Denken macht glücklich: Montaigne

Ein Besuch bei Michel de Montaigne
Eine Ra­dio­sen­dung (RBB) von Christian Modehn

1.musikal. Zusp.: Rondo, bleibt  0 05“ freistehen. Dann etwas reinblenden:Das Chateau de Montaigne im Périgord. Im Schlosshof spielen Musiker zum Tanz auf. Ein Augenblick der Lebensfreude inmitten der Religionskriege zwischen Katholiken und Hugenotten. Das Chateau liegt am Rande eines Dorfes, umgeben von Weinbergen, sanften Hügeln und romantischen Flüssen.

Wie einige andere Ortschaften in der Nachbarschaft von  Bordeaux stellt es sich unter den Schutz des Erzengels Michael, der bekanntlich alle Ungeheuer und Dämonen besiegt haben soll. Auf dem Schloss Montaigne vertrauen die Menschen aber der Kraft ihres eigenen Denkens, wenn sie sich den Widerwärtigkeiten des Lebens stellen.

1. Zusp.: Rondo,

Titelsprecherin:
Denken macht glücklich – Ein Besuch bei Michel de Montaigne
Eine Sendung von Christian Modehn
Das Dorf „Saint Michel de Montaigne“ zählt heute 300 Einwohner. Vom Frühling bis in den Herbst kommen an manchen Tagen 100 Touristen in diesen verschlafenen Ort. Die Besucher möchten das Schloss sehen, genauer gesagt, den benachbarten Turm: In diesem massiven Rundbau, wehrhaft und abweisend, wohnte einer der beliebtesten französischen Philosophen. 1533 wurde er als Michel Eyquem geboren. Aber er zog es vor, sich nach dem Titel des alten Landsitzes seiner Familie zu nennen: Michel de Montaigne. Er hat das Philosophieren von abstrakten Spekulationen befreit und mit dem Alltag der Menschen verbunden. Weltweiten Ruhm erlangte er durch sein  Hauptwerk, die „Essais“. Sie wollen „Versuche“, „Vorschläge“,  sein zur praktischen Lebensgestaltung. Das umfangreiche Werk hat er in seinem Turm zwischen 1571 und 1588 verfasst, bei seinem Tod 1592 war das Buch bereits im landesweit bekannt.
Montaignes Arbeitszimmer, die Bibliothek, erreicht man nur über die Hauskapelle im Erdgeschoß. Hier erwartet die Historikerin Anne – Céline Lhuillier ihre Gäste:

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Die Kapelle ist immer noch geweiht, aber man kann die Messe hier normalerweise nicht mehr zelebrieren, weil sie doch recht klein ist. Aber es kommt schon mal vor, dass man doch die Messe feiert: im vergangenen Jahr hat die Gesellschaft der Freunde Montaignes hier Gottesdienst gefeiert, da waren etwa 40 bis 60 Leute dabei.
Michel de Montaigne lebte in einer Epoche blutiger Religionskriege. Protestantische Ketzer wurden verbrannt, katholische Irrlehrer hingerichtet. Frankreich war in wildem Aufruhr, erläutert der Philosoph Wilhelm Schmidt -Biggemann, einer der Besucher auf Schloss Montaigne:

O TON:

Das ist eine apokalyptische Zeit und man erwartet die Wiederkunft des Herrn, d.h. das jüngste Gericht verhältnismäßig bald. Das Ergebnis ist: politische Radikalisierung auf allen Seiten. So dass also das Neue keinen Kredit haben kann. Was bleibt, ist dasjenige, von dem man weiß, dass es einige Zeit gehalten hat und dass man sich deshalb auf das, was einige Zeit gehalten hat, auch verlassen kann. Das ist keine große Verlässlichkeit, aber eine relative.
Auch Michel de Montaigne blieb der Tradition seiner Väter treu und nannte sich weiterhin katholisch.  Aber vom volkstümlichen Glauben an Wunder und Heilige hielt er nicht viel, theologische Dogmen interessierten ihn kaum. Er wollte immer ein selbständiger Mensch bleiben, mit eigenen Gedanken, eigenen Überzeugungen.

O TON:
Er erkannte: Sowohl im Katholizismus wie im Protestantismus gibt es Gutes und auch weniger Gutes. Deswegen hat er sich gegenüber der katholischen wie der evangelischen Religion auch sehr kritisch verhalten. Trotzdem war er sehr gläubig und auch sehr fromm. Man erzählt, er sei während einer Messe gestorben, genau, als der Priester die Hostie konsekrierte und sie in die Höhe hob.

Musikal. Zuspielung, leise im Hintergrund lateinische Messe.
Im ersten Stock befindet sich das Schlafzimmer, von dort aus konnte Montaigne über einen kleinen, geschickt gebauten Spalt in der Mauer an der Messe wenigstens akustisch teilnehmen. So war es ihm möglich, sich gleichzeitig religiösen wie philosophischen Gedanken hinzugeben.

In der zweiten, der obersten Etage, hielt er sich die meiste Zeit auf. Hier hatte er seine Bücher, immerhin mehr als 1000 dicke Bände. Montaigne las vor allem die  Philosophen der griechischen Antike und der klassischen lateinischen Epoche. Anne  – Céline Lhuillier schaut in die kleine Runde der Besucher in der 2. Etage des Turms, und wie auch bei anderen Führungen kann sie nicht auf ein persönliches Bekenntnis zu ihrem Meister verzichten:

O TON
Die Philosophie von Montaigne können die Leute gut verstehen.  Große Theorien werden da nicht entwickelt. Montaigne ist eine sehr anziehende Person. Man entdeckt bei ihm immer Dinge, die man noch nicht kannte. Er ist einfach ein selbstbewusster MENSCH, mit seinen Fehlern, mit seinen Grenzen.

musikal. Zusp.

Die Musik aus dem Schlossgarten ist hier oben, in der Bibliothek kaum noch zu vernehmen. Die Führung ist beendet, aber einige Besucher sind geblieben: Ein Psychologe, ein Buddhist und drei Philosophen. Gemeinsam mit Montaigne, der hier in seinem Arbeitszimmer gegenwärtig ist, wollen sie nach den Möglichkeiten eines glücklichen Lebens fragen. Der Gastgeber erinnert an seine wichtigste Überzeugung:

“Was mich betrifft, so liebe ich das Leben und hege und pflege es so, wie Gott es uns zu geben gefallen hat. Wenden wir unsere Gedanken und unsere Vorsätze auf uns selbst und unser Wohlergehen. Entwinden wir uns den leidenschaftlichen Verstrickungen, die uns anderweitig fesseln und uns von uns selbst entfernen”.
Wer sich selbst nicht kennt und sich fremd ist, kann ja niemals SEIN persönliches Glück, SEINEN individuellen Lebenssinn finden. Montaigne will nicht moralisieren oder als Besserwisser auftreten. Seine Einsichten sind nur sanfte Aufforderungen, intensiver das Nachdenken zu üben. Die Besucher  wissen genau, dass seine  Philosophie keine fix und fertigen „Lösungen“, erst recht keine Patentrezepte bieten kann. Der Berliner Philosoph Wilhelm Schmidt Biggemann erinnert die anderen noch einmal an die philosophischen Grundsätze ihres Gastgebers:

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Er beschreibt die Situation der Orientierungslosigkeit angesichts konkurrierender Wahrheitsansprüche und er hat die Vorstellung von Skepsis, dass verschiedene Argumente gegeneinander abgewogen werden können und man kein Urteil zwischen diesen beiden fällen kann.
Der Gastgeber kann dem nur zustimmen.
Schließlich weiß Montaigne nur zu gut, dass Menschen einander alles erdenklich Schlimme antun, in dem Wahn, „die einzige Wahrheit“ zu besitzen und auf der Seite Gottes zu stehen. Dieser Fanatismus prägt ja nicht nur die „Radikalen“ oder die „Fundamentalisten“, er kann den Geist eines jeden vergiften. Heilung bieten nur der Zweifel und das skeptische Fragen. Darin liegt die befreiende Wirkung der Philosophie, betont Montaigne:
“Ich teile die Auffassung des heiligen Augustinus, bei Dingen, die schwer zu beweisen und schwerlich zu glauben sind, sollte man eher dem Zweifel als der Gewissheit zuneigen”.

So kann der Mensch einen klaren Kopf behalten und erkennen: Allein in der Kraft des Denkens und des vernünftigen Handelns kann ein ausgewogenes, friedliches Leben erreicht werden. Wer mit sich selbst im reinen ist, kann auch die anderen respektieren: Toleranz ist für die Vernunft etwas Heiliges. Wer glaubt, die Wahrheit gepachtet zu haben, ist doch oft nichts als ein Scharlatan oder …ein Wahnsinniger. Aber: Erkennen und Denken müssen Konsequenzen haben, meint Montaigne:

“Wenn wir das Rechte TUN, durchströmt uns ein Glücksgefühl, wir sind von einem edlen Stolz erfasst, wenn wir ein gutes Gewissen haben”.

Glücklich ist, wer richtig handelt; wer die Mitte findet zwischen lustvollem Genießen und selbstloser Solidarität. Montaigne macht es vor: Er ist ja selbst alles andere als ein asketischer Kopfmensch ohne Fleisch und Blut. Für den Philosophen spielt die Sinnenlust, wie er sagt, eine große Rolle, um glücklich zu sein: Wie gern trinkt er einige Gläser Wein, und alle seine Freunde wissen, dass er immer wieder Fisch von allen Speisen bevorzugt. Glück ist sozusagen etwas Rundes, eine Harmonie von Leib und Geist, die schönste Form von Lebensqualität. Der Weg dorthin beginnt mit dem Vorhaben, das richtige Maß, das Gleichgewicht zu suchen. Aber diese Harmonie kann nur die Vernunft bewirken! Der Philosophiehistoriker Heinrich Niehues Pröbsting aus Erfurt nimmt den Faden  auf:

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So hat die hellenistische Philosophie die Philosophie ja begriffen, dass man mit dem Denken Therapie betreiben kann. Und woran krankt eigentlich die Seele? Die Seele krankt an falschen Vorstellungen, dass man, um glücklich zu werden, Macht besitzen muss, dass man in der Öffentlichkeit sich erfolgreich darstellen muss, dass äußere Güter für das Glück unbedingt notwendig seien.
Dass wir mit diesen falschen Vorstellungen unser Leben selber unglücklich machen, dass wir diese falschen Vorstellungen aber korrigieren können. Das scheint mir eine unverzichtbare Einsicht zu sein, eine Einsicht, die nicht überholt ist durch moderne wissenschaftliche Psychotherapie.

Es gibt zahllose Vorstellungen und Projekte, Ideen und Ideale, die den Menschen in die Sackgasse führen: Der eine lebt nur für den Sport, der andere nur für den Sex; die eine denkt nur ans Geld, die andere hat nur ihre Schönheit im Kopf: Glücklich können diese Menschen nicht werden, meint Montaigne, denn sie verzehren sich in dem Wahn, ein einziger Aspekt ihres Lebens könne sie zufrieden stellen.

” Ich stelle mir in tausend Gestalten jene Menschen vor, die vom Schicksal oder durch eigene Schuld von sich selbst, von ihrem wahren Leben, weggezogen werden und sich umwirbeln lassen. Das sind Leute, die ihre Zeit wirklich vertreiben, also vergeuden. Sie lassen ihre eigene Gegenwart hinter sich, um sich zu Sklaven der Hoffnung und all der Schatten und Wahngebilde zu machen, die ihre Phantasie ihnen vorgaukelt. Für solche Leute ist Nutzen und Zweck ihres Nachjagens das Nachjagen selbst, das Ziel ihres Mühens ist das Mühen selbst”.
Was wäre der Ausweg? Lasst uns damit beginnen, die  Gegenwart, das Jetzt, den Augenblick, wahrzunehmen und zu genießen, fordert Montaigne seine Gäste auf. Der Buddhist in der Salon-Runde nickt zustimmend.  Arne Schaefer, Lehrer der Zen-Meditation in Berlin, haben die radikalen Worte Montaignes besonders  berührt, weil er Menschen begegnet, die nur in Äußerlichkeiten, mit einem Luxus Auto oder einer Villa am See ihr wahres Glück erhoffen:

O TON,

Der Trip nach Mallorca ist genauso gut wie eine Flasche Champagner zu trinken. Das ist in Ordnung, das ist nichts Falsches.  Die Schwierigkeit, die wir haben, ist: an den Dingen festzuhalten: Wenn die Falsche Champagner leer ist, muss die nächste her. Wenn der Mallorca Urlaub zu Ende ist und ich zurückkehre in meinen normalen Arbeitsalltag, und wieder den Arbeitsabläufen unterworfen bin, dann kommt wieder das Leiden.  Und im Buddhismus gehrt es darum, weder an dem einen noch an dem anderen festzuhalten, sondern sich jedes Mal wieder auf das einzulassen, was gerade ist: Scheint die Sonne, scheint sie. Ist es warm, ist es warm. Regnet es, regnet es. Im Buddhismus sagen wir: Stopp, halt an. Nimm wahr, wie reich dieser Augenblick ist, und dann wirst du merken, das Glück ist nicht weit, das Glück ist direkt vor dir.

Montaigne ist hoch erfreut, dass sein Plädoyer für die Liebe zur Gegenwart, zum Jetzt und zum Augenblick auch von buddhistischer Seite unterstützt wird. Fast möchte er von einer universalen Weisheit sprechen, die über kulturelle und religiöse Grenzen hinweg als gemeinsamer Wert erkannt wird. Aber dann bleibt er doch lieber der bodenständige Lebensphilosoph:

“Der Genuss des Lebens, also das Glück, bedarf des wohlüberlegten Umgangs mit dem Leben. Das Maß des Genusses hängt vom Mehr oder Minder unseres eigenen Zutuns ab. Je kürzer ich das Leben noch besitze, desto tiefer und umfassender muss ich mich ihm widmen”.
Kurz und begrenzt sei das Leben der Menschen doch eigentlich immer, erwidert der Psychotherapeut in der Runde. Selbst jungen Menschen vergehe die Zeit zu schnell. Sie bekämen es mit der Angst zu tun, wenn sie sehen, dass alles auf den absolut sicheren Tod hinausläuft. Wie lässt sich das Leben genießen, wohl wissend, dass es endlich ist? Konzentriere dich aufs Wesentliche, sagten schon die griechischen Philosophen. Diesen Ratschlag greift der  Psychotherapeut Günter Funke auf seine Weise auf.

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“Es gibt ein Verklammert-, Verhaftet Sein in der Vergangenheit, es gibt aber auch eine Fixierung in die Zukunft, und dann werde ich nicht achtsam auf den Augenblick. Der Augenblick hat in sich hat die Fülle. Auch der Augenblick wird mir erschlossen, eröffnet von meinem Lebendigsein als meinem Empfinden. Deshalb haben die Mystiker immer gesagt, dass das Leben selbst die Quelle des Glücks ist. Sich seiner selbst und seines Lebens gegenwärtig werden, das ist der erste Schritt zum Glück.  Darauf läuft es ja letztendlich hinaus, das Glück nicht in irgendeinem Außen zu suchen, also nicht in dieser Vorstellung, nicht in diesem Urlaub, nicht hier oder dort. Man muss dem Glück auch in die Tiefe folgen, Glück ist nicht eine Eintagsfliege”.
Auf die Kraft des eigenen Nachdenkens vertrauen, das muss aber nicht heißen, ein gefühlskalter Vernunftmensch zu sein –  diese Grundüberzeugung Montaignes möchte der Psychotherapeut Günter Funke vertiefen:

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Ich finde nicht, dass man Denken mit dieser coolen, kühlen Rationalität gleichsetzen sollte. Denken ist ein ganzheitlicher lebendiger Vollzug meines Seins, natürlich unter Vorgabe, dass ich mich von mir distanzieren kann, dass ich beurteilen kann, dass ich kritisch bin, unterscheiden kann. Zum Beispiel kann ich mir denken, dass es doch besser ist das Tiefenglück anzustreben und nicht dem Oberflächenglück meine Zeit und meine Kraft und meine Gesundheit zu opfern.

Wer glücklich leben will, muss die Kunst des Unterscheidens lernen:  Und dazu gehört, dass wir Glück eben nur „als“  Glück erleben können, wenn wir immer auch die andere Seite des Lebens, das Unglück, das Scheitern, das Belastende bewusst erfahren. Wer mit dem Unglück richtig umgeht, ist schon auf dem Weg zum Glück. Darauf weist der Buddhist Arne Schaefer nachdrücklich hin.

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Die Leiderfahrungen sind auch notwendig. Unser Zenmeister hat immer gesagt: Eine schlechte Situation, ist eine gute Situation, weil wir anfangen uns zu hinterfragen, was unserer Gewohnheiten sind, wie wir unser Leben leben.
Und wenn ich an dem Punkt bin, dann halte ich inne, und das ist entscheidend.  Es geht darum, die Dinge anzunehmen, sie zu akzeptieren, was nicht heißt: Dinge nicht zu verändern, die ich verändern kann. Das ist ganz wichtig. Es geht um ethische Verantwortung, es geht einerseits darum eine Erkenntnis, Erfahrung zu machen, aber auch daraus verantwortlich zu handeln.  Ich werde es lernen, dass mein persönliches Glück nur möglich ist, indem andere Menschen in meinem Umfeld glücklich sind. Anders geht es nicht.

Musikal. Zuspielung

Vom Schlosshof her ist die Musik im Salon von Montaigne wieder zu hören. Den Gästen kommt die kleine Unterbrechung sehr gelegen, bevor sie sich auf ein neues Thema einlassen: Wie kann denn der Mensch das Glück der anderen wirksam fördern? Montaigne selbst ist offen und ehrlich wie immer und gesteht zunächst ein, dass ihm das Nachdenken allein in seinem Turm ungleich viel mehr Glück bereitet als draußen in der Gesellschaft aktiv zu sein. Aber immerhin kann er sich zu Gute halten, dass er sich schon als junger Mann im Amte des Stadtrates von Bordeaux um das Wohl der Bürger gekümmert habe. Und vor allem kann er darauf verweisen, dass er vier Jahre lang als  Bürgermeister von Bordeaux tätig war, zur Zufriedenheit der Bürger übrigens, wie er nicht ohne Stolz erwähnt. Allerdings hat er selbst auch negative Erfahrungen gemacht:

“Die Gesetze werden oft von Hohlköpfen gemacht und noch öfter von Leuten, die die Gleichheit aller Menschen hassen und dabei ihres Sinnes für die Gerechtigkeit beraubt werden. Diese Gesetzgeber sind windige und wetterwenderische Macher”.
Die Teilnehmer im Salon de Montaigne sind erstaunt: Ihr Gastgeber kritisiert auch die politischen Verhältnisse.

“Ich finde die Gemeinwesen am gerechtesten, die am wenigsten Ungleichheit zwischen Oben und Unten in der Gesellschaft, sagen wir zwischen Vorgesetzten und Untergebenen, zulassen”.
Aber wie kann es denn gelingen, den Egoismus zu überwinden, damit die „Eigeninteressen“ mit dem Wohl der Allgemeinheit in ein gerechtes, ausgewogenes Verhältnis geraten? Die Lehren vom glücklichen Leben, als Erkenntnisse der Vernunft, müssen mit der Alltagspraxis verbunden werden, sie müssen in Fleisch und Blut übergehen, meint der Psychotherapeut Günter Funke:

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Viele verwechseln Denken mit Information. Wir sind bestens informiert. Wissen alleine ist ja noch kein Denkakt. Deshalb glaube ich, dass  der Denkakt bedeutet: Das Wissen in eine solche Tiefe zu führen, dass es mich so berührt, dass ich nicht mehr ausweichen kann. Und dem muss ich mich auch stellen. Dann ist es ein Ergriffensein, von den Denkinhalten ergriffen sein. Da muss ich auch den Denkinhalten nachgehen, auch  meditativ nachgehen, und mich von vielem anderen auch weg halten.

Lebens-Philosophie muss eingeübt werden, wenn die Vorstellungen vom Glück nicht bloß Worte bleiben sollen. Philosophie wird nur so zur Lebenshilfe. Sie ist Weisheit, die „verinnerlicht“ werden soll; daran glaubten schon die Philosophen im antiken Griechenland, betont Heinrich Niehues – Pröbsting :

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Mir ist dieses deutlich geworden an einer Stelle im Gorgios, wo der Sokrates zum Trasymachus sagt: Wenn wir das selbe noch mehrmals erwogen haben, dann könntest du es auch einsehen. Trasymachus hat den sokratischen Gedanken rational nachvollzogen, aber trotzdem leuchtet er ihm nicht ein, was er da nachvollzogen hat. Damit der rationale Nachvollzug zu einer wirklichen Einsicht kommt, muss man diesen Gedanken immer wiederholen, das sind Techniken, meditative, asketische Techniken, Übungen, damit diese Rationalität auch zu einer wirklich lebensgestaltenden Kraft wird.
Wie werde ich glücklich? Wie kann ich mich dauerhaft von oberflächlichen Vorstellungen befreien, wie kann ich mich an das bleibende Glück dauerhaft binden? Arndt Schaefer, der Zen- Buddhist, hat Ratschläge für Menschen, die nicht nur reflektieren wollen:

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Wenn ich innehalte, wenn ich zur Stille komme, wenn ich z.B. mich hinsetze und für 10 Minuten nur achtsam auf meine Atmung achte, ganz aufmerksam für den Augenblick bin und merke: Oh, Jetzt ist eigentlich alles da, was ich brauche, ich bin vollständig
Man braucht also nicht unbedingt die populären „Anleitungen fürs Lebensglück“ oder esoterische Berater mit Geheimlehren; überflüssig die Wellness-Oasen, die für teures Geld dank  exotischer Therapien ein „tolles“ Wohlbefinden versprechen: Jeder Mensch kann sich selbst um sein eigenes Glück ganz praktisch kümmern, denkend, nachdenkend, meditierend. Montaigne will das noch zuspitzen:

“Hier in meinem Turm bin ich ganz zu Hause. Hier kann ich mich mal der ehelichen und der väterlichen Gemeinschaft entziehen. Überall sonst bin ich mein eigener Herr nur dem Namen nach, in Wirklichkeit aber redet mir jeder dazwischen. Arm dran ist, wer bei sich zu Hause keinen Platz, keinen Ort  hat, wo er bei sich selbst, bei sich Zuhause sein kann, wo er sich verbergen, wo er mit sich selbst Hof halten kann”.
Eine schöne Formulierung: „Mit sich selbst Hof halten“, also sein eigenes Leben feiern, sich des Daseins freuen, trotz aller Grenzen und Schicksalsschläge: Und dieses Fest mit sich selbst findet im Abseits, in der Stille, in Einsamkeit statt: Für Günter Funke liegt hier das Geheimnis philosophischer „Glückstherapie“:

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Wenn das jetzt nicht missverstanden wird als eine Weltflucht, würde ich sagen: nur im Rückzug kann man Glück finden. Das Glück liegt nicht in der Welt, es  liegt im Leben selbst. Und da gibt es ganz verschiedene Formen, der eine zieht sich in seine Klosterzelle zurück, der andere in seinen Turm, der andere in die Meditation. Im Rückzug liegt die Fülle.

MUSIK einblenden
Die Teilnehmer im philosophischen Salon de Montaigne sind zufrieden. Ihre gemeinsame Glücksforschung hat gute Ergebnisse erbracht – sie sind nicht empirisch beweisbar oder naturwissenschaftlich verifiziert. Wahr sind sie dennoch, weil sie aus der menschlichen Vernunft selbst stammen und nicht von angeblich höheren Einsichten und Offenbarungen. Philosophie als Lebensweisheit bleibt offen für weitere Diskussionen und neue Fragestellungen. Sie kann Hilfen bieten, die sonst nur von Religionen und Kirchen erwartet werden. Im Salon Montaignes wird der ursprüngliche Sinn des Philosophierens wieder entdeckt, meint der Berliner Autor Wilhelm Schmid:

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Die Philosophie war die Urheberin der Seelsorge, das war ursprünglich gemeint mit der Seelsorge: Sorge für das je eigene Selbst. Der oberste Punkt ist, dass ein Mensch seine Wahl trifft. Ja: ich möchte mich um mich sorgen, oder nein, ich möchte mich nicht um mich sorgen. Und auch das Zweite ist jederzeit möglich. Und ich werde nicht hergehen und sagen: Du musst aber anders. Nein, man kann das Leben auch so dahin gehen lassen. Man sollte höchstens zu bedenken geben: hast du dir schon überlegt, was die Konsequenzen dessen sind, wenn du das Leben so dahin gehen lässt.
Mit dieser Einschätzung kann auch Montaigne gut leben… Zum Abschied gibt er  seinen Freunden noch ein Wort mit auf den Weg:

“Lasst uns nur auf uns selber hören, da erfahren wir alles, was wir im Wesentlichen brauchen”.

Die Zitate Montaignes sind dem Buch „Essais“ von Michel de Montaigne entnommen. Erschienen im Eichborn Verlag Frankfurt am Main 1996, in  der mustergültigen Übersetzung von Hans Stilett.