Hegel – eine Biographie

Über ein neues Buch von Klaus Vieweg
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Wird das Jahr 2020 auch zu einem „Hegel-Jahr“? Hoffentlich, wenn auch mit aller verständlichen Bravour schon jetzt das „Beethoven-Jahr“ aller Orten eingeläutet wird und sich durchsetzt. Beethoven feiert am 17. Dezember seinen 250. Geburtstag. Hegel seinen 250. Geburtstag schon am 27. August. Es sind uns also noch einige Wochen „Denkzeit“ gegeben, um dieses Ereignis zu „begehen“. Und das könnte zu lebhaften Debatten im Geiste Hegels führen, in dialektischem Für und Wider selbstverständlich! Nur so ehrt man den letzten spekulativen Metaphysiker, der “das Ganze” in seinem System der Vernunft auf den Begriff bringen wollte.
2.
Der Hegel Forscher und Professor für Philosophie in Jena, Klaus Vieweg, legte vor wenigen Monaten, im September 2019, eine sehr umfangreiche Hegel-Biographie vor. Sie hat als Untertitel und als Motto: „Der Philosoph der Freiheit“.
Leitend für das Verstehen Hegels ist für Klaus Vieweg die Hochschätzung und man möchte fast sagen liebevolle Verehrung der philosophischen Leistung Hegels. Etwa wenn er Hegels Werk mit einem „Dom-Bau“ (S.193) vergleicht. Hegels „Phänomenologie des Geistes“ nennt Vieweg einen „unschätzbaren Diamanten“ (S.258), „einen diamantenen Angelpunkt“ (304), oder ein „Jahrtausendwerk“ (306). Das Buch „Wissenschaft der Logik“ wertet Vieweg „Buch der Bücher und „ein Meisterstück des menschlichen Geistes“ (361).
In dieser insgesamt sehr wohlwollenden Grundstimung im Hegel-Verstehen folgt Vieweg dem letzten großen Hegel Biographen Karl Rosenkranz, der sein – immer noch lesenswertes Buch – 1844 veröffentlichte (Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1971). Rosenkranz gehörte zum Verein der „Freunde des Verewigten“, der seit 1832 bei „Dunkcker und Humblot“ Hegels Werke herausgab…Rosenkranz war übrigens 1830 Mitglied, dies ist kein Witz, in der „Althegelianischen Gesellschaft zum ungelegten Ei“, an. „Althegelianer“ ist identisch mit dem geläufigeren Begriff Rechtshegelianer. Diese sind eher konservativ gesinnte Philosophen, mit strammem Bekenntnis zum preußischen Staat.
3.
Es ist wohl die große Herausforderung der Hegel-Biographie von Klaus Vieweg, dass er zeigen will: Hegel war während seines ganzen Lebens (1770 bis 1831) ein Freund der Republik, er schätzte die große Tat der Freiheit, die mit der Französischen Revolution 1789 begann. Hegel unterstützte in jungen Jahren die Republikaner nicht nur verbal, sondern war hilfsbereit, praktisch. Im reiferen Alter als Professor einer staatlichen Universität definierte Hegel bekanntlich „Freiheit als das Bei sich selbst Sein des Geistes im anderen“. Da wurde aus dem politischen Freiheitsengagement die spekulative Gedanken-Leistung, also die „halbierte Freiheit“ sozusagen wurde gelebt…
In den ersten Jahren der noch politisch-praktisch verteidigten Freiheit hat ihn der Enthusiasmus der Freunde in Tübingen, etwa Hölderlin, Schelling, mitgetragen. Vieweg schreibt: „Hegel stellt sich (in Jena) gegen jeden Restaurationsversuch“ (361). „Vorwärts durch dick und dünn“, schreibt Hegel an seinen Freund Friedrich Immanuel Niethammer (ebd.)
Später musste Hegel angesichts der repressiven politischen Mächte eher verschlüsselt sein Eintreten für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit benennen. Auch die vielzitierte Erkenntnis Hegels aus seiner „Rechtsphilosophie“: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“, ist ein kritischer Satz: Denn betont wird: Nicht alles real und faktisch Existierende ist vernünftig, das gilt für alles faktisch Bestehende in einem Staat…Erst die Prüfung durch die Vernunft kann im Faktischem dann Wirkliches und Vernünftiges wahrnehmen. In Viewegs Interpretation: “Was dem Begriff nicht entspricht, hat keine Wahrheit, ist bloßes Existieren (406).
Ob es Vieweg ingesamt gelungen ist, eine starke links-hegelianische Interpretation von dem insgesamt nun progressiven und staats-kritischen Hegel zu überzeugen, wird sich sicher in den Debatten der folgenden Monate zeigen.
4.
Vieweg breitet viele Fakten und Daten aus dem Leben Hegels aus, der ja bekanntermaßen oft umziehen musste, von Stuttgart nach Tübingen, dann zuerst als Hauslehrer, nach Bern, dann in Frankfurt, dann Jena vor allem und Nürnberg, später als Professor in Heidelberg und dann als Professor in Berlin von 1818 bis zu seinem Tod 1831. Vieweg spricht etwa von dem unehelichen Sohn Ludwig (256), er erwähnt viele Details der Heirat mit der aus der „altehrwürdigen Tucher-Familie“ stammenden Marie Tucher im Jahr 1811, da ist Hegel 41 Jahre alt! Vieweg berichtet etwa auch sehr ausführlich über den recht beachtlichen Wein-Konsum des immer „geselligen“ Hegels, nennt die vielen kontaktierten Weingüter und Lieferanten… Er berichtet auch von den Vorlesungen Hegels in Berlin, wie er, nach Worten suchend, eher schwerfällig und in sich versunken da steht und eher mit sich selbst sprach (565). Trotzdem bewunderten sehr viele Studenten Hegel, und nicht -zur Freude Hegels – den Berliner Konkurrenten Schopenhauer… Deutlich wird vor allem, wie sehr Hegels Denken vor allem zu Beginn im Kontakt mit anderen Philosophen und den Ereignissen der Politik sich herausbildet. Dabei ist Hegels Wille sehr stark, sehr ehrgeizig, etwas ganz Besonderes, Neues, etwa im Gegenüber zu Schelling, zu denken. Daraus ist der „absolute Idealismus“ entstanden, um ein Stichwort zu verwenden.
5.
Jede Station in Hegels beruflich bedingten „Wanderungen“, Umzügen, durch Deutschland“ wird von Vieweg verbunden mit ausführlichen Zusammenfassungen der Werke Hegels, die an diesen Orten von ihm geschrieben und von ihm selbst als Bücher veröffentlich wurden. Die berühmten Veröffentlichungen der Berliner Vorlesungen zur Geschichte, Kunst, Religion und Philosophie sind bekanntlich Mitschriften von seinen treuen Hörern. Diese Bücher werden von Vieweg aber leider eher knapp dargestellt. Die anderen hingegen, die er Hauptwerke nennt, also die „Phänomenologie des Geistes“, die „Enzyklopädie“, die „Logik“ und die „Rechtsphilosophie“ werden von Vieweg in einer Weise vorgestellt, die ich für problematisch halte, also für nicht für „effektiv“ bei den nicht philosophisch schon hoch gebildeten Lesern. Denn Vieweg wiederholt in Hegels Worten, gar nicht so kurz gefasst, den Inhalt der genannten Hauptwerke. Da wäre das Bemühen der Übersetzung der Hegel-Argumente in eine nicht von Hegel wieder geprägte und von ihm bestimmte Sprache dringend und sinnvoll gewesen. Das kennen wir ja auch von Darstellungen des Werkes Martin Heideggers, dass Heideggerianer eben Heideggers ohnehin oft kaum nachvollziehbaren Worte in ihrer Darstellung bloß wiederholen. Der Begriff der ÜBERSETZUNG ist entscheidend. Also hier die Übersetzung Hegels in heutige gebildete und kritische Alltagssprache. Nur dann gelingt Verstehen und Nachvollzug. Dieses Ziel wird von Klaus Vieweg leider nicht erreicht.
6.
Trotz dieser Kritik ist das Buch von Vieweg auch als Nachschlagewerk durchaus empfehlenswert, weil doch viele Grundthemen Hegels gut herausgearbeitet werden:
Etwa die Trennung von Kirche und Staat. Oder: Das Bemühen, allein durch die Vernunft und nicht durch das Gefühl Religion zu verstehen usw. Vieweg hätte da dem Kontrahenten Hegels, dem Theologen Friedrich Schleiermacher, etwas mehr Gerechtigkeit antun können: Dessen immer wieder zitierte Definition der „Religion als unmittelbares Gefühl der Abhängigkeit des Menschen“ ist doch, in dieser Kürze, tausendmal zitiert, irgendwie oberflächlich. Und die Hegelsche Reaktion darauf auch (etwa so: „Nur Hunde sind abhängig“…) ist eher nur polemisch! Gibt es denn nicht eine philosophische Nähe Schleiermachers zu Hegel, wenn der Theologe 1799 schreibt: „Die Offenbarung ist keine von oben her gekommene, außerordentliche Mitteilung, sondern das Bewusstwerden des eigenen innersten Lebens und einer neuen Anschauung des Unendlichen“. Davon habe ich in dem Umfangreichen Buch von Vieweg nichts gefunden. Er ist vielleicht zu sehr Hegelianer, als dass er Mängel im Denken seines hoch verehrten Meisters eingestehen könnte. Interessant ist Hegels Definition des Protestantismus, formuliert in Nürnberg: „Der Protestantismus besteht nicht so sehr in einer besonderen Konfession als im Geistes des Nachdenkens und höherer vernünftiger Bildung“ (334). In den Worten Viewegs: “Die einzige Autorität (der Protestenten), das einzige Heilige ist die intellektuelle und moralische Bildung aller“ (ebd.). Später, in Berlin, hat Hegel durchaus den Sinn des Kultus beschrieben, der freilich „aufgehoben“ werden muss in die Philosophie.
7.
Wenn noch zum Schluss noch einmal von Mängeln des Buches die Rede sein muss: Ich vermisse die ausführliche Auseinandersetzung mit Frage, ob gerade im Spätwerk Hegels eine gewisse Zwanghaftigkeit vorherrscht, bedingt durch seine absolute Ergebenheit gegenüber dem Gesetz der Dialektik. Ich vermisse eine ausführliche Reflexion zur Erkenntnis vieler seiner Schüler: dass eigentlich durch Hegel „alles gesagt“ ist, die Philosophie also an ein Ende gekommen ist. Neues gebe es also kaum noch zu sagen. Marx hat dann ja seine Konsequenzen gezogen… Ich vermisse dann auch speziell bei dem sehr zentralen hegelschen Thema Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie die Auseinandersetzung (oder wenigstens den Hinweis) mit der umfangreichen und großartigen spekulativen Leistung des Berliner Philosophen Michael Theunissen in seinem Buch „Hegels Lehre vom absoluten Geist als theologisch-politischer Traktat“, Berlin 1970, 460 Seiten!.
Und die immer umstrittene Geschichtsphilosophie Hegels wird von Vieweg mit einigem guten Gründen verteidigt. Aber die kritischen Vorwürfe werden nicht umfassend beantwortet, wie etwa: Der einzelne Mensch innerhalb der Weltgeschichte wird zu einem bloßen verschwindenen Material der sich durchsetzenden Geschichte des absoluten Geistes. Man lese in dem Zusammenhang die kleine, aber sehr inspirierende Studie des ungarischen Philosophen László F. Földényi „Dostojewski liest Hegel in Sibirien und bricht in Tränen aus“ (Berlin, 2008). Da kommt die Geschichtsphilosophie erst mal ins Schleudern!

Klaus Vieweg, Hegel. Biographie. Der Philosoph der Freiheit.
C.H.Beck Verlag, 2019, 824 Seiten. Davon ca. 140 Seiten Anmerkungen und Literaturhinweise. 34 Euro. Auch als e-Book (26,99 Euro)

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin