“Mr. May” – ein philosophischer Film. Eine Empfehlung

„Mr. May“ – ein philosophischer Film

Trauer um die Vergessenen – Gemeinschaft der Verstorbenen.

Eine Empfehlung von Christian Modehn

Philosophie lebt überall. Keineswegs nur in Büchern, auf denen das Stichwort Philosophie zu lesen ist. Es ist keine Frage: Philosophie lebt auch im Film, sicher in jenen, die leibhaftige Menschen in den Freuden und Nöten der Existenz zeigen. Damit aber lebt Philosophie tatsächlich in den meisten Filmen. Selbst in der populären Fernsehserie „Tatort“ gibt es philosophische Dimensionen, die jetzt eigens in einem Buch bewusst gemacht und kritisch reflektiert werden (“Tatort und die Philosophie”, Klett Cotta, 2014).

Aber es gibt eben auch einige Filme, die schon explizit die Qualität des intensiv Philosophischen haben, also solche Filme, die der Zuschauer nicht schnell vergisst, die noch Tage später bedacht werden, wenn sich neue Erkenntnisse bilden, die man beim Betrachten nur unbewusst wahrgenommen hat. Es sind Filme, die anrühren, die Gefühle wecken, etwa wenn sich Erschrecken zeigt über Entfremdung und Langeweile, wenn Tränen kommen angesichts offenbarer Hoffnungslosigkeit und sich die Sehnsucht meldet nach einer doch heilen Welt, in der Erlösung mehr ist als ein Wort.

Der schwedische Regisseur Roy Andersson hat jetzt in Venedig den „Goldenen Löwen“ erhalten, verdientermaßen, keine Frage, alle Freunde seiner Filme sind begeistert. Roy Andresson ist sicher ein philosophischer Regisseur und Autor. Sein wunderbarer Film „Das jüngste Gewitter“ (2007) ist nicht nur unvergessen, es bietet Themen für lange philosophische Debatten, allein der Song bei einer Begräbnisfeier „Ich habe von einer Stadt über den Wolken gehört“ könnte Anlass bieten für religionsphilosophische, um nicht zu sagen spirituelle Meditationen. Aber der ganze Film ist philosophisch, voller Fragen, voller verschiedener Wirklichkeitsebenen…Schon dieser Film schon ist ein Beweis, dass religiöse und spirituelle Fragen eben sehr eindringlich (und oft viel besser) gerade außerhalb der Kirchen und ihrer Institutionen zur lebendigen Darstellung kommen. Und solche Filme wirken im Bewusstsein und Nachdenken länger und prägender als die vielen „immer selben“, meist rituell erstarrten Gottesdienste. Spiritualität lebt selbstverständlich außerhalb der Kirchen, man muss nur genau hinschauen…

Auf Anderssons neuesten, preisgekrönten Film „A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence“ werden wir noch zu sprechen kommen, wenn er in Deutschland hoffentlich alsbald in den Kinos gezeigt wird.

Schon jetzt zu sehen ist ein nicht weniger explizit „philosophischer Film“, der dringend empfohlen wird: Es ist das Werk von Uberto Pasolini “Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit”. Erzählt wird die Geschichte des John May (Eddie Marsan in seiner ersten Hauptrolle, großartig dargestellt). Er arbeitet als bescheidener, stiller, korrekter Beamter für die städtische Behörde in London als „funeral officer“ : Er kümmert sich ausschließlich um die total vereinsamt verstorbenen Menschen, die niemanden hatten, die deswegen niemand vermisst … und zu deren Bestattung auch niemand erscheint. Immer dabei in den Friedhofskapellen ist Mr. May. Aber er ist mehr als der „berufsmäßig Trauernde“! Er ehrt gewissermaßen „seine“ Verstorbenen in einem fein säuberlich angelegten Fotoalbum, das er zu Hause hegt und pflegt. So bewahrt er „seine einsamen Toten“ vor dem Vergessen. Dabei ist Mr. May selbst ein einsamer Mensch, er wirkt eingesperrt in seine winzige Wohnung und sein kleines Büro. Aber er ist dadurch frei und lebendig, dass er die Toten ehrt und ihrer gedenkt. Von Religion ist insofern die Rede, als die Bestattungen (einziger Trauernder immer Mr. May) von Pfarrern geleitet werden. Diese, so die Botschaft, sind sich nicht zu fein, um solche „Soziabegräbnisse“ zu leiten. Immerhin! Und Mr. May leidet wortlos unter dem totalen Desinteresse der Angehörigen, an dem Begräbnis eines ihrer „Lieben“ teilzunehmen…

Der deutsche Titel „Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit“ weckt ja bereits spirituelle Interessen, der englisch Titel heißt schlicht „still life“, „Stillleben“ klingt viel nüchterner. Der englische Titel hebt ab auf das ruhige, vielleicht schon Erstarrte im Leben des John May. Als er seine Arbeit wegen der üblichen „Rationalisierung“ verliert, protestiert er nicht, er wehrt sich kaum, lediglich am letzten Arbeitstag wagt er eine kleine Rache an seinem arroganten technokratischen Chef.

Aber das ist nur die eine Seite, geradezu leidenschaftlich forscht er – nun schon entlassen- nach den Angehörigen eines Verstorbenen, er trifft nach langem Suchen dessen Tochter, erste freundschaftliche Gefühle werden wach in dem so schüchternen „funeral officer“. Die Schlussszene ist ergreifend, anrührend. Sie vergisst man nicht, sie sollte man diskutieren. Inhaltlich wollen wir hier noch nicht mehr sagen: Jedenfalls hat wohl diese Schlussszene auch zum Titel der deutschen Version inspiriert. Hier kommen spirituelle Dimensionen ohne jeden Kitsch, unaufdringlich, ins Bild.

Die Entlassung Mr. Mays aus dem Dienst wird mit der Rationalisierung begründet. Ein unangenehmer junger Bürokrat und Vollstrecker von Sparmaßnahmen, also der Chef, sagt zu dem rührend, um jeden einzelnen Toten bemühten Mr. May sinngemäß: „Diese Toten brauchen niemanden mehr, der noch anwesend ist bei den Trauerfeiern, zu denen niemand sonst kommt. Diese Toten brauchen niemanden, der sie bis zur letzten Ruhestätte begleitet“. Hier wird der Zorn wach über so viel Impertinenz und Verachtung, über so viel Absolutsetzung des bloß Nützlichen: Die angeblich überflüssige Trauer um vergessene Menschen lohnt sich also nicht. Das kalte Gesicht des Kapitalismus zeigt sich auch hier einmal mehr.

Copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon Berlin