Die Brüderlichkeit (Geschwisterlichkeit) – eine politische Tugend und eine weltliche Spiritualität

Ein Hinweis von Christian Modehn (Siehe auch einen Kommentar zur Enzyklika “Fratelli tutti” vom 7.10.20: https://religionsphilosophischer-salon.de/13031_die-neue-enzyklika-fratelli-tutti-unglaubwuerdig-und-ueberfluessig_religionskritik)

1.
Von Brüderlichkeit sollte wieder öffentlich debattiert werden, weil sie in Vergessenheit geraten ist oder „obsolet“ wurde: Sie ist eine schwierige Tugend, schwer zu realisieren, sie kann nicht in Gesetze geformt werden wie die „Ideale“ der Freiheit oder die Gleichheit. Brüderlichkeit ist eine Art der Gesinnung, als weltliche. Allgemeine, säkulare Spiritualität, möchte man sagen, in der Vernunft erreichbar für alle, nicht nur für besonders spirituelle oder fromme Menschen. Als die Revolutionäre 1789 eine gerechte Gesellschaft, einen besseren Staat, durchsetzen wollten, schwebte ihnen ja nichts „Technokratisches“ vor, sondern eine neue, eine geistvolle humane Welt ohne Hierarchien, eine Welt, die spirituell geformt sein sollte… durch die Erkenntnis: Jeder Mensch ist des anderen Bruder…Dazu später mehr…
2.
Brüderlichkeit sieht heute jeden anderen Menschen als Bruder und Schwester, als zugehörig zu der einen Familie der Menschheit. Genau so müsste eigentlich jeder und jede betrachtet und entsprechend gewürdigt werden. Bei diesem Denkmodell wird freilich vorausgesetzt, dass es unter den Brüdern/Geschwistern keine Konkurrenz gibt, sondern lautere Eintracht herrscht. Man sieht an diesem Hinweis schon, dass der Begriff der Brüderlichkeit etwas Forderndes, Wegweisendes enthält, etwas, das den Menschen größer macht, als er de facto jetzt ist. Brüderlichkeit ist jedenfalls keine Zustandsbeschreibung!
3.
Das Prinzip der goldenen Regel könnte das Miteinander der vielen gleichberechtigten Brüder/Geschwister bestimmen und als Basistext angesehen werden für den Umgang der Menschen untereinander als Brüder/Geschwister. Aber die tiefe Zuneigung zum anderen, zur anderen, als Bruder (Schwester), ist mit dieser eher bloß respektvollen Haltung, die die „Goldene Regel“ beschreibt, nicht erreicht. Brüderlichkeit weist also auf die enge Verbundenheit, das Mitfühlen und das Besorgtsein um den anderen… Der Philosoph Ernst Bloch hätte wohl Brüderlichkeit in seiner Sprache eine Art „Wärmestrom“ genannt in dieser Zeit emotionaler Kälte, bedingt durch den egoistischen Wahn der Diktatoren und verrückt gewordenen Präsidenten und der populistischen Lügner allerorten sowie durch die neoliberalen Milliardäre und deren erkaltete Seele. Brüderlichkeit kann die notwendigerweise „warme“ Energie liefern, in aller vernünftigen Freiheit gegen den genannten Wahn heute vorzugehen.
4.
Nun wird auch Papst Franziskus eine Enzyklika, also ein offizielles Lehrschreiben, zum Thema veröffentlichen.
Auch wenn man den päpstlichen Text über die „Brüderlichkeit“ noch nicht lesen konnte, er wird erst am 3. Oktober 2020 in Assisi, der Stadt des heiligen Franziskus, publiziert, klar ist: Die Wahl des Ortes in Umbrien/Italien ist nicht zufällig, weil der heilige Franziskus (1182 – 1226) mit seinem Orden dort ein Modell der Brüderlichkeit gelebt hat, so die offizielle Interpretation. Dabei wird vergessen, dass die Päpste den armen Mann (einen „Laien“) aus Assisi damals zwangen, seine radikale Bruderschaft, bestehend „nur“ aus Laien, zu verändern zugunsten eines klerikalen, in die Hierarchie eingebundenen „Bettelordens“. Der Historiker Friedrich Heer (Wien) schreibt: “Franz von Assisis Leben ist der größte, gewagteste Versuch, im Jahrtausend der Herren-Väter die Brüderlichkeit in allen Dimensionen zu praktizieren. Die Päpste brechen diese lebendige Achse (radikale Armut und Friedensbewegung) aus seiner Ordensregel heraus. Der verfolgte, geschändete Franziskus irrt, halb blind, seelisch zutiefst versehrt, in langer Agonie durch die umbrischen Lande…“ (In: „Brüderlichkeit, die vergessene Parole, Gütersloh, 1976, Seite 23).
5.
Aber abgesehen davon: Es ist zu vermuten, dass mit viel Enthusiasmus ein päpstlicher Text über die Brüderlichkeit sowieso nicht aufgenommen werden kann. Zurecht klagen feministische katholische Frauen in den USA gegen diesen männlich bestimmten Titel. Wenn schon, dann also bitte eher von Geschwisterlichkeit sprechen oder von Schwesterlichkeit. Man sieht aber an diesen neu geschaffenen Begriffen, wie mühsam sich die gemeinte Haltung, die Tugend „Brüderlichkeit“, sprachlich und sachlich erweitern bzw. neu übersetzen lässt. Aber wenn mal ein Papst den versucht wagte, von Schwesterlichkeit zu schreiben, dann würde es wohl bald endlich PriesterInnen geben. Passiert aber nicht in dieser erstarrten Männer-Institution. Erst wenn die letzte katholische Frau aus der Kirche ausgetreten ist, wird von Schwesterlichkeit im ergreisten Vatikan die Rede sein… Aber lassen wir das…
6.
Schwerer wiegt: Dass eigentlich kaum noch jemand aus vatikanischem Munde etwas über Brüderlichkeit hören und lesen und lernen will: Es ist ja, gelinde gesagt, ein bisschen komisch, wenn ausgerechnet der Papst Brüderlichkeit für alle Gesellschaften und alle Staaten fordert, aber in der eigenen Institution Kirche alles tut, dass das Ideal Brüderlichkeit gerade NICHT gelebt wird. Auf politischer Eben ist es ja so, dass der Vatikan als Staat die Menschenrechtserklärung von 1948 nicht unterzeichnet hat und auch die universal geltenden Menschenrechte in der eigenen Kirchen-Institution nicht realisiert. Man denke an die nicht vorhandene umfassende Gleichberechtigung der Frauen oder an die Degradierung von Homosexuellen. Über das Fortbestehen des § 175 in der römischen Kirche siehe diesen Link: (https://religionsphilosophischer-salon.de/8029_der-175-besteht-noch-in-der-katholischen-kirche_religionskritik )
7.
Kurzum: Die nachdenklichen Leute glauben einfach nicht mehr, dass ein solcher päpstlicher Text von Papst Franziskus noch ernst genommen werden kann. Das ist sozusagen das gar nicht abzuweisende Vorverständnis für den päpstlichen Text! Man glaubt zu recht einfach nicht mehr, dass diese Kirche als machtvolle „Mega-Institution“ und ebenso machtvolle Bürokratie tatsächlich Brüderlichkeit in den eigenen Reihen verwirklichen kann und will. Denn alles, was entscheidend ist in der römischen Kirche, entscheiden nach wie vor Männer, Kleriker, Priester, Kardinäle, Päpste usw. Und die kleben an ihrer Macht, an ihren Privilegien, die ihnen angeblich der liebe Gott selbst gegeben hat. Welch ein theologischer Unsinn, der sich ungebrochen seit Jahrhunderten hält! Mag sein, dass diese Herren im Vatikan sich untereinander wie Brüder ansehen und untereinander wie Brüder behandeln, Papst Franziskus hingegen sprach ja schon früh von widerwärtigen Intrigen dieser Kirchenfürsten. Bei den Vertuschungen des tausendfachen sexuellen Missbrauchs durch Priester haben sich ja diese „Mitbrüder“ gegenüber den mitbrüderlichen Tätern oft sehr brüderlich, eben familiär-solidarisch-vertuschend, verhalten. Und brüderlich alles „unter den Teppich“ kehren wollen.
8.
Aber das ist nur ein Grund, dem Reden von Brüderlichkeit in der Kirche zu misstrauen: Denn sonst wären ja die Ober-Brüder in Rom auch mal in der Lage, den kleinen Brüdern, also den Katholiken in der Kirche in Deutschland z.B., brüderlich-freundlich-großzügig zu begegnen und etwa die Kommunion unter Katholiken und Protestanten zu gestatten und den anderen Brüdern, den kompetenten theologisch gebildeten Laien, auch die Leitung einer Pfarrgemeinde anzuvertrauen. Aber nein, die großen bürokratischen Brüder im Vatikan verachten die kleinen Brüder in Deutschland und anderswo. In Holland z.B. haben die großen Brüder seit 1970 dermaßen auf die „kleinen Brüder“, die ihre kleinen Brüder, die niederländischen Katholiken eingeprügelt, dass diese Kirche dort de facto heute scheintot ist. Die ist die Schuld der maßlos herrschsüchtigen großen Brüder. Darin sind sich Historiker einig. Aber das ist ein anderes Thema: Das vatikanische System zerstört den lebendigen Glauben.
9.
Alle wissen, dass die Brüderlichkeit, die fraternité, zum ersten Mal von den Revolutionären der Französischen Revolution als Stichwort verbreitet wurde. Hingegen gehörte die fraternité nicht von vornherein zur offiziellen Revolutionsparole! Diese bestand weitgehend nur aus „liberté“ und „égalité“. Lediglich in Grußformeln, etwa in Briefen, war die Rede von „Salut et Fraternité“. Allerdings hat Robespierre am 18. Dezember 1790 erklärt: „Les gardes nationale porteront sur leur poitrine ces mots gravés : LE PEUPLE FRANÇAIS, et, en dessous : LIBERTÉ, ÉGALITÉ, FRATERNITÉ. Les mêmes mots seront inscrits sur leurs drapeaux, qui porteront les trois couleurs de la nation“. Also: „Die Nationalgarden werden auf ihrer Brust graviert diese Worte tragen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Dieselben Worte werden auf die Fahnen geschrieben…“
Erst in der Verfassung der Zweiten Republik vom November 1848 wurde die „fraternité“ den beiden anderen revolutionären und republikanischen Prinzipien beigefügt. Weite Kreise des Klerus schlossen sich dieser – so kurzen – Zweiten Republik an, sie segneten die „Bäume der Freiheit“, sie waren eingeladen zu den „banquets patriotiques“: Einige wenige Kleriker entdeckten 1848 in der Revolution von 1789 eine bleibende, hoch zu schätzende Bedeutung. Abbé Couchoud veröffentlichte am 10.5. 1848 in der Zeitschrift „Voix de l Eglise“ einen Text über die Fraternité: „Wir sind Kinder aus dem einfachen Volk. Aber sind wir denn nicht auch Kinder des himmlischen Vaters? Die Bande des Blutes verbinden uns mit allen, die arbeiten, die leiden, sie sich verloren fühlen“ (zit. in Pierre Pierrard, „L Eglise et la Revolution 1789 – 1889“, Paris 1988, S. 154):
Seit 1880 wird diese „revolutionäre-republikanische“ „Trinität“ etwa auf den Fassaden der Rathäuser als Bekenntnis zur „laicité“ ganz groß sichtbar. Diese Devise wird so zum französischen Kulturerbe, auf Briefmarken und münzen verbreitet, aber nicht immer, eher selten bis heute in die politische Praxis „umgesetzt“. Man denke an den offenen und latenten Rassismus (gegen „Schwarze“) und den Antisemitismus.
Alle wissen zudem: Die katholische Kirche hat die republikanischen Prinzipien seit der Französischen Revolution nicht nur immer ablehnt, sondern auch mit allen Mitteln der ideologischen Propaganda und der Bestrafung von republikanischen Katholiken bekämpft. Erst im 2. Vatikanischen Konzil 1974 wurde etwa die Religionsfreiheit von der Kirche als Wert anerkannt.
10.
Die wohl mögliche Förderung der Brüderlichkeit durch Papst Franziskus kommt also mindestens 231 Jahre zu spät. „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ (Gorbatschow).
11.
Nur eines von vielen Beispielen, wie Brüderlichkeit in der katholischen Kirche praktiziert wird, und zwar in den Orden und Kongregationen. Diese Praxis habe ich selbst von 1968 bis 1973 in einem großen Kloster als „Frater“, also als Theologie studierendes Ordensmitglied, erlebt:
Im Kloster gelten offizielle Mitglieder als, so wörtlich, „Mit – Brüder“.
Tatsächlich haben die Leitung im Orden immer die Patres.
Aber: Die Patres, sind wörtlich die Väter. Manche Patres waren wohl auch wirkliche Väter. (Alimente zahlt üblicherweise die Ordensleitung bzw. bei Weltpriestern der Bischof)
Dann gibt es die Brüder. Diese Brüder sind Laienbrüder, gehören also nicht zum Klerus, wie die Patres. Sie verrichteten die handwerklichen (oft Dreck) Arbeiten. Nur einige wenige Brüder konnten sich aus dem Bruder/Laienstatus erheben und entweder Diakone werden, also zu einer unteren Stufe des Klerus gehört oder sogar Priester, „Pater“, werden..
Und dann gibt immer noch die fratres. Der lateinische Titel deutet schon die höhere Dimension als „die Laien-brüder“ an, denn eines Tages, nach ca. 7 Jahren, werden diese Fratres auch Patres, falls sie das Klosterleben durchhalten…
Übrigens gab es auch in den Frauenorden diese Hierarchie unter den „Schwestern“. In den alten Orden gab es die so genannten „Chorschwestern“, die beteten und studierten. Und dann gab es die „Laienschwestern“, die sich um alles Praktische kümmerten, Landwirtschaft, Hausputz etc. Es gab und gibt also sogar unter Frauenorden die „besseren“ und die „dienenden“ (wirklich arbeitenden) Nonnen….
Brüderlichkeit ist also selbst in den sich explizit brüderlich nennenden Orden oft nur ein schönes Wort…
12.
Eigentlich ist es, schon soziologisch betrachtet, schade, dass die Kirche als glaubwürdiges „Vorbild“ der Brüderlichkeit auch heute ausfällt. Die ganze innere Krise der Kirche wird da sichtbar: Sie ist, so wie sie ist, einfach nicht mehr glaubwürdig. Nicht schöne erbauliche Enzykliken helfen weiter, sondern eine neue Praxis, die aus der üblichen katholischen Nicht-Brüderlichkeit endlich Brüderlichkeit, Geschwisterlichkeit, Schwesterlichkeit als Basis-Haltung lebt.
Sonst bleiben Enzykliken nur „Druckerzeugnisse“…
13.
Manch einer wünscht sich Gemeinschaften der realen Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit. Aber diese Gemeinschaften sind wohl auch außerhalb der großen Kirchen noch zu finden, vielleicht in den Formen gemeinschaftlichen alternativen ökologischen oder friedenspolitischen Miteinanders. Vielleicht in NGOs? Wie stark diese Gruppen eine Spiritualität leben und zur Sprache bringen, wäre ein interessantes Projekt…

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