Die Fragen stellte Christian Modehn.
Die Wahrheit sagen und ihr im Tun entsprechen erfordert zunächst Unterscheidungen: So ist es nicht etwa ethisch gut, wenn ich eine mathematische Wahrheit ausspreche: 2 plus 2 ist zusammen 4. Mathematik hat in dem Sinne mit Moral nichts zu tun. Hingegen ist Wahrhaftigkeit eine Tugend, wenn es um mein Leben und das Leben mit anderen in der Gesellschaft geht. Warum ist es dann also böse („gegen die Tugend“), sich persönlich der Bindung an Wahrheit zu entziehen, indem man sagt: Alle Erkenntnis ist doch sowieso relativ; ich kann über mich und andere sagen, was ich will?
Es ist so, alle Erkenntnis ist relativ, standpunktbezogen, perspektivisch, von historischen, sozialen und kulturellen Kontextbedingungen abhängig. Allerdings, schon indem wir sagen: Alle Erkenntnis ist relativ, machen wir die mit Wahrheitsanspruch verbundene Aussage, dass dies wirklich so ist. Selbst indem wir die Wahrheit relativieren, kommen wir also nicht umhin, auf sie zu setzen. Das Eingeständnis der Relativität der Wahrheit schränkt somit die Geltung der Wahrheitswertdifferenz in keiner Weise ein. Sie steht vielmehr gegen die hypertrophe Behauptung, es könne eine absolute Wahrheit geben. Die gibt es für uns Menschen in unserem geschichtlichen, endlichen Dasein nicht. Das bedeutet aber keineswegs, dass wir nicht nach der Wahrheit streben sollen. Im Gegenteil, all unser Reden und Tun lebt im Grunde vom Streben nach der Wahrheit. Wenn wir etwas sagen oder in unserem Handeln auf etwas aus sind, dann nehmen wir gleichsam wie selbstverständlich in Anspruch, dass wir etwas der Wirklichkeit entsprechendes sagen und auf etwas Realitätshaltiges aus sind. Anders macht unser Reden und Tun weder für uns selbst noch für andere irgendeinen Sinn.
Wahrhaftig zu sein bedeutet demnach, zur Wahrheit dessen zu stehen, was wir nach bestem Wissen und Gewissen sagen und tun. Wahrhaftig zu sein, ist tatsächlich eine Tugend, also ein moralisch verantwortliches Tun des Guten. Denn es versteht sich keineswegs von selbst, dass wir zu dem mit unserem Reden und Tun immer schon verbundenen Anspruch auf Wahrheit auch stehen, wir uns bewusst zu diesem Anspruch verhalten und die unter Umständen unangenehmen Konsequenzen zu tragen bereit sind.
Es ist moralisch gut, wahrhaftig zu sein; so zu reden und zu handeln, dass wir dies nach bestem Wissen und Gewissen zu tun. Das bedeutet nicht, dass wir nicht irren können, denn wir sind und bleiben fehlbare Menschen, die nicht im Besitz der absoluten Wahrheit sind.
Böse ist es dann jedoch, sich – wie Sie sagen – „persönlich der Bindung an Wahrheit zu entziehen“. Denn dann rede und handle ich so, dass ich absichtlich dem widerspreche, was ich nach meiner eigenen Einsicht und Überzeugung zu sagen und zu tun hätte. Ich bin im Grunde mir selbst gegenüber unehrlich. Insofern kann man dann aber auch sagen, dass schon die Selbstachtung es von uns verlangt, wahrhaftig sein zu wollen.
In den Erzählungen über Jesus von Nazareth, in den Evangelien, ist von Wahrheit und Wahrhaftigkeit die Rede, etwa wenn Jesus (im Johannesevangelium) sagt: „Die Wahrheit wird euch frei machen“. Was bedeutet dieser ethische Impuls für den einzelnen?
Dieses Wort Jesu aus dem Johannesevangelium (Joh 8, 32: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen!“) verstehe ich so, dass nur das Vertrauen auf die Wahrheit oder, so können wir auch sagen, der Glaube an die Wahrheit, uns zu einem freien, d.h. selbstbestimmten Reden und Tun befähigt. Weil wir als endliche und fehlbare Menschen nicht im Besitz der absoluten Wahrheit sind, müssen wir an die Wahrheit glauben. Im Glauben an die Wahrheit gewinnen wir den Mut, zu sagen, was wir denken, auch wenn es der gerade gängigen Meinung widerspricht und zu tun, was wir für richtig halten, auch wenn es persönlich unangenehme Konsequenzen haben sollte. Dies einzusehen, reicht jedoch zum Verständnis des Wortes Jesu wie dann auch der Bedeutung, die es für ein in Wahrhaftigkeit geführtes Leben hat, noch nicht aus. Wir müssen das andere Wort Jesu aus dem Johannesevangelium hinzunehmen, Joh 14,6, wo Jesus sagt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ Denn dann erst gewinnt der Glaube an die Wahrheit jenen Inhalt, der ihn davor schützt, in eine möglicherweise doch unmenschliche Rechthaberei zu geraten. Zu sagen, was ich denke, und zu tun, was ich für richtig halte, ist ja nicht per se gut.
Wenn Jesus jedoch von sich selbst sagt, dass er selbst die Wahrheit ist, indem er den Weg zu ihr als einer lebensdienlichen Wahrheit zeigt, dann gibt er damit den klaren Hinweis, wie wir die uns frei machende Wahrheit sollen finden können: Indem wir dem Weg folgen, den Jesus selbst gegangen ist. Das aber ist der Weg der Liebe und der aufopferungsvollen Hingabe!
Die uns frei machende Wahrheit lässt uns zu dem stehen, was wir denken und tun, was wir für richtig halten. Dennoch sind wir nur dann in dieser Wahrheit, wenn sie dem Leben dient, denen vor allem, die schwach, arm und unterdrückt sind, neue Lebenschancen eröffnet.
Dieser ethische Impuls hat auch gesellschaftliche und politische Auswirkungen: Lügen sind für die Gesellschaft zerstörerisch, gegebene Versprechen nicht einhalten ebenso: Denn aller Zusammenhalt der Menschen zerbricht dann. Also sollte sich der einzelne förmlich auch „opfern“, wenn er im Kreis von Lügnern und diplomatisch mit der „Wahrheit“ Hin – und Herjongliern tatsächlich die Wahrheit sagt?
Jesus ist bekanntlich den Weg sich aufopfernder Hingabe gegangen, bis zum Tod am Kreuz. Er ist diesen Weg gegangen, weil er den Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt durchbrechen und Verhältnissen zum Durchbruch verhelfen wollte, in denen Menschen liebevoll und barmherzig miteinander umgehen. Dies auch tun können, weil sie ihr Vertrauen auf einen Gott, der die Liebe und damit zugleich die Wahrheit ist, miteinander verbindet.
Wenn wir uns an Jesus orientieren, dann sehen wir vielleicht auch für uns eine Möglichkeit, zur Wahrheit zu stehen, zu dem, was wir selbst zu sagen und zu tun als richtig erachten – auch dann, wenn es in schwierige Situationen bringt und uns Opfer abverlangt, an Ansehen, Anerkennung, vielleicht auch Freundschaften kostet.
Dass solche „Opfer“ angesichts der Spaltungen, die in unserer Gesellschaft im Zusammenhang der Flüchtlingskrise und eines neuen Rechtsrucks aufgebrochen sind, schnell abverlangt werden können, liegt auf der Hand. Aber wiederum, wenn wir uns an Jesus und dem Weg der Wahrheit, den er in Liebe gegangen ist, orientieren, dann versuchen wir zu unserer Überzeugung zu stehen, ohne andere als Personen herabzuwürdigen. Das ist manchmal nicht leicht. Aber mit dem Vorwurf der Lüge (npresse) wird leider von allen Seiten gearbeitet.
Was uns in unserer zerstrittenen Gesellschaft weiterhilft, ist in der Tat, auf liebevolle, hingebungsvolle, aufopferungsvolle Weise zur eigenen Einsicht in die Wahrheit, die die Liebe ist, zu stehen.
Copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin