Die liberale Theologie lebt. Literarische Zeugnisse für eine neue religiöse Perspektive

Die liberale Theologie lebt. Zeugnisse aus Kunst, Musik, Literatur, Film … für eine neue religiöse Perspektive

Von Christian Modehn

Zu diesem Artikel, der hoffentlich bald umfangreich wird und Diskussionen fördert, aber immer Essay bleibt, wurde ich angeregt ausgerechnet von dem obersten römischen dogmatischen Glaubenswächter Kardinal Gerhard Ludwig Müller (zuvor Erzbischof von Regensburg und bleibender Ratzinger-Getreuer): Er hat in der katholischen Tageszeitung „Deutsche Tagespost“ einfach verkündet: „Die Lebenswirklichkeit ist keine Offenbarungsquelle“, so in einem Interview vom 28. März 2015, das weltweit verbreitet wurde, unter anderem auch auf der konservativen www.kath.net. http://www.kath.net/news/50039

Eine neue liberale (protestantische, vielleicht später auch einmal explizit katholische) Theologie plädiert genau für das Gegenteil: Die Lebenswirklichkeiten eines jeden Menschen, das Aussprechen seiner Lebenserfahrungen, verbal oder non-verbal, sind Offenbarungsquellen, also mitten im geistvollen Leben “lebt” das Göttliche/Gott und Menschen finden dafür den ihnen eigenen Ausdruck..

Das heißt: In jedem Leben offenbart sich auf eine individuelle Art und in persönlichen Worten Gott. Und jeder drückt diese Wirklichkeit anders aus, als Kunst, als Musik, als Poesie, als politisches radikales Engagement, als stilles Dulden, als Schweigen, als hilfloses Suchen usw. Und das hat bitte jeder und jede, selbst Kardinal Müller, zu respektieren. Er sitzt doch nicht auf dem Thron der Weisheit. Da haben ihn einige Fromme hingesetzt, damit sie zu etwas Exklusivem aufschauen können..

Dabei wird liberale Theologie vorschlagen, dass die unterschiedlichen (religiösen) Menschen miteinander ins Gespräch kommen. Das ist der Sinn der christlichen Gemeinde: Religiöse Menschen miteinander in ein (selbst)kritisches Gespräch einladen, damit sie besser und tiefer ihre eigene Lebensphilosophie, die nun einmal jeder hat, bzw. ihren je eigenen Glauben wahrnehmen. Diese Theologie hat Schleiermacher vertreten. Eine solche Gesprächsrunde (also Kirche) will niemals Missionierung betreiben, sondern die Vielfalt der Meinungen wird als Geschenk erlebt.

Diese Erkenntnis verdanke ich dem Berliner Theologen Wilhelm Gräb, Humboldt Universität, er ist mit dem Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin freundschaftlich verbunden und hat dieser website schon zahlreiche Interviews gegeben. Sie sind unter www.religionsphilosophischer-salon.de nachzulesen, klicken Sie hier.

Als Motto soll über unserem (Langzeit)-Projekt ein Wort von Wilhelm Gräb stehen: “Vom heutigen Glauben und dem, was die Menschen als ihren eigenen Glauben zuzumessen bereit sind, gilt es auszugehen. Es gilt, den Glauben zu durchdenken, der ein souveräner Glaube ist, ein Glaube, den die Menschen selbst hervorbringen, aus den Bezügen ihres Lebens”. (in: dem empfehlenswerten Buch von Wilhelm Gräb, “Glaube aus freier Einsicht”. Gütersloher Verlagshaus 2015, S. 12 f.)

Zur Methode unseres Projekts:

Es gilt, zahlreiche Lebensberichte, “Lebensbeichten” oder bloße Interviews aufmerksam zu lesen und herauszuspüren, wie sich da, jeweils persönlich sehr verschieden, der Sinn des eigenen Lebens oder der erlebte Sinn von Welt ausspricht oder der Wille, sich an die eigene Basis-Überzeugung „absolut“ zu halten. Es soll sozusagen, die bei immer schon gelebte Spiritualität dokumentiert werden. Eine solche Dokumentation von individuellen Lebens-Sinn-Geschichten ist keine Vereinnahmung in eine Kirche hinein. Diese Dokumentation ist nichts als die Wahrnehmung aus einer liberal-theologischen und dann auch religionsphilosophischen Perspektive, dass die Lebenswirklichkeit eben doch die Offenbarungsquelle des Göttlichen ist. Das gilt, selbst wenn manche Menschen sicher aus Abwehr gegenüber allem Kirchlichen von Göttlichem in ihrem Leben eher nicht sprechen wollen, weil Gott zu sehr mit der Institution Kirche konnotiert ist. Trotzdem kann ein Betrachter „von außen“ dann doch Gott/Göttliches im jeweiligen Leben wahrnehmen und als solches benennen, ohne diese Sprache dann den anderen aufzudrängen.

1.

Sehr viel Aufmerksamkeit verdient das Interview in „DIE ZEIT“ vom 26. 3. 2015 (Seite 45) mit dem Autor und Theatergründer (in Maputo) HENNING MANKELL. Das Interview bezieht sich vor allem auf die Krebserkrankung Mankells. Angesichts des eigenen Todes sagt er:
„Dass ich mich vor dem Sterben nicht fürchten muss. Man geht über in etwas anderes. In meinem Fall: in die Dunkelheit, für religiöse Menschen in das Paradies, was auch immer. Wir gehen in verschiedene Richtungen, aber wir gehen…“

Dann erinnert sich Mankell an Johann Sebastian Bach, der eines Tages nach Hause kam und seine Frau sowie zwei Kinder waren gestorben. „Wie Luther war Bach ein Mann, der die Erotik liebte, und auch für mich ist die Erotik die wahre Freude des Lebens. Es ist das Wundervollste des Lebens. Unvergleichlich“.

Das Wundervollste im Leben: Gibt es etwas Größeres als dieses? Erlebt ein Mensch bei dem Wundervollsten das, was in anderer Sprache Transzendenz genannt wird?

Susanne Mayer, die Journalistin, fragt direkt nach: „Mehr als Schreiben?“

Mankell antwortet: Schreiben ist die Nummer zwei. Erotik ist fundamental“.

Zuvor hatte Mankell auf die Frage, woher bei ihm die Kraft kommt, so viel zu arbeiten und in Afrika Gutes

zu tun, geantwortet: „Woher kommt das? Von Luther und Calvin. Ein bisschen von beiden. Ich meine, ich möchte die Welt ein bisschen besser zurücklassen, als ich sie vorfand“. Auf diese provozierende Antwort eines „an sich“ bekennenden Agnostikers: „Luther und Calvin…“ geht die Journalistin leider nicht näher ein. Das wird verdrängt, diese überraschende Antwort überhört.

PS. von Christian Modehn: Das habe ich oft beobachtet, dass JournalistInnen, die mit Religionen, Kirchen usw. nicht so viel „am Hut haben“, überraschende religiöse Antworten übergehen und gleich zum nächsten „Punkt“, zur nächsten Frage, weitergehen.

2.

Über Musik (verbal) zu sprechen, ist eine besondere Schwierigkeit, nicht nur für Menschen, die Musik hören. Mehr noch für Künstler, die Musik “spielen”. Der besonders bedeutende Pianist der Gegenwart ist Grigory Sokolov. Er gibt prinzipiell keine Interviews, nur wenige Zitate (aus Gesprächen) werden in Reportagen über seine Konzerte wiedergegeben. In “Die Zeit” vom 16. April 2015 sagte Sokolov: “Die Musik hört niemals auf. Sie bleibt , sie ist immer da”. Nebenbei: Bei seinen Konzerten verlangt Sokolov, dass die Beleuchtung stark reduziert wird, es entsteht also eine eher meditative Dunkelheit. “Die Zeit”- Autorin Christine Lemke-Matwey spricht gar davon, dass die Berliner Philharmonie dann “in eine Höhle verwandelt wird”, in “einen Uterus des Noch-nicht-Seins”. Sie relativiert diese Einschätzung jedoch – korrekterweise ?- durch eine prosaische Erklärung des Künstlers, bei vollem Licht werde “alles alles einfach zu heißt”…

3.

Der Dichter (und Philosoph) Friedrich Hölderlin verlässt im Jahr 1798 seelisch stark belastet (verzweifelt) Frankfurt am Main und findet Zuflucht in einem Haus am Rande von Bad Homburg, das ihm sein Freund Isaac von Sinclair vermittelt hat. Hölderlin findet dort Ruhe und “Kraft zum Leben”: “Da gehe ich dann hinaus, wenn ich von meiner Arbeit müde bin, steige auf den Hügel und setze mich in die Sonne. Und sehe über Frankfurt in die weiten Fernen hinaus. Und diese unschuldigen Augenblicke geben mir dann wieder Mut und Kraft zu leben und zu schaffen”. Der Autor Gunter Martens fährt dann fort: “Hölderlin schließt diesen Brief an seine Schwester mit der Bemerkung, solche Naturgänge seien, “so gut, als ob man in der Kirche gewesen ist” (RoRoRo Monographie, Hölderin, Seite 95) Hölderlin erlebt “Mut zum Leben” in der meditativen Betrachtung der Natur “als ob man in der Kirche“, er meint: in einem Gottesdienst gewesen ist”: Denn was soll eigentlich ein Gottesdienst bewirken: Stärkung, Heilung, Befreiung. Also eine Form irdischer Erlösung. Erlösung im Himmel allein ist ja Gott sei Dank obsolet geworden. Wenn das ein Gottesdienst nicht (mehr) leistet, etwa aufgrund ritueller Erstarrung oder hermetischer/esoterischer Sprache oder allzu banaler Alltagsfloskeln, dann kann eine meditative Naturerfahrung auch dieselben heilsamen Wirkungen haben. Kommt es nicht in den Evangelien Jesu einzig auf diese Heilung, also Erlösung, an. Die kann doch wohl nicht die Kirche allein vermitteln! Insofern ist das knappe Zitat Hölderlins ein Beispiel für eine Spiritualität, an die sich viele Menschen halten, damals wie heute. Und Hölderlin bietet ein weiteres Element für einen Essay einer umfangreichen, literarisch-empirischen liberalen Theologie. Dabei muss ein Hölderlin Kapitel natürlich sehr umfangreich sein, weil er sich explizit vom dogmatisch erstarrten Christentum absetzte und in der dichterischen Erfahrung das Mythische als solches wiederbelebte als mögliche Existenzform.

4.

Erneuter Eintrag zur musikalischen Erfahrung:

An den Komponisten Karlheinz Stockhausen muss erinnert werden. “Ich bin im Bergischen Land in der Nähe des Altenberger Doms aufgewachsen. In dieser frühgotischen Zisterzienser-Kirche gibt es eine große Michael-Figur, die mich schon als kleines Kind fasziniert hat. Ich habe zu ihr gebetet und von ihr geträumt. Michael ist in meinem ganzen Leben so immer die erste und höchste geistige Macht gewesen, an die ich mich wandte”(Stockhausen im Jahr 2005). Besondere Beachtung verdient wohl Stockhausens sieben Teile umfassende Oper “LICHT”. Günter Peters schreibt: “Stockhausen verstand seine Werke als Folge von Annäherungen an das Absolute. In einer musikalischen Welt, die sich nicht durch Ausschlüsse, sondern durch Nachbarschaften und Einschübe definiert, sind die Übergänge vom Physischen zum Spirituellen, von der Realität zur Transzendenz fließend… Stockhausen glaubte fest an einen alles umschließenden Gott, in dessen jenseitiges Reich er nach dem Tod auffahren würde…” (in: Musikfest Berlin 2015, hg. von den Berliner Festspielen. Seite 11).

 

FORTSETZUNG FOLGT.

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