.:

Die Gäste haben es geahnt: Das gemeinsame Essen ist nur die Einleitung für ausgiebiges Diskutieren. Nach dem Dessert, dem obligaten Pflaumenkompott, öffnet Kant das Fenster. Vom nahen Schloss klingt immer noch Musik herüber.

musikal. Zusp., Geminiani,

1.SPR.:

Kant bittet seine Gäste, das Gespräch im Speisezimmer fortzusetzen. Der Philosoph Herbert Schnädelbach aus Hamburg eröffnet die Debatte:

O TON. 0 12“, Schnädelbach

Wie verteidigt man die Moral gegen die Zyniker, gegen die Skeptiker, gegen die Nihilisten. Gibt es da vernünftige Gründe, das ist die Aufgabe der Moralphilosophie und nicht Moral beizubringen.

1.SPR.:

Darin sieht Kant seine Lebensaufgabe: Er will vernünftige, also widerspruchsfreie und allgemeingültige Gründe nennen für ein menschenwürdiges Leben. Er greift zu seinem Buch „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“ und liest eine Zeile vor:

2.SPR.:

Es soll nicht sein, dass Menschen ihre Ziele nach eigener Laune auf Kosten anderer durchsetzen. Ethische Regeln sollen etwas allgemeines sein, also für alle Menschen als vernünftig gelten.

1.SPR.:

Michael Bongardt, Professor für Ethik an der Freien Universität Berlin, will dieses Thema gleich weiterzuspitzen:

O TON, 0 38“, Bongardt.

Für Kant ist es keine Begründung einer Regel zu sagen: die hat Gott gesetzt. Ein göttliches Gebot können wir ohnehin nicht als solches erkennen. Wer kann uns mit Sicherheit sagen, dass ein Gebot von Gott kommt und nicht von Menschen erfunden ist, die dann halten sagen: Es ist von Gott. Aber, so sagt Kant sehr selbst bewusst: Selbst wenn es ein göttliches Gebot wäre, wären wir verpflichtet, nur das zu tun, was wir selber kraft eigener Vernunft für gut halten.

1.SPR.:

Kant blickt in die Runde, seine Augen strahlen:

2.SPR.:

Treffender hätte ich es auch nicht sagen können. Die Anweisungen zu einem guten Leben sollen niemals von politischen oder religiösen Herrschern stammen. Jeder einzelne weiß selbst, was gut ist und was es bedeutet, frei zu handeln.

1.SPR.:

Michael Bongardt greift diesen Gedanken auf:

O TON, 0 40“. Bongardt

Wir alle kennen so etwas wie das Gewissen, wie einen Anspruch, der in unserem Inneren steckt, etwas zu sollen. Es wäre widersprüchlich zu sagen, wir empfinden ein Sollen, und gleichzeitig zu sagen, diesem Sollen entspricht kein Können. Das wäre absurd. Von daher ist es ein Indiz für die Freiheit, dass wir das Sollen in uns spüren. Wenn wir von Ethik reden, müssen wir davon ausgehen, dass es sinnvoll möglich ist, von menschlicher Freiheit zu sprechen.

1.SPR.:

Jetzt wird Kant sogar etwas laut:

2.SPR.:
Dieses Gewissen ist ja bekanntlich nicht zu sehen und nicht zu greifen. Aber es existiert dennoch. Das ist erstaunlich: Unsere Freiheit hat im Geistigen, im Übersinnlichen ihren Ursprung.

1.SPR.:

Aber wie gehen Menschen mit ihrer Freiheit um? Haben sie in ihrer Vernunft ein Kriterium für das, was gut oder böse ist? Herbert Schnädelbach erinnert an die wohl berühmteste Formulierung Kants, den „Kategorischen“, den unbedingt geltenden, „Imperativ“. Der Gastgeber fasst noch mal kurz zusammen:

2.SPR.:

Handle so, dass die Maxime deines Willens, also dein persönlicher Lebensentwurf, jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne. Das bedeutet auch: Niemals darf ein anderer Mensch für mich bloß ein Mittel, bloß ein Gegenstand meiner Interessen sein. Jeder Mensch ist absolut wertvoll, er ist „Selbstzweck“.

1.SPR.:

Die Runde nickt zustimmend. Wer seinen Lebensstil und seine persönliche Lebenshaltung immer wieder mit dem Kategorischen Imperativ konfrontiert, gewinnt Klarheit. Was auf den ersten Blick so abstrakt klingt, enthält eine hilfreiche, eine wegweisende Erkenntnis, meint Herbert Schnädelbach.

O TON, 0 28“, Schnädelbach

Der kategorische Imperativ bezieht sich auf Maxime, auf subjektive Grundsätze. Wenn du einen Grundsatz hast, z.B. ich will fremdes Eigentum nicht respektieren. Dann überlege dir, was passierte, wenn das allgemeines Gesetz wäre. Wenn ich sage: Verhaltet euch locker in der Eigentumsfragen, fremdes Eigentum soll mir wurscht sein…Dann widerspreche ich mir, weil ich ja selber für mich Eigentum in Anspruch nehme. Also ich zerstöre meine eigene Zielsetzung dadurch, dass ich diese Maxime nicht befolge.

1.SPR.:

Der kategorische Imperativ kann also von eher destruktiven Einstellungen befreien; er hilft, möglichst widerspruchsfrei zu handeln, bekräftigt Kant.

2.SPR.:

Wer der Vernunft in seinem Denken und Handeln folgt, muss sich auch auf rigoros erscheinende Einsichten einlassen. Er muss die Frage klären: Kann es zum Beispiel moralisch erlaubt sein, gelegentlich zu lügen? Ich denke: Wenn das so wäre, dann zerstörte man letztlich die menschliche Gesellschaft. Niemand weiß dann noch, was grundsätzlich für alle gilt. Die Lüge vergiftet das Miteinander.

1.SPR.:

Aber kann das ethische Gebot, nicht zu lügen, wirklich immer und überall gelten, wirft Herbert Schnädelbach in die Runde.

O TON, 0 27“, Schnädelbach

Also wenn man sich die Situation vorstellt: Ich verstecke jemanden vor der Geheimpolizei und ich werde gefragt: Ist der bei dir. Und dann darf ich nach Kant nicht lügen. Man hat ja nur die Möglichkeit, es falsch zu machen, also man kann entweder lügen oder die Wahrheit sagen. Und dann ist die Verantwortung noch größer. Also es bleibt gar nichts übrig, dass ich in diesem Dilemma Urteilskraft brauche und muss dann sagen, was ist der höhere Wert, was ist die größere Schuld. Das muss man abwägen. Und dafür gibt es keine Regeln.

1.SPR.:

Der kategorische Imperativ soll also nie mechanisch und gedankenlos angewendet werden…Gelegentlich sollte man doch dem kleineren Übel folgen, räumt der Gastgeber ein:

2.SPR.:

Eine Notlüge kann ich im Einzelfall entschuldigen, weil sie Leben retten kann. Aber die Notlüge sollte nicht grundsätzlich gerechtfertigt werden.

1.SPR.:
Prinzipiell muss also der Kategorische Imperativ den Vorrang haben. Denn er macht deutlich, was für alle Menschen gilt. Michael Bongardt verweist auf ein besonders heikles Thema, die aktive Sterbehilfe:

O TON, 0 58“ BONGARDT

Ist es eine sinnvolle Maxime, also eine Grundregel menschlichen Handelns, zu sagen: ich setze meinem Leben ein Ende, wenn das Unerträgliche in diesem Leben stärker ist als das Erträgliche. Um es gleich vorweg zu sagen: Kant sagt, das geht nicht. Das darf ich nicht als allgemeine Regel stellen. Weil, so sein Hauptargument, die Grundrichtung unserer Vernunft ist die Lebenserhaltung. Unsere Vernunft zielt darauf, unsere Vernunft und Freiheit zu erhalten. Wenn sie jetzt dafür benützt wird, genau das Gegenteil zu tun, nämlich, den Ast abzusägen, auf dem sie selber sitzt, dann ist das eine Widersprüchlichkeit, die es unmöglich macht, diese Regel zum allgemeinen Gesetz zu machen.

1.SPR.:

Aber was will Kant schwerstkranken Patienten sagen, die von unerträglichen Schmerzen gequält sind und deshalb freiwillig aus dem Leben scheiden möchten? Die beiden Theologen in der Runde werfen sich einen wissenden Blick zu: Darauf hat die Philosophie Kants keine Antwort, das ist ihre Grenze. Der Diener Lampe unterbricht diese Überlegungen, er bringt eine weitere Flasche Sylvaner:

ATMO,

1.SPR.:

EIN Philosoph kann niemals auf alle Fragen eine schlüssige Antwort geben – das ist allen Gästen klar. Auch Kants Denken bleibt begrenzt, selbst wenn seine „Entdeckung“ des Kategorischen Imperativs eine immer gültige Erkenntnis für alle Menschen bleibt. Gerade weil er in problematischen Situationen des Alltags keine inhaltlichen Weisungen vorgibt, dieses oder jenes zu tun, betont Michael Bongardt:

O TON, 0 46“, Bongardt

Wir brauchen im Konfliktfall gar nicht in erster Linie Lösungen für den konkreten Konflikt, sondern wir brauchen Regeln, wie wir mit Konflikten umgehen. Damit sind wir auf einer Ebene, die natürlich abstrakter ist, als die Frage: was soll ich denn jetzt gerade machen: A oder B wählen? Es geht darum, wie gehen wir mit ethisch relevanten Konflikten um, wo verschiedene Meinungen gegeneinander stehen. Für diesen Umgang brauchen wir Regeln. Und genau an diesem Punkt ist meines Erachtens Kant nach wie vor eine ausgesprochen große Hilfestellung, weil er uns gerade solche Regeln an die Hand gibt.

musikal. Zusp. Ca. 0 05“ freistehend

1.SPR.:

Die Gäste wissen, dass Kant auch an politischen Fragen leidenschaftlich interessiert ist – schließlich fühlt er sich als einzelner Bürger und Anhänger des republikanischen, demokratischen Gedankens auch der universalen Menschheit zugehörig und verpflichtet, wie Jean Greisch den anderen begeistert erklärt – zumal er Kant’s Sichtweise teilt:

O TON, 0 28“, Greisch

Ich bin nicht nur ein Philosophie Professor, ich bin auch ein Weltbürger. Und als Weltbürger bin ich Mitspieler im großen Spiel des Lebens. Ich bin kein Zuschauer, ich bin kein Schiedsrichter. Ich bin, ob ich will oder nicht, an diesem Spiel beteiligt. Und in diesem Spiel wird mir manchmal auch sehr böse mitgespielt.

1.SPR.:

Denn selbst in Demokratien werden die Bürger betrogen und belogen. Viele Menschen sind zudem dem Spiel politischer Gewaltherrscher hilflos ausgesetzt, nur selten können sie sich gegen Hass und Unfrieden wehren. Die Philosophie Kants bietet auch in diesem Fall die richtige Orientierung, meint Herbert Schnädelbach:

O TON, 0 15“, Schnädelbach

Der kategorische Imperativ verpflichtet nur dazu, in den Rechtszustand einzutreten! Und das Recht ist dann nichts anderes als die Regulierung der Verträglichkeit der Freiheit eines jeden mit der Freiheit eines jeden anderen.

1.SPR.:

Meine Freiheit sollte die Freiheit des anderen also nicht beschädigen,

2.SPR.:

Und ich muss denjenigen Menschen in seiner Freiheit behindern, wenn er seine eigene Freiheit nur dazu benutzt, die Freiheit anderer einzuschränken.

1.SPR.:

Für den Königsberger Philosophen gilt der Kategorische Imperativ nicht nur im privaten Bereich, sondern auch in den internationalen Beziehungen der Staaten untereinander. Diese Erkenntnis will Michael Bongardt unbedingt festhalten:

O TON, 0 19“, Bongard,

Kants Grundfrage ist: Gibt es für uns irgendwelche Regeln, an die wir uns halten müssen, weil sie für alle Menschen gelten und zwar deshalb für alle Menschen gelten, weil sie unserer Vernunft einleuchten.

1.SPR.:

Trotz aller Unterschiedlichkeit der Kulturen mit ihren individuellen Ausprägungen gibt es doch eine gemeinsame Überzeugung der ganzen Menschheitsfamilie, ruft Herbert Schnädelbach in die Runde:

O TON, 0 22“, SCHNÄDELBACH

Wenn es eine moralische Pflicht gibt, in den Rechtszustand einzutreten, dann muss das auch global gelten. Wenn wir wirklich universalistische Vorstellungen haben von Moral und von Menschrechten, da folgt wirklich auch die moralische Forderung daraus, auf den Frieden hin zu arbeiten.

1.Spr:

Kant hat sich erhoben. Er greift zu einem Buch, auf das er besonders stolz ist. Früher hatte er grundlegende Bücher zu erkenntnistheoretischen und ethischen Fragen publiziert. Aber in letzter Zeit will er noch deutlicher zeigen, wie seine Erkenntnisse im praktischen Leben hilfreich sein können.

2.SPR.:

Ich habe einen politischen Text veröffentlicht mit dem Titel „Zum ewigen Frieden“. Darin schreibe ich: In unserer politischen Arbeit sollen wir den universalen Frieden, den Weltfrieden, als Projekt anstreben. Was nützt es, wenn ein friedlicher Staat von lauter Kriegstreibern umgeben ist. Es ist ein langer Weg zum Weltfrieden, aber er ist ethisch geboten. Ich kritisiere die räuberische Außenpolitik, früher sprach man von Kolonialpolitik. Es gibt Staaten, die herrschsüchtig und für den Frieden verderblich sind. Niemals darf ein Mensch nur als Mittel, als Kanonenfutter sagt man ja, benutzt werden. Es darf z.B. kein stehendes Heer mehr geben, denn das führt nur zum Wettrüsten.

1.SPR.:

An dieser Stelle möchte der katholische Moraltheologe Dietmar Mieth aus Tübingen das Wort ergreifen. Er weiß genau, dass Kant in seiner politischen Philosophie auf die ethischen Weisungen Jesu von Nazareth und anderer religiöser Führer gern verzichtet. Aber ist nicht die Botschaft Jesu gerade in der Diskussion über Krieg und Frieden auch philosophisch hilfreich, fragt Dietmar Mieth:

O TON, 0 38“, Mieth

Wenn wir von Jesus etwas Zentrales lernen können, ist es Gewaltkritik. Da geht es nach meiner Ansicht im wesentlichen um ein kritisches Bewusstsein gegenüber Gewalt, um eine Unterbrechung. Dies ist eben die Unterbrechung der Spirale. Das tut er nicht, sich diesen Gesetzen Gewalt gegen Gewalt zu beugen.

Das kann man philosophisch erkennen und anerkennen, indem man sagt, wenn wir den Terrorismus mit terroristischen Mitteln bekämpfen, dann zeugen wir ihn fort. D.H. Wir müssen also in unserer eigenen Haltung antiterroristisch gegen den Terrroismus kämpfen und das ist offensichtlich in der Politik schwierig.

1.SPR.:

Die Diskussion hat noch einmal eine Wendung genommen: Wenn die Vorstellung, Frieden für alle zu schaffen, auch von der Bibel unterstützt wird, sollte man dann nicht auch ausführlicher über die göttliche Wirklichkeit sprechen? Jean Greisch wendet sich Kant zu:

 16.O TON, 0 19“, Greisch

Ein Begriff des Göttlichen, in dem die Idee der Liebe, der Gerechtigkeit, des Friedens keine zentrale Rolle würde, wäre für mich mit dem Göttlichen überhaupt unverträglich. Ich würde sagen: das ist das Ungöttliche.

1. SPR.:

Kant kann dem nur zustimmen. Es sei einfach falsch, wenn so viele Dummköpfe behaupten, er sei ein „Zerstörer des Glaubens“.

2.SPR.:

Ich finde es von meiner Moralphilosophie her sogar notwendig, das Dasein Gottes anzunehmen. Gottes Existenz können wir zwar nicht wissenschaftlich demonstrieren, weil ja Gott nicht als ein greifbarer Gegenstand erfahren werden kann.

1.SPR.:
Jean Greisch, der zugleich Philosoph und Theologe ist, will diese Aussage noch vertiefen:

O TON, 0 31“. GREISCH

Gott ist für Kant kein Erfahrungsgegenstand. Aber das bedeutet keinesfalls, dass der Begriff, der Gottesbegriff, selbst sinnlos wäre. Also insofern kann man sagen: Das Unbedingte ist unbegreiflich, aber das ist eine Idee, die nicht nur Kant vertritt, die finden Sie bereits bei Augustinus. Er sagt: Wenn du ihn begreifen könntest, dann kannst du sicher sein, das kann nicht der Gott sein.

1.SPR.:

Die Runde ist von einer Stimmung erfasst, die man im Hause Kants schon „philosophische Begeisterung“ oder „kritischen Enthusiasmus“ genannt hat. Der Gastgeber ruft dazwischen:

2.SPR.:

Wer sagt, dass Gott sicher existiere, der sagt mehr, als er weiß. Und wer das Gegenteil sagt, Gott existiere sicher nicht, der sagt ebenso mehr als er weiß. Niemand weiß genau und exakt, dass Gott existiert. Sondern wir glauben es. Dabei bedeutet Glauben als menschliche Haltung keine Abwertung gegenüber dem Wissen.

1.SPR.:

Die Gäste, allen voran die Theologen, fühlen sich bestätigt. Aber Herbert Schnädelbach warnt davor, nun sofort zu meinen: Kant sei auch ein Verteidiger kirchlicher Institutionen:

O TON, 0 22“, Schnädelbach

Was jetzt die Religion betrifft, also die gelebte Religion, da hat er ja in der Religionsschrift gesagt, alles, was daran zu retten ist, können wir nur verstehen als Anhang zur Moralphilosophie. Er sagt eben, alles, was wir glauben tun zu können, um gottgefällig zu sein, außer dass wir moralisch leben, das ist alles Abgötterei und Aberglaube.

1.SPR.:

Kant pflichtet dem bei:

2.SPR.:

Religiöse Praxis bedeutet für den einzelnen nichts anderes als die Anerkennung vernünftiger moralischer Pflichten, und diese sind göttliche Gebote! Unsere Vernunft ist der Maßstab und das Kriterium für alles, was in einer Religion lebt. So werden dogmatische Ansprüche begrenzt. Darum habe ich kein Verständnis für Konfessionen und Kirchen, wenn sie die Menschenrechte nicht respektieren und nur halbherzig die Demokratie unterstützen….

O TON, 0 38“. Graf.

Es gibt keine römisch-katholische Demokratie-Theorie, in der nicht die Zustimmung zur Demokratie von Vorbehalten abhängig gemacht worden ist.

1.SPR.:

Unterbricht der Theologe Friedrich Wilhelm Graf aus München. Er will Kants Erkenntnis auf den Katholizismus unmittelbar anwenden.

 O TON, Graf.

Es heißt immer die wahre Demokratie, die rechte Demokratie. nie die Demokratie als solche. Und die eigentliche Demokratie ist die Demokratie, die sich den sittlichen Einsichten, den moralischen Vorschriften des Lehramtes öffnet. Es ist jedenfalls nicht eine parlamentarische, pluralistische Parteiendemokratie, in der die Kirche in ihren Mitbestimmungsansprüchen an den Rand gerückt wird.

2.SPR.:

Ich habe das ja so oft schon gesagt: Es gibt Kirchen, die sich nicht weiterentwickeln und wie leblos erscheinen, z.B. wenn sie in ihren eigenen Strukturen vernünftigen oder demokratischen Prinzipien nicht folgen wollen und etwa Frauen keine Gleichberechtigung bewähren…

1.SPR.:

Friedrich Wilhelm Graf will gleich noch etwas ergänzen:

O TON, 0 40“, Graf

Man kann sagen, dass die Römisch-Katholische Kirche seit 200 Jahren den Prozess der Modernisierung darin kritisch begeleitet, dass sie sich als eine Gegeninstitution etabliert. Deshalb hat sie die Autorität des Papstes zunehmend verstärkt im 19. Jahrhundert, deshalb hat sie immer stärker auf römischen Zentralismus gesetzt. Was wir jetzt erleben ist im Grunde genommen eine innerlich stimmige, konsequente Kirchenpolitik: Je mehr religiösen Pluralismus es gibt, desto konsequenter stellt die Römisch katholische Kirche ihre spezifischen Merkmale in den Raum, das ist durchaus stimmig.

1.SPR.:

Und zu den spezifischen Merkmalen gehören eben auch die breiten Traditionen eines volkstümlichen Katholizismus oder einer populären Orthodoxie. Sie haben etwa „heilige Orte“ geschaffen mit Wunderquellen und empfehlen „Heilige als himmlische Schutzpatrone“ in allen Lebenslagen anzurufen. Da schaltet sich Jean Greisch ein:

O TON, 0 28“. Greisch

Aberglaube, Fanatismus, Wundergläubigkeit und so weiter: die muss man tatsächlich unter Kontrolle halten. Das ist das Problem Kants. Und ich glaube, er hat recht. Und ich glaube, in dieser Beziehung müssen wir auch als Philosophen einen kritischen Blick für die institutionellen Organisationsformen der einzelnen Religionsgemeinschaften haben.

1.SPR.:

Kant freut sich, dass seine Gäste die Grundidee seiner Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie verstanden haben, und mit einem Seufzer fügt er hinzu: Viel wichtiger als die Kirche sei doch etwas ganz anderes:

2. SPR.:

Das Reich Gottes auf Erden ist die letzte Bestimmung des Menschen. Christus hat das Reich Gottes verkündet. Aber man hat ihn nicht verstanden und statt dessen das Reich der Priester und der Kirche errichtet und nicht das Reich Gottes, das in uns selbst, in Seele und Vernunft, zu finden ist.

Musikal. Zusp., 

1.SPR.:

Die Gäste wollen nicht auseinander gehen, ohne auch die Grenzen der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie Kants zu besprechen. Schließlich sei religiöse Praxis doch immer auch Gottesdienst und Liturgie, Gesang und Gebet, Mystik und Ekstase, gibt Jean Greisch zu bedenken:

O TON, 0 35“. Greisch.

Jetzt kann man sich allerdings fragen, ob Kant nicht dazu neigt, Religion und Ethik total miteinander zu identifizieren. Dass man sagt, eine Religion, die noch andere Komponenten enthält als die rein ethische Komponente, das ist eine suspekte Religion.nAlso mit dieser These der totalen Identität von Ethik und Religion habe ich meine Schwierigkeiten, also die Religion ist eine eigenständige Provinz im menschlichen Gemüt.

1.SPR.:

Herbert Schnädelbach kann dem nur zustimmen. Religion ist mehr als Moral! Er erinnert an den Theologen Friedrich Schleiermacher in Berlin: Der Zeitgenosse Kants plädiert dafür, das Gefühl für das Unendliche und das ganzheitliche Ergriffensein von Gott als besten Ausdruck von Religion zu fördern: Vielleicht will Herbert Schnädelbach mit diesem Hinweis schon das nächste Salongespräch ankündigen?

25. O TON, 0 28“. Schnädelbach

Ich würde schon sagen, da ist Schleiermacher doch wirklich sehr wichtig, weil Schleiermacher ganz entschlossen die Religion aus der  Gefangenschaft der Moral befreit hat. Und das ist eigentlich für mich eine der wichtigsten Einsichten, dass Religion nicht eben ein Anhängsel der Moral ist, und dass sie auch keine Metaphysik ist, also keine Welterklärung. Und diese Befreiung der Religion von den moralischen Aufgaben, das hat sich eben bis heute immer noch nicht rumgesprochen, weil viele Leute immer noch erwarten, dass die Kirchen die moralischen Oberinstanzen sind.

1.SPR.:

Kant ist nicht gerade glücklich über diese kritischen Bemerkungen. Kann EIN Denker denn alle Aspekte berücksichtigen? Aber es wird Zeit, die Gäste zu verabschieden. Denn sein üblicher Nachmittagsspaziergang steht jetzt auf dem Programm… Im Namen der Runde bedankt sich Herbert Schnädelbach beim Hausherrn für das köstliche Mittagsmahl und das insgesamt anregende Gespräch

O TON, 010“, Schnädelbach.

Das ist ein inständiges Nachforschen mit dem Versuch, alle möglichen Argumente, die da mit im Spiel sind, zu berücksichtigen, das ist irgendwie doch faszinierend, muss ich sagen.

1.SPR.:

Auch der Gastgeber ist zufrieden…Wieder einmal hat eine Tischgesellschaft für das „Aufblitzen der Vernunft“ gesorgt. Zum Abschied sagt er:

2.SPR.:

Auch wenn wir hier gut gegessen und ordentlich getrunken haben: Vergessen wir nicht: Der Wert des Lebens besteht nicht im Genuss und im Genießen. Vielmehr erinnert uns die Vernunft daran, dem Leben durch unsere ethischen Handlungen einen Wert zu geben. Das ist der wahre Geschmack der Vernunft.

1.SPR.:

Und mit einem leichten Seufzer fügt er hinzu:

2.SPR.:

Nur mit kleinen Schritten folgt die Menschheit den Weisungen der Vernunft. Schließlich leben wir noch nicht in einer vernünftigen Welt…

Musikal. Zusp. 

1.SPR.:

Immanuel Kant wurde 1724 in Königsberg geboren. In seinem Haus trafen sich Menschen aus ganz Europa. Der Meisterdenker hat seine Heimatstadt bis zu seinem Tod 1804 nie verlassen.

Musikal. Zusp. 

Titelsprecherin::

Vom Geschmack der Vernunft – Tischgespräche im Hause Immanuel Kants

Sie hörten eine Sendung von Christian Modehn

Buchempfehlungen

-Herbert Schnädelbach, Kant. Grundwissen Philosophie. Reclam Leipzig, 2005, 160 Seiten, 9.90 Euro.

-Terence James Reed, Mehr Licht in Deutschland. Eine kleine Geschichte der Aufklärung. Becksche Reihe, München, 2009, 234 Seiten, 14, 95 Euro.

-Manfred Kühn, Kant. Eine Biographie. C H Beck Verlag München, 2004, 640 Seiten, 29, 90 Euro.

-Immanuel Kant, Köche ohne Zunge. Notizen aus dem Nachlaß. Auswahl und Vorwort von Jens Kulenkampf. Steidl Verlag, Göttingen, 1997. 96 Seiten. Gebraucht ab 4 Euro.