Einige Thesen für den Salon am 15. 3. 2013 von Jürgen Große, Philosoph in Berlin
Kapitalismus – Surrogat oder Steigerung von Religion?
Fragen zu Walter Benjamins Fragment „Kapitalismus als Religion“ (1921)
1. Kapitalismus als Surrogat für Religion:
– Kann der Kapitalismus die Religion ersetzen, und wenn ja: Welche Religion ist in welcher Hinsicht durch den Kapitalismus ersetzbar?
– Was sind die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen, um diese Frage entscheiden zu können? Kann man von spezifisch ökonomischen und spezifisch religiösen Erfahrungen so weit abstrahieren, dass Kapitalismus und Religion/Christentum als bloße Strukturen vergleichbar werden?
– Was sind Benjamins wichtigste Evidenzen für eine Strukturanalogie von Kapitalismus und Christentum?
[Evtl. noch zu diskutieren: Worin weicht Benjamin von M. Weber, Marx, Nietzsche ab?]2. Kapitalismus als gesteigerte Religiosität:
– Benjamin nennt vier Merkmale von Religion, die im Kapitalismus ausschließlichen Charakter erhalten hätten. Diese Betrachtungsweise hat historische, zum Teil apokalyptische Implikationen. Ist sie mit der These einer Substituierbarkeit von Christentum durch Kapitalismus kompatibel, wenn ja, unter welchen Voraussetzungen?
3. „Die Sorgen: eine Geisteskrankheit, die der kapitalistischen Epoche eignet“
– Benjamin nennt die Sorgen einen Index des „Schuldbewusstseins der Ausweglosigkeit“. In welcher Hinsicht können Sorgen mehr als eine vorübergehende Seelenlage bezeichnen? Sind Sorgen im Kapitalismus eine Übersteigerung alltäglicher Sorgen, die zum psychischen Zusammenbruch des Einzelnen führen muss? Oder ist die Permanenz der Sorgen eine Systemeigenschaft des Kapitalismus, die nicht an bestimmte Menschentypen oder Situationen gebunden ist (= relative Gesundheit des Einzelnen in einem ‚kranken System’)?
– Können sich die Sorgen des Menschen im Kapitalismus als grundlos bzw. nichtig erweisen?