Grundvertrauen – die wahre Religion der Menschheit
Interview mit Prof. Wilhelm Gräb, Humboldt Universität zu Berlin
Die Fragen stellte Christian Modehn, Religionsphilosophischer – Salon Berlin
Veröffentlicht am 30.9.2012
Es wird heute immer schwieriger, von persönlichem Leid einmal ganz abgesehen, in einer von Gewalt und Ungerechtigkeit geprägten Welt noch die Zuversicht zum Leben zu bewahren oder zu entwickeln. Sehen Sie Möglichkeiten, theologisch und religionsphilosophisch Wege zur (gar nicht oberflächlich gemeinten) Lebensfreude zu zeigen?
Es gibt im Leben eines jeden Menschen doch auch die erfüllen Augenblicke, die besonderen Erlebnisse, in denen sich die Schönheit der Welt und der unendliche Reichtum des Lebens zeigen. Natürlich bedrängt und bedrückt uns das andere, das Sie ansprechen, das persönliche Leid, Gewalt und Ungerechtigkeit überall. Wer könnte davor die Augen verschließen und wer wäre nicht selbst auch immer wieder von all dem betroffen, was das Leben schwer und die Welt hässlich macht? Dennoch frage ich mich, ob ich mich in meinem Lebensgefühl verstanden fühle, wenn man mir unter Vorhaltung all des Schrecklichen, das geschieht, meint die Lebensfreude absprechen zu müssen.
Es sind für mich zunächst einmal die glücklichen Momente, die nach einer religiösen Deutung verlangen. Dann spreche ich vom Wunder des Lebens, vom göttlichen Geheimnis der Welt oder vom Reichtum von Gottes Schöpfung. Aber auch wenn mich das Unglück trifft oder ich sehe, wie andere Menschen um ihr Lebensrecht betrogen werden, dann frage ich doch, was mir die Kraft gibt – so ich sie finde und hoffentlich finde ich sie – durchzuhalten, vor der Krankheit oder dem Verlust eines geliebten Menschen nicht zu kapitulieren, dagegen anzukämpfen und wieder nach vorne zu sehen? Was macht es, dass mich das Elend anderer Menschen bedrängt und ich mich anrühren lasse von dem Schmerz, den sie erleiden müssen? Irgendwie habe ich das Empfinden, dass meine Lebenszuversicht gewissermaßen jeden Morgen wieder neu in mir erwacht. Sie ist einfach da – weiß nicht woher. Auch mein Mitgefühl mit denen, die im Elend sind, die Empfindung, dass ich helfen muss, wenn ich es kann.
Was ich sagen möchte, ist, dass ich mich in meinem Selbstgefühl nicht richtig verstanden fühle, wenn ich vor allem oder gar ausschließlich auf das Negative angesprochen werde. Insbesondere in meinem religiösen Selbstgefühl weiß ich mich dann nicht getroffen. Nein, ich übersehe nicht das Negative in der Welt, auch nicht im eigenen Leben. Aber ursprünglicher und kräftiger spüre ich die Freude am Leben, habe zudem den Eindruck, dass ich aus einem geradezu unerschütterlichen Grundvertrauen heraus lebe. Und ich frage: Ist dieses Grundvertrauen nicht in allen da, leben wir nicht alle aus einer merkwürdigen Selbstgewissheit? Zeigt sich dies nicht schlicht schon daran, dass wir jeden Morgen wieder aufstehen als lohne es sich – selbst dann, wenn es gar nicht danach aussieht.
Zudem gibt es doch wirklich diese erfüllten Tage, die glücklichen Erlebnisse, Begegnungen mit Menschen, mit der Natur, mit Kunst, mit Musik, Erfahrungen, in denen wir unmittelbar empfinden, welch ein Glück es ist, leben zu dürfen, dies jetzt erleben zu können. Solche Augenblicke, in denen wir die Welt umarmen möchten, sie geben uns einen Vorgeschmack der Ewigkeit. Sie lassen uns an den Sinn unseres Lebens glauben. Sie halten die Hoffnung auf die Vervollkommnung der Welt lebendig. Sie stärken in uns den Mut, weiter zu gehen, auch wenn das Lebensgelände holprig wird.
Welch ein Glück! Wie wunderschön! Einfach Großartig! Auf diese Weise bekunden wir unser freudiges Erstaunen, wenn uns die Welt entgegenkommt und wir zugleich in ihr aufgehen. Wir genießen das gute Essen und den guten Sex. Wir genießen eine gelungene Musikaufführung, einen Museumsbesuch oder einen Kinoabend, eine Zusammensein mit Freunden und vieles andere mehr. Wer zu genießen versteht, der hat, wie wir zu Recht sagen, schlicht mehr vom Leben.
Wir können uns dem Genuss freilich auch verschließen. Wir können ihn moralisch und sogar religiös disqualifizieren. Das alles ist in der Frömmigkeitsgeschichte des Christentums geschehen und geschieht immer noch. Dann wird der Genuss, die Freude am Essen und an der Sexualität, am freien Spiel der Musik und an den Bildern der Kunst, ja sogar das Lachen als sündhafte Weltverfallenheit verteufelt. Mit der Fähigkeit, sich am Leben zu freuen – und es ist eine menschliche Fähigkeit – verträgt sich keine Leibfeindlichkeit. Denn nur wer seine gottgegebenen Sinne öffnet, ist fähig dazu, das Leben zu genießen und sich am Leben zu freuen.
Die Religion bremst, sofern sie nicht missverstanden wird, den Genuss des Lebens nicht ab. Sie verdirbt die Lebensfreude nicht. Im Gegenteil, die Religion vertieft die Lebensfreude, weil sie uns in Kontakt bringt mit dem göttlichen Grund, aus dem heraus die Freude in uns aufkommt – unverfügbar und deshalb so wunderbar. Immer wieder neu schenkt sie uns den „Mut zum Sein“ (Paul Tillich), stärkt sie die tätigen Hände, die eine verbesserliche Welt braucht.
Welche Rolle spielen Gemeinschaften für Menschen, die Lebenssinn und Lebensfreude (wieder) entdecken wollen?
Es geht kaum, eigentlich gar nicht, allein zu feiern. Um das Leben zu genießen, dazu brauchen wir andere Menschen, mit denen wir gern zusammen sind. Dann haben wir uns etwas zu erzählen. Und dabei kommt Freude auf. So stelle ich mir deshalb am liebsten auch die Gemeinschaft der Religiösen vor oder solcher, die gerne zu einer religiösen Gemeinschaft gehören würden, wenn es dort nur nicht immer so traurig zuginge. Natürlich, nicht immer ist uns zum Lachen zumute, ganz gewiss nicht. Aber wenn wir traurig sind, dann brauchten wir ja noch sehr viel dringender eine Gemeinschaft von Menschen, die uns Positives über uns zu verstehen geben. In persönlichem Leid und angesichts des Unrechts in der Welt ist die Gemeinschaft mit anderen, die uns zu verstehen versuchen, unerlässlich. In ihr finden wir die Kraftquellen wieder, die in uns sind, die in einem jedem Menschen sind – sofern wir uns nur in der rechten Weise zu verstehen gegeben werden, als Menschen, die getragen sind vom göttlichen Wärmestrom der Liebe.
Offenbar hat auch das Christentum im Laufe seiner Geschichte dafür gesorgt, dass Lebensfreude nicht im Mittelpunkt der Lebensgestaltung steht. Sollten sich religiöse Menschen heute darum befreien von Angst machenden und Schuld erzeugenden dogmatischen /christlichen/ Lehren?
Ich finde, der christliche Glaube ist überall dort komplett missverstanden, wo ihm ein negatives Menschbild entnommen und der Mensch zum verlorenen Sünder erklärt wird. Wo theologisch so gedacht wird, da stehen kirchliche Gemeinschaften immer in der Gefahr, dass sie das, was Menschen in sich empfinden, ins Unrecht zu setzen, ihre Lebenslust, ihre Sexualität, ihre Liebe und Lebenszuversicht, die in ihnen aufkommende Freude am Dasein. Wir alle wissen von den schrecklichen Folgen, die diese aufs Negative im Menschen fixierte theologische Denkungsart in den Erziehungspraktiken kirchlicher Kinderheime, um nur ein Beispiel zu nennen, hatte und hat.
Im Zentrum des christlichen Glaubens steht das Evangelium, die Rechtfertigung des Sünders, die Zusage der bedingungslosen, von Jesus vorgelebten, Liebe Gottes. Wer auf die christliche Botschaft hört, der wird gerade nicht zum verlorenen Sünder, sondern dem wird warm ums Herz, der fühlt, wie der Wärmestrom der göttlichen Liebe, der ihn trägt, zugleich durch ihn hindurchfließt. Christlich ist nicht die Verurteilung des Sünders, sondern dessen Anerkennung, die Zusage, das Gott das Herz ansieht. Wo Angst vor Sündenstrafen gemacht und zum Schuldbekenntnis aufgefordert wird, ist Gott fern. Gott ist da im Wärmestrom der Liebe, der uns alle trägt und aus dem uns allen die Freude am Leben letztlich zuströmt, jeden Morgen wieder neu.
Was halten Sie von dem immer wieder vorgebrachten Einwurf, „die Religionen“ insgesamt seien heute Schuld an der Misere (Gewalt) dieser Welt?
Dass Gott in jedem Menschen lebendig ist, dass er die Quelle der Kraft ist, aus der uns unverfügbar der Lebensmut und die Lebensfreude zuwachsen, macht die Religion zu einer so starken Kraft im Leben jedes Menschen. Sie ist, so gesehen, in aller Menschen Herz nur eine. Das in allen Menschen lebendige Grundvertrauen ist die wahre Menschheitsreligion. Diese hat freilich keine Sprache. Die Menschheit spricht viele verschiedene Sprachen, auch viele religiöse Sprachen. Das muss sie aber nicht gegeneinander aufbringen. Was sie voneinander verschieden macht ist ihre Sprache und damit das, was sie uns über uns selbst zu verstehen geben. Die Sprache der Religionen hat sich im Laufe der Geschichte verändert. Es gibt in allen religiösen Traditionen Zuschreibungen an uns Menschen, die wir nicht mehr anerkennen können und wollen. Dazu gehört, wenn sie den Anspruch auf absolute Wahrheit erheben und feindselige Unduldsamkeit gegen andere Überzeugungen verbreiten. Ich finde, die Lebensweisungen der Religion sollten heute mit dem aus der Aufklärung hervorgegangen Humanitätsdenken zusammengehen – und dass sie das auch können, zeigt sich zur Genüge. Dann treten sie für eine Ethik der Menschwürde und der Menschenrechte ein. Nicht nur das Christentum, auch andere Religionen, auch der Islam, sind an das aufgeklärte Menschenrechtsdenken anschlussfähig. Dann vollziehen sie die entsprechende Umformung ihrer Traditionen.
Weil die Religion eine Herzensangelegenheit ist, ist allerdings auch ihrem Missbrauch für politische Machtinteressen – die ebenso von religiösen Institutionen verfolgt werden können – Tor und Tür geöffnet. Dennoch, nicht die Religion – dieses Daseinsvertrauen, das in aller Menschen Herz nur eines ist – ist schuld an der Misere der Gewalt in dieser Welt, sondern der politische Missbrauch, der mit religiösen Lehren dort getrieben wird, wo diese der Festigung religiöser oder politische Macht, nicht aber der Verständigung über die religiös grundierten Lebensinteressen der Menschen dienen.
Warum brauchen wir für das Miteinander in dieser globalen Welt der Vielfalt die Grundüberzeugung: Eigentlich sollten sich die Menschen immer an die Vernunft halten? Also an das Gespräch, das Miteinander?
Wo Menschen wirklich miteinander ins Gespräch kommen über das, was sie als Menschen betrifft und angeht, dort ist auch – trotz der Verschiedenheit ihrer religiösen Sprachen –Verständigung möglich. Es käme nur darauf an, zu erkennen, dass die religiösen Sprachen genau das wollen, uns über uns selbst zu verständigen, darüber, was es heißt, menschliche Menschen zu sein. Das würde in der Tat bedeuten, sich an die Vernunft zu halten, in religiösen Dingen nur noch dasjenige zu akzeptieren, was uns aus freier Einsicht einleuchtet. Religiöse Botschaften, die Hass schüren und Mörderbanden den Weg bereiten – wie könnten sie vernünftig sein? Wie könnten wir ihnen anhängen wollen?
Wenn man Ihre Antworten wahrnimmt, könnte man denken: Eigentlich bräuchten wir eine neue, eine „einfache“ und menschlich – großzügige Theologie, eine „liberale Theologie“?
Die Theologie, die wir brauchen, ist in der Tat eine solche, die uns unsere Menschlichkeit zu verstehen gibt, die uns Menschen sein lässt, die sich freuen und die der Zorn packt, die Erfolg haben und scheitern, zu den Glücklichen gehören und vom Unglück getroffen werden. In dem allem dankbar für einen unwahrscheinlichen Willen zum Leben, für großes Vertrauen in unsere Möglichkeiten, aufs Gelingen hoffend, auch wenn Enttäuschungen nicht ausbleiben. Nicht ums permanente Anders- und Neuwerden geht es dieser Theologie, sondern darum, dass wir uns in dem verstehen, was wir sind und wie wir sind – dann noch, dass wir den Dank aussprechen und die Adresse finden, an die er zu richten ist.
Copyright: Prof. Wilhelm Gräb, Berlin
Religionsphilosophischer-Salon Berlin.