Die liberale Theologie lebt. Literarische Zeugnisse für eine neue religiöse Perspektive

Die liberale Theologie lebt. Zeugnisse aus Kunst, Musik, Literatur, Film … für eine neue religiöse Perspektive

Von Christian Modehn

Zu diesem Artikel, der hoffentlich bald umfangreich wird und Diskussionen fördert, aber immer Essay bleibt, wurde ich angeregt ausgerechnet von dem obersten römischen dogmatischen Glaubenswächter Kardinal Gerhard Ludwig Müller (zuvor Erzbischof von Regensburg und bleibender Ratzinger-Getreuer): Er hat in der katholischen Tageszeitung „Deutsche Tagespost“ einfach verkündet: „Die Lebenswirklichkeit ist keine Offenbarungsquelle“, so in einem Interview vom 28. März 2015, das weltweit verbreitet wurde, unter anderem auch auf der konservativen www.kath.net. http://www.kath.net/news/50039

Eine neue liberale (protestantische, vielleicht später auch einmal explizit katholische) Theologie plädiert genau für das Gegenteil: Die Lebenswirklichkeiten eines jeden Menschen, das Aussprechen seiner Lebenserfahrungen, verbal oder non-verbal, sind Offenbarungsquellen, also mitten im geistvollen Leben “lebt” das Göttliche/Gott und Menschen finden dafür den ihnen eigenen Ausdruck..

Das heißt: In jedem Leben offenbart sich auf eine individuelle Art und in persönlichen Worten Gott. Und jeder drückt diese Wirklichkeit anders aus, als Kunst, als Musik, als Poesie, als politisches radikales Engagement, als stilles Dulden, als Schweigen, als hilfloses Suchen usw. Und das hat bitte jeder und jede, selbst Kardinal Müller, zu respektieren. Er sitzt doch nicht auf dem Thron der Weisheit. Da haben ihn einige Fromme hingesetzt, damit sie zu etwas Exklusivem aufschauen können..

Dabei wird liberale Theologie vorschlagen, dass die unterschiedlichen (religiösen) Menschen miteinander ins Gespräch kommen. Das ist der Sinn der christlichen Gemeinde: Religiöse Menschen miteinander in ein (selbst)kritisches Gespräch einladen, damit sie besser und tiefer ihre eigene Lebensphilosophie, die nun einmal jeder hat, bzw. ihren je eigenen Glauben wahrnehmen. Diese Theologie hat Schleiermacher vertreten. Eine solche Gesprächsrunde (also Kirche) will niemals Missionierung betreiben, sondern die Vielfalt der Meinungen wird als Geschenk erlebt.

Diese Erkenntnis verdanke ich dem Berliner Theologen Wilhelm Gräb, Humboldt Universität, er ist mit dem Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin freundschaftlich verbunden und hat dieser website schon zahlreiche Interviews gegeben. Sie sind unter www.religionsphilosophischer-salon.de nachzulesen, klicken Sie hier.

Als Motto soll über unserem (Langzeit)-Projekt ein Wort von Wilhelm Gräb stehen: “Vom heutigen Glauben und dem, was die Menschen als ihren eigenen Glauben zuzumessen bereit sind, gilt es auszugehen. Es gilt, den Glauben zu durchdenken, der ein souveräner Glaube ist, ein Glaube, den die Menschen selbst hervorbringen, aus den Bezügen ihres Lebens”. (in: dem empfehlenswerten Buch von Wilhelm Gräb, “Glaube aus freier Einsicht”. Gütersloher Verlagshaus 2015, S. 12 f.)

Zur Methode unseres Projekts:

Es gilt, zahlreiche Lebensberichte, “Lebensbeichten” oder bloße Interviews aufmerksam zu lesen und herauszuspüren, wie sich da, jeweils persönlich sehr verschieden, der Sinn des eigenen Lebens oder der erlebte Sinn von Welt ausspricht oder der Wille, sich an die eigene Basis-Überzeugung „absolut“ zu halten. Es soll sozusagen, die bei immer schon gelebte Spiritualität dokumentiert werden. Eine solche Dokumentation von individuellen Lebens-Sinn-Geschichten ist keine Vereinnahmung in eine Kirche hinein. Diese Dokumentation ist nichts als die Wahrnehmung aus einer liberal-theologischen und dann auch religionsphilosophischen Perspektive, dass die Lebenswirklichkeit eben doch die Offenbarungsquelle des Göttlichen ist. Das gilt, selbst wenn manche Menschen sicher aus Abwehr gegenüber allem Kirchlichen von Göttlichem in ihrem Leben eher nicht sprechen wollen, weil Gott zu sehr mit der Institution Kirche konnotiert ist. Trotzdem kann ein Betrachter „von außen“ dann doch Gott/Göttliches im jeweiligen Leben wahrnehmen und als solches benennen, ohne diese Sprache dann den anderen aufzudrängen.

1.

Sehr viel Aufmerksamkeit verdient das Interview in „DIE ZEIT“ vom 26. 3. 2015 (Seite 45) mit dem Autor und Theatergründer (in Maputo) HENNING MANKELL. Das Interview bezieht sich vor allem auf die Krebserkrankung Mankells. Angesichts des eigenen Todes sagt er:
„Dass ich mich vor dem Sterben nicht fürchten muss. Man geht über in etwas anderes. In meinem Fall: in die Dunkelheit, für religiöse Menschen in das Paradies, was auch immer. Wir gehen in verschiedene Richtungen, aber wir gehen…“

Dann erinnert sich Mankell an Johann Sebastian Bach, der eines Tages nach Hause kam und seine Frau sowie zwei Kinder waren gestorben. „Wie Luther war Bach ein Mann, der die Erotik liebte, und auch für mich ist die Erotik die wahre Freude des Lebens. Es ist das Wundervollste des Lebens. Unvergleichlich“.

Das Wundervollste im Leben: Gibt es etwas Größeres als dieses? Erlebt ein Mensch bei dem Wundervollsten das, was in anderer Sprache Transzendenz genannt wird?

Susanne Mayer, die Journalistin, fragt direkt nach: „Mehr als Schreiben?“

Mankell antwortet: Schreiben ist die Nummer zwei. Erotik ist fundamental“.

Zuvor hatte Mankell auf die Frage, woher bei ihm die Kraft kommt, so viel zu arbeiten und in Afrika Gutes

zu tun, geantwortet: „Woher kommt das? Von Luther und Calvin. Ein bisschen von beiden. Ich meine, ich möchte die Welt ein bisschen besser zurücklassen, als ich sie vorfand“. Auf diese provozierende Antwort eines „an sich“ bekennenden Agnostikers: „Luther und Calvin…“ geht die Journalistin leider nicht näher ein. Das wird verdrängt, diese überraschende Antwort überhört.

PS. von Christian Modehn: Das habe ich oft beobachtet, dass JournalistInnen, die mit Religionen, Kirchen usw. nicht so viel „am Hut haben“, überraschende religiöse Antworten übergehen und gleich zum nächsten „Punkt“, zur nächsten Frage, weitergehen.

2.

Über Musik (verbal) zu sprechen, ist eine besondere Schwierigkeit, nicht nur für Menschen, die Musik hören. Mehr noch für Künstler, die Musik “spielen”. Der besonders bedeutende Pianist der Gegenwart ist Grigory Sokolov. Er gibt prinzipiell keine Interviews, nur wenige Zitate (aus Gesprächen) werden in Reportagen über seine Konzerte wiedergegeben. In “Die Zeit” vom 16. April 2015 sagte Sokolov: “Die Musik hört niemals auf. Sie bleibt , sie ist immer da”. Nebenbei: Bei seinen Konzerten verlangt Sokolov, dass die Beleuchtung stark reduziert wird, es entsteht also eine eher meditative Dunkelheit. “Die Zeit”- Autorin Christine Lemke-Matwey spricht gar davon, dass die Berliner Philharmonie dann “in eine Höhle verwandelt wird”, in “einen Uterus des Noch-nicht-Seins”. Sie relativiert diese Einschätzung jedoch – korrekterweise ?- durch eine prosaische Erklärung des Künstlers, bei vollem Licht werde “alles alles einfach zu heißt”…

3.

Der Dichter (und Philosoph) Friedrich Hölderlin verlässt im Jahr 1798 seelisch stark belastet (verzweifelt) Frankfurt am Main und findet Zuflucht in einem Haus am Rande von Bad Homburg, das ihm sein Freund Isaac von Sinclair vermittelt hat. Hölderlin findet dort Ruhe und “Kraft zum Leben”: “Da gehe ich dann hinaus, wenn ich von meiner Arbeit müde bin, steige auf den Hügel und setze mich in die Sonne. Und sehe über Frankfurt in die weiten Fernen hinaus. Und diese unschuldigen Augenblicke geben mir dann wieder Mut und Kraft zu leben und zu schaffen”. Der Autor Gunter Martens fährt dann fort: “Hölderlin schließt diesen Brief an seine Schwester mit der Bemerkung, solche Naturgänge seien, “so gut, als ob man in der Kirche gewesen ist” (RoRoRo Monographie, Hölderin, Seite 95) Hölderlin erlebt “Mut zum Leben” in der meditativen Betrachtung der Natur “als ob man in der Kirche“, er meint: in einem Gottesdienst gewesen ist”: Denn was soll eigentlich ein Gottesdienst bewirken: Stärkung, Heilung, Befreiung. Also eine Form irdischer Erlösung. Erlösung im Himmel allein ist ja Gott sei Dank obsolet geworden. Wenn das ein Gottesdienst nicht (mehr) leistet, etwa aufgrund ritueller Erstarrung oder hermetischer/esoterischer Sprache oder allzu banaler Alltagsfloskeln, dann kann eine meditative Naturerfahrung auch dieselben heilsamen Wirkungen haben. Kommt es nicht in den Evangelien Jesu einzig auf diese Heilung, also Erlösung, an. Die kann doch wohl nicht die Kirche allein vermitteln! Insofern ist das knappe Zitat Hölderlins ein Beispiel für eine Spiritualität, an die sich viele Menschen halten, damals wie heute. Und Hölderlin bietet ein weiteres Element für einen Essay einer umfangreichen, literarisch-empirischen liberalen Theologie. Dabei muss ein Hölderlin Kapitel natürlich sehr umfangreich sein, weil er sich explizit vom dogmatisch erstarrten Christentum absetzte und in der dichterischen Erfahrung das Mythische als solches wiederbelebte als mögliche Existenzform.

4.

Erneuter Eintrag zur musikalischen Erfahrung:

An den Komponisten Karlheinz Stockhausen muss erinnert werden. “Ich bin im Bergischen Land in der Nähe des Altenberger Doms aufgewachsen. In dieser frühgotischen Zisterzienser-Kirche gibt es eine große Michael-Figur, die mich schon als kleines Kind fasziniert hat. Ich habe zu ihr gebetet und von ihr geträumt. Michael ist in meinem ganzen Leben so immer die erste und höchste geistige Macht gewesen, an die ich mich wandte”(Stockhausen im Jahr 2005). Besondere Beachtung verdient wohl Stockhausens sieben Teile umfassende Oper “LICHT”. Günter Peters schreibt: “Stockhausen verstand seine Werke als Folge von Annäherungen an das Absolute. In einer musikalischen Welt, die sich nicht durch Ausschlüsse, sondern durch Nachbarschaften und Einschübe definiert, sind die Übergänge vom Physischen zum Spirituellen, von der Realität zur Transzendenz fließend… Stockhausen glaubte fest an einen alles umschließenden Gott, in dessen jenseitiges Reich er nach dem Tod auffahren würde…” (in: Musikfest Berlin 2015, hg. von den Berliner Festspielen. Seite 11).

 

FORTSETZUNG FOLGT.

Copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

Theologie für die Öffentlichkeit? Ein Interview mit Prof. Wilhelm Gräb

Theologie für die Öffentlichkeit?

Ein Interview mit Prof. Wilhelm Gräb, Theologe an der Humboldt Universität zu Berlin

Die Fragen stellte Christian Modehn am 21. März 2014

Trotz zahlreicher theologischer Fakultäten in Deutschland haben doch viele Beobachter den Eindruck, dass evangelische – wie auch katholische – Theologie in der Öffentlichkeit keine sichtbare Rolle mehr spielt, verglichen etwa mit den Jahren 1970, als Bücher von Theologen in allgemeinen Buchhandlungen zu Tausenden verkauft wurden. Man denke auch an die populären Bücher etwa von Heinz Zahrnt oder Hans Küng. Heute gibt es ja auch kaum noch theologische Buchhandlungen. Wie erklären Sie die geringe Sichtbarkeit theologischen Denkens in der Öffentlichkeit?

Es gibt kaum noch theologische Buchhandlungen, aber deren Esoterik-Abteilungen werden immer größer. Milliardenumsätze werden mit einer für Religionsfragen offenen Lebensberatungsliteratur gemacht. Öffentliche Theologie konnten in den 1970er Jahren in der Tat noch Theologen wie Heinz  Zahrnt oder Hans Küng betreiben. Dass sie öffentliche Aufmerksamkeit fanden, hing freilich entscheidend auch damit zusammen, dass damals beide Kirchen noch gewissermaßen ein Monopol  für Religion hatten. Heute haben wir einen religiösen Markt, auf dem sich viele Anbieter tummeln, seriöse und weniger seriöse – wobei auch professionelle Theologen und Kirchenleute auf diesem Markt erfolgreich sind, allerdings zumeist eher die weniger seriösen, wie z.B. Margot Käßmann.

Mein Eindruck ist freilich, dass es Autoren, die nichts mit Kirche und Theologie zu tun haben, denen es aber gelingt, die existentiell-religiösen Lebensfragen aufzunehmen, das öffentliche Interesse an Religion, von dem ich keineswegs glaube, dass es weniger geworden ist, aufzunehmen vermögen. Ich denke da etwa an den Komiker und Fernsehmoderator Hape Kerkeling, der aus seinen Reflexionen auf dem Jakobs-Weg einen Bestseller gemacht hat („Ich bin dann mal weg“), an die Bücher von Rüdiger Safranski, insbesondere das über die „Romantik“, an die Bücher des Philosophen Wilhelm Schmid über die „Lebenskunst“ und den „Sinn des Lebens“, an die Bücher des von der analytischen Schulphilosophie in Literatenfach gewechselten Peter Bieri, vor allem das über die „menschliche Würde“.  Dieses Buch von Peter Bieri , der unter dem Pseudonym Pascal Mercier mit seinem „Nachtzug nach Lissabon“ eine große Leserschaft gefunden hat, beschäftigt sich mit der einen Frage, die auch die Grundfrage der Religion ist: „Was ist das eigentlich für ein Leben, das wir da als Menschen leben müssen?“ Und Bieri’s Absicht ist keine andere, als, wie er sagt, „den Leser in meine Gedankengänge zu verwickeln und ihn zum Komplizen zu machen im leidenschaftlichen Versuch Klarheit zu gewinnen“. Klarheit über sich selbst, über die eigene Art zu leben will er gewinnen, über die Gefährdungen, die das zerbrechliche Leben mit sich bringt und die Möglichkeiten, die sich zeigen, diese Gefährdungen einigermaßen in Schach zu halten.  Was Bieri verspricht, sind keine neuen Erkenntnisse, schon gar keine Heilsversprechen, die er von höherer Warte aus zu geben in der Lage wäre. Am Ende der Einleitung sagt er etwas, wovon ich denke, dass es heute auch die angemessene Art der religiösen Rede, auch der Predigt als religiöser Rede, ist. Bieri wünscht sich einen Leser, der am Ende sagt: „Nichts von dem, was ich gelesen hat, war mir wirklich neu. Vieles habe ich wiedererkannt. Aber ich bin froh, dass einer es in Worte gefasst und im Zusammenhang dargestellt hat. Und froh bin ich auch, dass er nicht verschweigt, wie vieles an den Rändern der Gedanken unklar und unsicher bleibt.“

Wie gesagt, am mangelnden Interesse an den existentiell-religiösen Lebensfragen liegt es nicht, dass die Theologie ihre öffentliche Resonanz verloren hat.

Die Theologie hat ihren kirchlichen Geltungsschutz verloren. Nun müsste sie damit Aufmerksamkeit gewinnen, dass sie zu einer tieferen Selbstverständigung unseres Lebens beiträgt und die Potentiale der biblischen und theologischen Überlieferungen dafür fruchtbar zu machen versteht. Doch angesichts dieser Herausforderung ist ein nahezu komplettes Versagen zu konstatieren.
Liegt das eher geringe öffentliche Interesse an der christlichen Theologie, das ja auch in Holland, Frankreich, Spanien usw. zu beobachten ist, auch an der (oft komplizierten) Form der Darstellung theologischer Gedanken, vielleicht vor allem auch an den dogmatischen Inhalten, die immer noch – seit Jahrhunderten – übermittelt werden?

Die Wirklichkeit unseres Lebens ist komplizierter als es jeder Versuch, sie in Worte zu fassen, zu sein vermag. Das ist nicht das Problem, dass Theologie kompliziert ist.  Die Kompliziertheit theologischer Texte wird dann ärgerlich, wenn sie dem Imponiergehabe im binnentheologischem Diskurs entspringt. Und ein gravierendes Problem ist dann sehr oft natürlich auch, dass die Theologie die Binnenlogik theologischer Denkfiguren, die schon längst den Anschluss an die existentiell-religiösen Lebensfragen der Menschen verloren haben, höchst aufwändig und mit gesteigerter Argumentationsschärfe verteidigt. Statt zu fragen, was aus der biblischen und dogmatischen Überlieferung für die Artikulation des Sinns, den die Religion heute hat, zu lernen ist, bemüht die Theologie sich darum, den Glaubensausdruck vergangener Zeit für die je eigen Gegenwart verbindlich zu halten. Das ist ein verkrampftes Unternehmen und produziert Kompliziertheit, die von der Sache her nicht gerechtfertigt ist.

Könnte Theologie wieder neu in den öffentlichen Disput treten, wenn die Theologen, also auch schon die Pfarrerinnen und Pfarrer, eine breitere Ausbildung erhielten, also etwa auch Literatur und Kunst, oder wahlweise eben auch Psychologie oder Religionswissenschaft, intensiver studieren sollten?

Ich plädiere ja schon lange für eine Neuausrichtung des Theologiestudiums, weg von der historisch-philologischen und den theologischen Binnendiskurs führenden Theologentheologie, hin zu einer religions- und kulturhermeneutischen Theologie. Diese hätte zum einen die biblische und theologische Überlieferung daraufhin zu untersuchen, mit welchen Deutungsmustern menschlichen Sich-Selbst-Verstehens sie auch uns Heutige inspirieren kann. Sie hätte zum anderen den religiösen Motiven nachzugehen, die sich in der ästhetischen Kultur der Gegenwart finden und dort oft große Aufmerksamkeit finden. D.h. dann, nach der Religion in Musik und Literatur, Kunst und Theater zu fragen. Vor allem die Literatur, Kultur- und Medienwissenschaften sind von daher für die Theologie heute ganz wichtige Gesprächspartner.

Die Frage nach der Zukunft der Theologie ist ja kein Randthema, denn ohne eine kritisch erneuerte, muntere und Neues wagende Theologie wird wohl auch die Kirche selbst nicht in Schwung kommen. Welche Hinweise hätten Sie da den kirchenleitenden Gremien und den Gemeinden vorzuschlagen?

Ich muss gestehen, dass mir zu dieser Frage nichts mehr einfällt. Von den kirchenleitenden Gremien erwarte ich auf absehbare Zeit kein Umdenken. Sie waren an Theologie ohnehin eigentlich noch nie interessiert. Ihnen geht es um kirchliche Machterhaltung. Was dieser theologisch nützlich erscheint, wird dann als „theologische Begründung“ kirchlichen Handelns ausgegeben. Anders sieht es freilich in den Gemeinden aus, sofern die Gemeinden die Menschen sind, die der Kirche (noch) zugehören. Unter ihnen sind viele, die auf eine ihr merkwürdiges Leben zum besseren Verständnis bringende religiöse Ansprache warten.

Copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Belin

Eine Theologie, die gut über den Menschen redet. Über eine “neue Berliner Theologie”

Eine Theologie, die gut über den Menschen redet. Über eine “neue Berliner Theologie”

Ein Interview mit Prof. Wilhelm Gräb, Humboldt Universität
Die Fragen stellte Christian Modehn

Sie haben in Ihrem Interview im August darauf hingewiesen, dass Theologie zu verstehen sei als „Auslegung des gelebten Lebens” der einzelnen. Ist damit auch die Aufforderung gemeint, dass wir viel stärker noch als bisher, “unser je eigenes Leben” nun auch sprachlich ausdrücken, für uns wie für andere? Und wie geht dann ein Theologe mit diesen Auslegungen um?

Ja, ich denke so: die Theologie, die hier und heute an der Zeit ist, muss eine Theologie sein, die die Menschen als die Subjekte ihres Lebens Ernst nimmt und keine anderen Interessen verfolgt, als den Menschen zur besseren Klarheit über sich selbst zu verhelfen. Wer sich den Anforderungen des Lebens stellt, hat Fragen genug, auf die es keine einfachen, ja vielleicht überhaupt keine Antworten gibt. Diese Fragen wach und sie auszuhalten, ob mein Leben einen Sinn hat, ob ich in der Unendlichkeit des Universums dennoch nicht verloren gehe, ob jeder Mensch dessen gewiss sein kann, auf keinen Fall vergeblich zu leben – ist die Aufgabe der Theologie. Dann wird sie zur Auslegung der Lebensdeutungen, die wir alle, so wir bewusst unser Leben führen, so oder so immer schon vollziehen.
Natürlich, als Theologie denkt sie den Gottesgedanken und damit die Idee, dass das Ganze dieser Welt und eines jeden Lebens in ihr sinnvoll ist, auch wenn es unsere Fassungskraft übersteigt. Aber damit weiß sie auch, dass Gott kein Gegenstand in dieser Welt ist, es ihn nicht gibt, wie es die Dinge, Gedanken und Gefühle gibt. Gott als der Sinn des Ganzen, so weiß eine zeitgemäße Theologie, lässt sich immer nur zum Sinnangebot machen. Eine gute Theologie versucht Gott zu einem möglichst plausiblen, einleuchtenden Sinnangebote zu machen.
Nennen wir sie ruhig die „Neue Berliner Theologie“, in konstruktiver Bezugnahme auf die Berliner Theologie, die einst, 1799, der Prediger an der Charité, Friedrich Schleiermacher, mit seinen „Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ dem „aufgeklärten“ Berlin vorgeschlagen hat. Heute, nach dem Jahrhundert der menschenverachtenden Ideologien von rechts und von links, braucht Berlin eine Theologie, die gut über den Menschen redet und seine Freiheit verteidigt, auch und gerade seine religiöse Freiheit. Denn die Freiheit zur Religion, sich selbst für oder gegen sie entscheiden zu können und die Freiheit in der Religion, Gott selbst denken und nach eigener Einsicht in seine Wahrheit glauben zu können, ist der Anfang aller Freiheit.

Wenn Theologie die jeweiligen Sinnentwürfe der heutigen Menschen wahrnimmt und reflektiert, welche normativen Aspekte wird dann diese liberale Theologie zur Geltung bringen?

Die Norm dieser Theologie ist allein die menschliche Freiheit. Menschen sollen zur Klarheit über sich selbst und die Bestimmung ihres Lebens finden. Dabei muss die Theologie, bzw. genauer der Theologe, die Theologin zur Klarheit über sich selbst kommen, über ihr eigenes Gott denken und Gott glauben. Dann nur können sie mit den nach einem letzten Sinn suchenden Menschen so ins Gespräch über Gott kommen, dass Gott sich diesen selbst als ihre Idee vom Sinn des Ganzen erschließt.

Nun gibt es in der langen christlichen Tradition eine Fülle von Glaubenslehren und Dogmen. Könnte man diese Aussagen, die manche Kirchenführer noch für definitiv halten, auch als Ausdruck des religiösen Lebens deuten und dadurch wiederum relativieren?

Die Glaubenslehre und Dogmen, selbst die Bibel verlieren in dieser Theologie ihren normativen Status. Diese Theologie betont stattdessen das kreative, die religiöse Selbstauslegung anregende Potential der religiösen und theologischen Überlieferungen. So, wie wir überhaupt die Sprache, die wir sprechen und vermittels derer wir uns über uns selbst und die Dinge des Lebens verständigen, nicht erfinden, sondern in sie hineinwachsen, so ist es auch mit der religiösen Sprache.
Das Problem ist nur, dass die religiöse Sprache der Tradition für die meisten zur Fremdsprache geworden ist. Die Aufgabe der Theologie wird es daher, die religiöse Sprache der Tradition in unsere heutige Alltagssprache zu übersetzen. Das wiederum gelingt uns am ehesten dann, wenn wir darauf achten, dass und wie in der religiösen Sprache der Tradition sich die religiöse Selbstauslegung der Menschen von damals ausgesprochen hat. Wir können die überlieferten Texte uns als Ausdruck religiöser Erfahrung verständlich machen.
In der Tiefe existentieller Grundfragen, in der Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit, mit den Situationen des Glücks und der Not bleiben sich die Menschen aber auch erstaunlich gleich. Deshalb enthalten die Texte der religiösen Tradition, trotz einer uns vielfach unverständlich gewordenen Sprache, immer noch ein großes religiös-spirituelles Anregungspotential.

Wie geht eine neuen Berliner Theologie mit diesen “vorgegebenen” Traditionen und Dogmen um, wenn sie sich der gegenwärtigen und eigenen spirituellen Wahrnehmung gegenüber “sperren” und als nicht nach vollziehbar empfunden werden?

Klar, nicht alle Glaubenssätze der Tradition enthalten für uns ein religiös-spirituelles Anregungspotential. Nicht alle können wir zum Ausdruck der Deutung unseres eigenen Lebens und Selbstverständnisses werden lassen. Dann müssen wir sie zurücklassen und sie der Theologie- und Dogmengeschichte übergeben. Entscheidend für uns ist ja eben dieses Verständnis des Glaubens, wonach es in ihm nicht um die Anerkennung von Glaubenssätzen geht, sondern darum, dem Ausdruck zu verleihen, worin sich uns selbst unsere Lebenszwecke versammeln und unsere Daseinsgewissheit begründet.
Sofern wir zur Klarheit darüber kommen, dass wir eine letzte Rückbindung nur in dem Gott finden, auf den wir unser Vertrauen setzen, kann sich solches Vertrauen immer wieder an den Zusagen und Verheißungsworten aufrichten, in denen Menschen der Vergangenheit religiösen Halt gefunden und mit denen sie zugleich den Grund ihres Glaubens zur Sprache gebracht haben. Wo der Glaubensüberlieferung diese religiös inspirierende Kraft fehlt, funktioniert sie in der je gegenwärtigen religiösen Kommunikation nicht mehr. Dann sollen sich die Historiker unter den Theologen mit diesen Texten und Denkmälern befassen.

Manche “orthodoxen” Kirchenführer und Lehrer werfen dieser Haltung (mit ihrer nun einmal notwendigen “Auswahl” von heute noch relevanten Traditionen) eine zu starke “Selbstermächtigung des einzelnen” vor. Wie geht eine neue Berliner Theologie mit diesem Vorwurf um, der ja von orthodoxer Seite schnell mit dem Vorwurf des Häretischen verbunden wird.

Die Freiheit ist immer die Freiheit des einzelnen, sonst ist sie keine Selbst-Bestimmung. Das freilich heißt nicht, dass sie mit Beliebigkeit zu verwechseln wäre. Auch geht sich selbst recht verstehende individuelle Freiheit nicht mit einer Missachtung von Traditionen und Institutionen einher. In ihnen entfaltet sie sich vielmehr, findet sie auch nur zur Verständigung mit anderen und zu gemeinschaftlicher Verbundenheit in den wichtigen Fragen des Lebens. Aber die religiöse Kommunikation kommt dort zum Erliegen, wo die überlieferten Dogmen und Glaubenssätze mit normativem Anspruch auftreten, und dann auch noch die Anerkennung der gegenständlichen Wahrheit ihres Inhalts verlangen. Dann ergibt sich das Missverständnis, als bestünde der religiöse Glaube in der Akzeptanz unwahrscheinlicher Behauptungen über metaphysische Gegebenheit und Ereignisse.
Die Sätze des Glaubens sind nicht als gegenständliche Wahrheit vorgegeben, sondern sie folgen der lebendigen spirituell-religiösen Erfahrung als deren Ausdruck nach. Dabei machen wir, indem wir unseren Glauben ausdrücken, von der Sprache der Bibel und den kirchlichen Glaubenslehren Gebrauch. Aber wir transformieren sie zugleich immer auch in die heute verständliche Sprache, bilden neue Metaphern, suchen nach ansprechenden Analogien, produzieren andere Texte. Wenn man so will, ist zu sagen: Ohne häretische Momente gibt es gar keine lebendige religiöse Kommunikation, keinen kräftigen Ausdruck eigener Spiritualität.

Diese – schwierigen – Fragen hier sind ja keine theologischen und religionsphilosophischen Sandkastenspiele. Sie gelten dem Bemühen, auf eine für heute mögliche Spiritualität hinzuweisen. Warum sind für Sie gerade als “praktischem Theologen” diese Fragen so dringend?

Die Praktische Theologie will Theologen und Theologinnen religiös sprachfähiger machen, kundig in der Auslegung von Texten wie in der Auslegung des gelebten Lebens. Dabei liegt das eine im anderen. Immer entsteht Religion, bildet sie sich, wird sie gestärkt durch religiöse Ansprache. Freilich auch nur deshalb, weil die Menschen auf Religion prinzipiell ansprechbar sind. Das spirituelle Interesse, das ja doch das Interesse am Sinn des eigenen Lebens ist, ist in allen lebendig. Woran es oft jedoch fehlt, das ist die Gelegenheit, die spirituelle Sinnarbeit ins Gespräch zu ziehen.
Diesem Defizit versuche ich, so gut dies durch akademische Ausbildung geht, als Praktischer Theologe abzuhelfen Wir sollen als Theologen nicht meinen, wir müssten die Menschen permanent ändern. Es ist doch alles da. Wir sind die Subjekte unseres Glaubens und Lebens. Aber tiefer verstehen wir uns in dem, was wir sind und haben, erst dann, wenn wir darüber miteinander ins Gespräch kommen. Dieses Gespräch anzuregen, das ist die Sache der Theologie und alle Theologie ist, wo sie nur wirklich bei der Sache ist, praktische Theologie.

copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Grundvertrauen – die wahre Religion der Menschheit. Interview mit Prof. Wilhelm Gräb

Grundvertrauen – die wahre Religion der Menschheit

Interview mit Prof. Wilhelm Gräb, Humboldt Universität zu Berlin

Die Fragen stellte Christian Modehn, Religionsphilosophischer – Salon Berlin

Veröffentlicht am 30.9.2012

Es wird heute immer schwieriger, von persönlichem Leid einmal ganz abgesehen, in einer von Gewalt und Ungerechtigkeit geprägten Welt noch die Zuversicht zum Leben zu bewahren oder zu entwickeln. Sehen Sie Möglichkeiten, theologisch und religionsphilosophisch Wege zur  (gar nicht oberflächlich gemeinten) Lebensfreude zu zeigen?

Es gibt im Leben eines jeden Menschen doch auch die erfüllen Augenblicke, die besonderen Erlebnisse, in denen sich die Schönheit der Welt und der unendliche  Reichtum des Lebens zeigen. Natürlich bedrängt und bedrückt uns das andere, das Sie ansprechen, das persönliche Leid, Gewalt und Ungerechtigkeit überall. Wer könnte davor die Augen verschließen und wer wäre nicht selbst auch immer wieder von all dem betroffen, was das Leben schwer und die Welt hässlich macht? Dennoch frage ich mich, ob ich mich in meinem Lebensgefühl verstanden fühle, wenn man mir unter Vorhaltung all des Schrecklichen, das geschieht, meint die Lebensfreude absprechen zu müssen. Weiterlesen ⇘