Vom Ursprung weit entfernt: Kirchen heute

Ein Beitrag für:
NDR
Aus der Reihe: Blickpunkt Diesseits
Vom Ursprung weit entfernt
Ein neues Buch über Jesus und die Kirche
Von Christian Modehn

Moderationshinweis:
Mehr als 5 Millionen Katholiken sind in den letzten 30 Jahren aus der Kirche ausgetreten. Bischöfe und Theologen machen dafür “den weltlichen, säkularen Geist oder Ungeist” verantwortlich, sie verweisen auf die moderne Mentalität, die für Gott keinen Platz mehr lässt. Jetzt nennt ein Theologe aus Köln andere Gründe für den Abschied so vieler Katholiken von der Kirche. Ein Buchhinweis von Christian Modehn

“Die Verfremdung Jesu und die Begründung kirchlicher Macht” heißt das neue Buch von Hermann Baum. Der Titel klingt ein wenig umständlich, Aber auch theologisch nicht so gründlich Gebildete können den Text ohne Mühe lesen. Sie werden zu Erkenntnissen geführt, die eine tiefe Erschütterung auslösen.   Hermann Baum, Philosoph und Katholischer Theologe, hat als Professor an der Katholischen Fachhochschule in Köln gearbeitet. Offenbar findet er erst jetzt, nach seiner Emeritierung, den Mut, seine Forschungsergebnisse zu veröffentlichen. Er will verständlich machen, warum so viele tausend nachdenkliche und gebildete Menschen die Kirche verlassen haben. “Es ist das in sich geschlossene System der katholischen Institution”, meint er, “das so viele Menschen nicht mehr akzeptieren können”. Mit anderen Worten: Die dogmatisch verfestigte Struktur der Kirche ist schuld an den Kirchenaustritten. Hermann Baum ist sich bewusst, dass er mit dieser zentralen Aussage seines Buches starke Irritationen vor allem unter den Verwaltern der kirchlichen Lehre hervorrufen wird. Aber seine gedrängten, auf 250 Seiten zusammengefassten Forschungsergebnisse sind historisch nicht zu widerlegen. Leitbild des katholischen Glaubens kann nur Jesus von Nazareth sein, meint Baum, er allein sei der Maßstab kirchlichen Lebens. Der Kölner Professor zeigt, wie sich die Katholische Kirche seit dem 2. Jahrhundert immer mehr von Jesus von Nazareth entfernt hat, wie Jesus “verfremdet” wurde, wie der Buchtitel sagt. Die eigene Macht auszubauen wurde den Führern der Kirche wichtiger als die lebendige Verbindung mit dem armen Jesus von Nazareth, jenes Menschen, der umfassende Liebe zu allen Wesen zum obersten Gebot erklärte. Aus den Visionen Jesu von einer brüderlichen Gemeinschaft ohne Hierarchie wurde ein Religionssystem, das sich jeglicher Kritik entzieht. Gerade an dieser Jesus-Vergessenheit der Kirche leiden viele Katholiken. Sie wollen nicht länger den Kirchenführern folgen, die sich für die einzig kompetenten Interpreten der Bibel halten. Und im gleichem Moment behaupten: In den biblischen Texten sei ihre absolute Autorität der Kirchenführer auch eindeutig bezeugt. “Das ist eindeutig ein Zirkelschluss”, schreibt Baum, und er fährt fort: “Die Begründung kirchlicher Macht ist eine in sich geschlossene Argumentationskette, die keine kritischen Fragen von außen mehr zulässt”. In weiteren historischen Studien wird z.B. erörtert, ob sich denn das Papsttum heute in einer ungebrochenen Kontinuität mit allen Päpsten sehen darf. Wie hat ein Johannes XXXIII. oder ein Johannes Paul II. mit jenen zwielichtigen, wenn nicht verbrecherischen Gestalten gemein, die den Stuhl Petri in den turbulenten Epochen des 9. oder 15. Jahrhunderts aus purer Machtgier besetzt hielten?, fragt Baum. Und er weiß aus vielen Gesprächen mit nachdenklichen Katholiken: Solange diese Fragen von Bischöfen und Päpsten heute nicht aufgearbeitet werden, hält der massive Abschied von der Kirche wohl weiterhin an. Hermann Baum sieht durchaus noch Chancen für eine selbstkritische Kirche ohne jeden Triumphalismus und ohne Machtallüren. Er hat eine Kirche vor Augen, die sich als ein weltweites Netz solidarischer Gemeinschaften strukturiert; er fordert Christen auf, sich der menschenfreundlichen und gar nicht dogmatischen Frömmigkeit des Jesus von Nazareth anzuschließen. Ein radikales Reformprogramm wird da vor den Lesern ausgebreitet, gut geeignet für Diskussionen und Predigten, für den Unterricht und die persönliche Besinnung.

Buchhinweis:
Hermann Baum, Die Verfremdung Jesu und die Begründung kirchlicher Macht.
Patmos Verlag, Düsseldorf, 2006.  240 Seiten. gebunden: es kostet 22,80 EURO.