„Post-Katholisch“: Über das langsame Verschwinden der katholischen Kirche in Frankreich.

Hinweise von Christian Modehn am 28.6.2024.

Ergänzt am 30.6.2024, 19 Uhr:

Ein Freund aus Frankreich sagte mir: “Es gibt im Augenblick zwar politisch gesehen wichtigere Themen für uns Franzosen als dein Thema hier. Aber die so starke Verbundenheit der praktizierenden Katholiken mit den Rechtsextremen, dokumentiert zur Europawahl am 9. Juni, ist schon erschütternd.”

Ich antwortete ihm: “Weil die katholische Kirche nicht im entferntesten demokratisch strukturiert und organisiert ist, also auch von offizieller Seite keine demokratischen Werte als “göttlich”, als “absolut wertvoll” vertreten kann und so auch predigt, ist die starke Nähe der praktizierenden Katholiken zu Rechtsextremen durchaus verständlich... ”

Anläßlich der Wahlen zum Europaparlament und zu den Parlamentswahlen Ende Juni 2024 sollte sich das Interesse auch auf den Zustand der Religionen in Frankreich richten, etwa auf die katholische Kirche. Und dies nicht nur, weil bei den Europawahlen am 9.Juni 42 Prozent der „praktizierenden Katholiken“ für die rechtsextreme Partei „Rassemblement National” und die noch rechts-extremere Partei „Reconquete“ stimmten. Wichtig ist, dass sich im Jahr 2023 nur eine Minderheit von 29 Prozent der Franzosen „katholisch“ nennt, und: die meisten dieser Katholiken gehören der älteren Generation an…

1.
Die katholische Kirche in Frankreich, als die „älteste Tochter der römischen Kirche“ gepriesen, ist tatsächlich uralt. Seit dem 1. Jahrhundert gibt es in Gallien christliche Präsenz, etwa in Lyon. Und bis heute ist der Katholizismus sichtbar durch zahlreiche gotische Kathedralen, romanische Kirchen und große, zum Teil noch bewohnte Abteien oder auch durch die vielen tausend christlich geprägten, auf Heilige bezogenen Straßen – und Ortsnamen.

2.
An der populären Verehrung der gotischen Kathedrale „Notre Dame in Paris“ gibt es keinen Zweifel. Das uralte Gebäude schätzen die meisten, zumal die 12 Millionen touristischen Besucher etwa im Jahr 2017.
Aber, die permanente „Fotografier – Sucht“ der durch die Kirche Eilenden zeigt: Die Kathedrale wird als Museum, als Monument des Mittelalters und der nationalen Identität wahrgenommen. Von plötzlichen Bekehrungen zum Katholizismus durch einen Besuch in „Notre Dame“ – wie es einst dem Schriftsteller Paul Claudel geschah – wird nichts mehr berichtet. Immerhin, die Kirchenfernen, zumal die materiell stark Begüterten, spendeten für den Wiederaufbau der Kathedrale nach dem verheerenden Brand am 15. Juli 2019. Staatspräsident Macron versprach sofort in seiner übereilten Art, der Wiederaufbau werde etwa ein Jahr dauern, jetzt wird Ende 2024 die Kathedrale feierlich eröffnet.

Nebenbei: Hoffentlich wird dann NICHT im Jahr 2027  Marine Le Pen („Rassemblement National“) als neue Präsidentin um den Segen des Erzbischofs in “Notre – Dame” bitten. Vom katholischen Glauben, so sagte Madame Le Pen bisher, halte sie nicht viel, bestenfalls in der traditionalistischen Variante der Pius-Brüder. Mit denen war ihr Vater Jean-Marie Le Pen als Rassist und Antisemit sehr eng verbunden. Zu Marine Le Pens Beziehung zum katholischen Glauben: LINK

3.
Diese äußere Sichtbarkeit der katholischen Kirche darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die katholische Kirche in Frankreich – wie in anderen westeuropäischen Ländern – am Verschwinden ist. 1950 nannten sich 90 Prozent aller Franzosen katholisch, 1998 waren es 53 Prozent; 2023 waren es nur noch 29 Prozent der Franzosen, die sich katholisch nannten. (Quelle: https://www.insee.fr/fr/statistiques/6793308?sommaire=6793391)

Nebenbei: Immer waren und handelt es sich um repräsentative Umfragen zur Religion der Franzosen, denn die Republik („laique“!) verbietet sich selbst seit dem 19. Jahrhundert, nach der konfessionellen Bindung seiner Bürger zu fragen.

Auch die Zahlen zur Beteiligung der Katholiken an der Sonntagsmesse sind deutlich:
1946: 37 Prozent regelmäßige Teilnehmer an der Sonntagsmesse,
1969: 25 Prozent,
1975: 16 Prozent. (Quelle: Delumeau, „Stirbt das Christentum?“, Seite 21).
2023: 8 Prozent Katholiken, die mindestens einmal im Monat an der Sonntagsmesse teilnehmen. (Quelle: https://www.insee.fr/fr/statistiques/6793308?sommaire=6793391

Die Zahl der Priester in Frankreich geht ständig zurück: Ein wichtiges Thema, denn ohne immer nur männliche Priester, so die offizielle Lehre, kann die katholische Kirche nicht bestehen.
1965: 40.000 Priester in Frankreich
1984: waren es 30.000.
(Quelle: „Les Francais sont-ils encore catholiques“, S. 41.)
2000: 25.353
2022: 11.644 (Quelle: https://eglise.catholique.fr/guide-eglise-catholique-france/statistiques-de-leglise-catholique-france-monde/statistiques-de-leglise-catholique-france/ministres-ordonnes-religieux/) Der Altersdurchschnitt des französischen Klerus liegt heute bei 70 Jahre. Selbst viele 75 Jährige Pfarrer sind noch „im Einsatz“. Mindestens 1000 Priester aus dem Französisch sprechenden Afrika sind in Frankreich wie „Gastarbeiter“ im Einsatz, sie sind in machen Bistümern, die einzigen, die noch nicht 60 Jahre alt sind. Diese „Gastarbeiter“ ersetzen den aussterbenden französischen Klerus und verlängern so noch einmal um ein paar Jahre die Klerus – Herrschaft.

Die Zahl der neu geweihten Priester ist seit 60 Jahren minimal geworden.
1965: waren es noch 646 Neupriester
1974: nur noch 170. (Quelle Delumeau, Stirbt das Christentum, S. 22):
2010: 96 Neupriester
2022: 114 Neupriester. (Quelle: https://eglise.catholique.fr/guide-eglise-catholique-france/). Die Zahl der Sterbefälle im Klerus ist sechsmal höher als die Zahl der „Neupriester“.

Die Zahl der Taufen von Babys und Kindern geht ständig zurück.
2000: 400.000 Taufen
2022: 198.000 Taufen
Quelle: https://eglise.catholique.fr/guide-eglise-catholique-france/statistiques-de-leglise-catholique-france-monde/statistiques-de-leglise-catholique-france/les-sacrements-en-france/)

4.
Diese aktuelle Situation sollte man religionsphilosophisch und religionssoziologisch „auf den Begriff bringen“:
In Frankreich ist in der Philosophie der Begriff „postmodern“ für den Zustand der Gesellschaft und der Mentalitäten des 20.Jahrhunderts entstanden. Anderswo spricht man von „post-kolonial“ oder „post-demokratisch“, um den politischen Umbruch der Gegenwart zu bestimmen. Auch wenn das „Post-Moderne“ allmählich an Akzeptanz wegen „allzu heftiger subjektiver Beliebigkeit“ verloren hat: An dem Wort „Post- “, „Nach-“ , steckt ja auch die Einladung, den geistigen Zustand einer Gesellschaft kurz und bündig zu beschreiben.

5.
Nun könnte also für Frankreich ein neuer „Post“ – Begriff gebräuchlich werden: Es ist das Wort „Post – Katholisch“.
Das heißt: Frankreich ist – schon vor einigen Jahren – in eine neue religiöse Epoche eingetreten. Sie ist bestimmt vom stetigen Abschied von katholischen Glaubenswelten und vom Abschied von der Bindung an die katholische Kirche als Institution. Frankreich lebt in Zeiten, in denen Katholisches als gelebte Orientierung weithin Vergangenheit ist: „Post – katholisch“ eben, selbst wenn die französische Kirche noch über ein großes Gerüst an Institutionen verfügt und viele Kathedralen und Abteien Zeugnisse sind für den Glauben „von einst“.

6.
Wer Verantwortung oder gar Schuld hat an diesem „post-katholischen Zustand“, ist eine wichtige Frage. Unsere These: Es ist die klerikale Herrschaftsform dieser Kirche selbst und ihre absolute Unbeweglichkeit, die auf nicht mehr nachvollziehbare Dogmen nicht verzichten kann und die Menschen aus der Kirche treibt… Es ist also die starre Herrschaft erstarrter Kleriker, die diese „post – katholische Epoche“ hervorgebracht hat. Kleriker nennen gern als „schuldig“ für diesen Zustand diffus „die Säkularisierung“, den fehlenden “Respekt vor den Werten“, die „Konsumgesellschaft”, früher sagte man auch gern „das Fernsehen“… Wenn die Kleriker dann heute vornehm „Reformen“ vorschlagen, dann sind es, wie üblich, immer nur solche, die ihre eigene Macht nicht gefährden.

7.
Es ist dabei interessant zu sehen, dass mit diesem post – katholischen Zustand Frankreichs jetzt eine „post – demokratische Zeitenwende“ gleichzeitig korrespondiert, also die wahrscheinliche Machtübernahme durch die nur nach außen hin gemäßigte, nicht-rechtsradikale Partei von Marine Le Pen, das „Rassemblement National“. Das zentrale Motto dieser Partei ist der egoistische Nationalismus, „La France d abord.“ Egoismus zuerst also. Und deswegen die Forderung: Flüchtlinge und Fremde: Raus…
Weil die Katholiken wahrscheinlich besser die Paragraphen des römischen Katechismus kennen als die Menschenrechte und die Werte der Demokratie, haben gerade die „praktizierenden Katholiken“ am 9.Juni bei den Europa-Wahlen sehr heftig die beiden rechtsradikalen Parteien gewählt (42 % aller praktizierenden Katholiken). Die französischen Bischöfe haben nicht explizit die Katholiken vor den Rechtsextremen gewarnt, sie schweigen sich auch jetzt aus, nach den Ergebnissen der Europawahl. Manche kompetente Beobachter meinen: Vielleicht denken ja auch einige Bischöfe so wie die Führer der Rechtsextremen, die Bischöfe sind wie diese Politiker gegen die „Ehe für alle“, für den absoluten Schutz der heteronormativen Familie, der Liebe zum „alten Frankreich“ usw… Von den Bischöfen Rey (Toulon) oder Aillet (Bayonne) kann man das gewiss sagen.

8.
Ob dieser Zustand des „Post-Katholischen“, also der katholischen Minderheit, sich in Zukunft weiter bestätigt, hängt von vielen Faktoren ab: Gibt es Kräfte, die zur grundlegenden Reformation (nicht zur „Reform”, diese ist viel zu bescheiden angesichts der Probleme) in der Lage sind? Sind die engagierten Laien in den Gemeinden in der Lage, eine Präsenz des Katholischen zu garantieren? Bekanntlich sind sie nur HelferInnen des Klerus, die Eucharistie leiten dürfen sie nicht. Die Feier der Eucharistie wird offiziell vom Klerus als der absoluteste aller Mittelpunkte katholischen Lebens behauptet, aber die Eucharistie dürfen nur zölibatäre Priester leiten, so behalten die Priester nach wie vor die Macht in der absolut wichtigsten aller katholischen „Ereignisse“… Wenn der Klerus ausstirbt, sterben also auch die Gemeinden. Das weiß der Klerus, und er akzeptiert diesen Weg ins Ende des Katholizismus.

Und die eigentlich irgendwann einmal etwas prophetisch gesinnten Ordensleute fallen auch in Frankreich weithin aus, nicht nur weil die Orden, männliche wie weibliche, am Aussterben sind in Frankreich, sondern weil auch das Renommee der neu gegründeten, oft charismatischen Ordensgemeinschaften einfach miserabel ist, wegen der vielen Fälle sexuellen Missbrauchs vor allem durch männliche Ordensleute.

9.
Wer heute noch in dieser Kirche mitwirkt, ist meistens dem konservativen Lager zuzurechnen: Und diese Kreise sind froh, dass auch heute alles der Tradition und den angeblich unwandelbaren Dogmen entsprechen… alles Katholische soll also so bleiben, wie es – angeblich – immer schon war.
In dieser versteinerten Haltung wird die katholische Kirche zur sehr „kleinen Herde“, wie man kirchenintern gern voller Trost im Blick auf ein Jesus-Wort sagt, also zur abgeschotteten Sekte in einer „post – katholischen Gesellschaft“.
Noch einmal: Jetzt nennen sich noch 29 Prozent aller Franzosen, vor allem ältere Menschen, katholisch. Die stärkste „Konfession“ sind heute die Religionslosen, mit über 50 Prozent. Und ihr Anteil wächst. Sind diese Religionslosen aber wirklich ohne Religion? Wenn nein, welche Religion haben sie, suchen sie, das sind offene Fragen, die bisher kaum religionsphilosophisch bearbeitet werden.

10.
Mit den Menschen „sans religion“ , „ohne Religion“, sowie den 5 Millionen Muslims sowie den einigen hunderttausend Evangelikalen und 500.000 Juden und den zahlreichen Buddhisten wird sich also der Minderheiten – Katholizismus irgendwie verständigen müssen, in einer Zeit alsbald, die man dann allgemein nur „post-katholisch“ nennen wird. Nietzsche fragte einst: Wird die Kirche zum Grab Gottes? In Frankreich ist man geneigt, diese frage mit Ja zu beantworten. Man lasse sich nur vom schönen Schein der so schönen Kathedralen etc. täuschen oder von den Wallfahrtsorten und Pilgerrouten, die selbst für „Religionslose“ wichtig geworden sind, als Formen des „Besonderen“, „Anregenden“ und durchaus „Unterhaltsamen“…

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

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