Der Gott der Liebe. Drei Fragen an den Theologen Prof. Wilhelm Gräb, Berlin

Über Glauben und Hoffen haben wir theologische Meditationen mit dem protestantischen Theologen Wilhelm Gräb (Berlin) schon kürzlich publiziert.Nun drei Fragen zum “Gott der Liebe”. Glauben, Hoffen, Lieben gelten als Grundhaltungen (Tugenden) von Menschen, nicht nur von Christen.

Die Fragen stellte Christian Modehn.

1.
Ein komplexes Thema: „Der Gott der Liebe“. Die ersten Christen teilen im „1. Brief des Johannes“ ihre Überzeugung mit: „Gott ist die Liebe“ (4. Kap., Vers 8). Angesichts der Lebenserfahrungen im Laufe der Geschichte (Krieg, Gewalt, Krankheit) meinen aber viele, den Ge-danken an einen liebenden Gott aufgeben zu müssen. Ist das Thema „Der Gott der Liebe“ bzw. „Der Gott, der Liebe IST“, de facto also ob-solet und nur noch eine Art Ballast kirchlicher Sprache?

Mit dem Gott der Liebe, so denke ich, verhält es sich nicht anders als mit dem Gott des Glaubens und der Hoffnung. Immer geht es um un-sere Beziehung zu Gott und Gottes Beziehung zu uns. Das Beziehungs-verhältnis zwischen Gott und uns Menschen bildet sich im Glauben, den wir ein Grundvertrauen genannt haben. Es wird zum Grund einer Hoffnung, mit der wir unser Handeln auch noch in scheinbar ausweg-loser Situation mutig nach vorne ausrichten. Wenn wir nun von Gott auch als dem Gott der Liebe sprechen, so sagen wir damit aus, dass Gott derjenige ist, der uns und die Welt im Innersten zusammenhält. Über alle Gegensätze und Widersprüche hinweg tut er das, trotz der Grausamkeiten, dem Hass und der Gewalt, den Kriegen und Katastro-phen, den Erfahrungen von Krankheit, Sterben und Tod.

Nur weil Gott voll Liebe ist, ist überhaupt vorstellbar, dass er es ist, der diese Welt, so wie sie ist, in seinen Händen hält, er als ein leben-diger Gott in der Welt wirksam ist. Wäre das Handeln Gottes vom Zorn über die Bosheit der Menschen bestimmt und darauf ausgerichtet, Vergeltung zu üben und mit Gewalt gegen das Unrecht, das ge-schieht, vorzugehen, dann würde durch seine Interventionen ja alles noch viel schlimmer. Ist Gott hingegen der, der aus Liebe handelt, dann ist er der Grund dafür, weshalb wir allen schlimmen Erfahrun-gen zum Trotz, nichts und niemanden je ganz verloren geben müssen.

Es ist wichtig, die biblische Aussage, dass Gott die Liebe ist, von dem her zu verstehen, was mit „Liebe“ gemeint ist, was es heißt, aus Liebe zu handeln und Liebe zu erfahren. Auch da hilft uns das Neue Testa-ment weiter, vor allem die Hymne auf die Liebe, die Paulus im 13. Kap. des Korintherbriefes angestimmt hat. Dort setzt Paulus die Liebe nicht nur neben den Glauben und die Hoffnung, sondern er meint so-gar, sie sei die größte und stärkste Kraft unter diesen dreien, dem Glauben, der Hoffnung und der Liebe, denen gleichermaßen Ewig-keitswert, eine göttliche Qualität also, zukomme.

Die Liebe aber ist deshalb die größte und stärkste unter den göttli-chen Wirkkräften in der Welt, weil sie, wie Paulus ausführt, „alles verträgt, alles glaubt, alles hofft und alles duldet“ (1. Kor 13, 7), weil sie „das Ihre nicht sucht und … das Böse nicht zurechnet“ (13, 5).

Was die Liebe so stark macht und sie zum primären Qualitätsmerk-mal der Wirksamkeit Gottes in der Welt werden lässt, das ist ihre enorme Fähigkeit zum gewaltlosen Widerstand. Die negativen Erfah-rungen, die Sie, lieber Herr Modehn, nennen (Kriege, Gewalt, Krank-heit) und die uns ja in der Tat immer wieder fragen lassen, wie Gott, wenn er denn ein liebender Gott ist, all das Schreckliche in der Welt und im menschlichen Leben zulassen kann, sind recht verstanden kein Einwand gegen Gott. Sie sprechen weder gegen Gottes Liebe noch gegen seine Allmacht.

Liebe bedeutet Partnerschaft, wechselseitige Anerkennung, Rück-sichtnahme, Vertrauen, ein Selbst sein können, in der Beziehung zum, ja am Ort des anderen. Ein liebevoller Gott ist so in der von ihm ge-schaffenen Welt wirksam: Partnerschaftlich, in Anerkennung der Selbständigkeit der Welt und der in Freiheit – und nicht nur mit ihrer Liebe, sondern auch mit all ihrer Bosheit – in ihr tätigen Menschen. So ist Gott in der Welt wirksam, dass er das Böse nicht mit Bösem vergilt und dem Hass nicht mit Hass begegnet. Letztendlich ist es die Feindesliebe, wie sie Jesus empfohlen hat, mit der Gott in der Welt am Werke ist.

Spektakulär ist die Wirksamkeit dieser göttlichen Liebe, die nicht nach dem Motto wie du mir, so ich dir, verfährt, sondern das Böse durch das Tun des Guten überwindet, selten. Aber ohne diese Liebe, mit der Gott in der Welt da ist, dessen bin ich gewiss, müssten wir al-le Hoffnung auf Besserung und erst recht die auf einen guten Aus-gang aller Dinge gänzlich fahren lassen.

2.
Nun hat das Thema Liebe unter den Menschen, auch die erotische Liebe, in allen kulturellen Traditionen trotzdem die höchste Achtung. Und viele neigen dazu, die Liebe selbst als etwas Göttliches zu bewer-ten. Das passt gut zu der Aussage der frühen Christen im 1. Johannes-brief: „Wir wollen einander lieben, denn die Liebe ist aus Gott“ (4. Kap., Vers 7). Können wir daraus schließen: „Die Liebe der Menschen selbst ist göttlich?“

Die Liebe ist etwas Göttliches. Sie macht die Wirksamkeit Gottes in der Welt aus. Sie ist der Grund dafür, dass die Welt und der Men-schen Leben in ihr trotz Hass und Gewalt, trotz der Kriege und Kata-strophen, der Krankheiten und Epidemien nicht nur fortbesteht, son-dern wir uns Hoffnung darauf machen können, dass es Triebkräfte in der Welt gibt, die uns zumindest auf einen moralischen Fortschritt hoffen lassen.

Wir setzten darauf und kämpfen dafür, dass Kriege geächtet werden, die Würde jedes einzelnen Menschen anerkannt, die Menschrechte (ohne Gewalt) durchgesetzt, Hunger, Not und Krankheiten besiegt werden, und – die Liebe stärker bleibt als der Tod! Dies alles aus Liebe zum Leben!

Die Liebe, so könnte man daher auch sagen, ist das göttliche Welt-prinzip. Nicht in dem Sinne, dass man damit eine Weltformel hätte, mit der der faktische und zumeist immer noch viel zu grausame Gang der Dinge sich (weg-)erklären ließe. Eine solche Weltformel wird nie gefunden werden, weil es die Welt als objektiven, abgeschlossenen Tatbestand nicht gibt.

Die Liebe ist das göttliche Weltprinzip in genau dem Sinne, den die Stelle aus dem 1. Johannesbrief, den Sie, lieber Herr Modehn, zitie-ren, zum Ausdruck bringt. Gott ist mit seiner das Böse im Tun des Gu-ten überwindenden Liebe in der Welt wirksam, indem er Menschen unablässig und auch noch, wo es vergeblich erscheint, zu Taten der Liebe ermutigt und befähigt.

Ja, die Liebe, die wir Menschen füreinander empfinden, sie ist göttli-chen Ursprungs. Die Liebe, die uns, weiß nicht wie, überkommt, die uns ineinander verschmelzen und zugleich doch selbständige Wesen bleiben lässt, sie ist göttlich. Die Liebe gar, die die Feindschaft über-windet, sie ist göttlich. Überall, wo geliebt wird, ist das göttliche Weltprinzip wirksam.

Wie trostlos wäre es in der Welt, wenn es die Liebe nicht gäbe! Die Taten und Erfahrungen der Liebe sind der beste Gottesbeweis.

3.
Wird durch die Praxis des Lebens und die Praxis der Liebe eine Spur des Göttlichen in der Menschenwelt erfahrbar? Erhalten die üblichen philosophischen und theologischen Debatten über Sinn und Unsinn des Atheismus nicht eine ganz neue Dimension, wenn man in dem „1.Brief des Johannes“ liest: „Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt“ (4., 8). Kann man diese Erkenntnis auch so formulieren: „Wer liebt, hat Gott erkannt“? Und zwar jeder und jede, die lieben, egal, ob sie nun ein kirchliches Bekenntnis haben oder nicht?“

Die Taten und Erfahrungen der Liebe zeichnen die Spuren des Göttlichen in unser Leben und die Welt. Gott ist da, wo Menschen sich in Liebe begegnen, erst recht da, wo es dazu kommt, dass die Liebe Hass und Feindschaft überwindet.

Aber es liegt natürlich Gottes Wirken nicht offen zutage. Es ist unsere auf Symbole ausgreifende Deutung, die uns davon sprechen lässt, dass Gott uns zu Taten der Liebe ermutigt und er dort erfahren wird, wo Menschen einander, trotz allem was sie trennt, in Liebe begegnen.

Wie kommen wir dazu, die Liebe, die uns Menschen miteinander und mit den Dingen, die uns wichtig sind, auf elementare Weise verbin-det, auf Gottes Handeln in der Welt zurückzuführen? Nirgendwo sonst sind wir doch so sehr mit unserem Fühlen, Denken und Wollen selbst beteiligt wie eben dort, wo wir aus Liebe handeln und wir die Liebe anderer erfahren.

Wahr ist aber auch, dass die Liebe etwas ist, das über uns kommt, uns ergreift, uns widerfährt. Einen anderen Menschen oder auch eine Sache, die uns wichtig ist, zu lieben, dazu können wir uns schwerlich aus eigener Kraft entschließen. Die Liebe verwickelt uns in Erfahrungen, in denen wir auf beglückende Weise von Anderwärts her bestimmt, angefasst, angetrieben und erfüllt sind.

So verweist die Liebe uns auf Erfahrungen, in denen wir über uns selbst hinausgeführt werden. Wollen wir diesem uns selbst transzen-dierenden Von-Woher der alles verwandelnden Kraft der Liebe einen Namen geben, der sich mit einer personalen Vorstellung verbindet, dann legt es sich nahe, von Gott als dem Gott der Liebe zu sprechen.

Selbstverständlich ist Gott in den Taten und Erfahrungen der Liebe auch dann wirksam, wenn wir ihn nicht bei diesem Namen nennen und keine Vorstellung von ihm entwickeln. Er ist auf unser Bekenntnis zu ihm nicht angewiesen. Aber uns kann es helfen, ihn und nicht uns selbst als den Quellgrund der Liebe, die uns und alle Welt im Inners-ten zusammenhält, zu wissen.

An den Gott der Liebe zu glauben und auf seine Kraft zu hoffen, macht das eigene Bemühen um Taten der Liebe und das eigene Ver-langen nach Erfahrungen der Liebe nicht überflüssig – im Gegenteil. Aber es befreit uns von der hybriden Vorstellung, wir selbst müssten in unserer Liebe von göttlicher Vollkommenheit sein.

Copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin

Ende der Volksparteien – Ende der Volkskirchen

Hinweise, Fragen, Vorschläge von Christian Modehn

1.
Die Volksparteien finden immer weniger Zustimmung, nicht nur in Deutschland. Das ist vielfach dokumentiert worden in den letzten Tagen und Wochen. Besonders dramatisch ist das langsame Verschwinden der SPD: Niemand weiß mehr, wofür diese sich sozial (einst sozialistisch?) nennende Partei steht. Und wer weiß noch, was das „C“ der so genanten Volksparteien CDU/CSU bedeutet, außer: Abwehr der Sterbehilfe und Eintreten für Pro Life und für Privatschulen! Dabei ist auch durch die Vereinnahmung des Begriffes “Volk” durch rechtsextreme Parteien dieser Begriff Volk ohnehin problematisch geworden. Wer gehört denn zum so genannten deutschen Volk? Nur die AFD Mitglieder und Wähler etwa? Nicht aber die seit langem hier lebenden Deutschen (mit deutschem Pass) etwa türkischer Herkunft? Auch die Menschen, die als Flüchtlinge hier Zuflucht suchen und finden, gehören zum “deutschen Volk”. Sie sind doch nicht auf ewig Staatenlose!.Von daher ist es gut, dass der Begriff Volks-Partei auch langsam verschwindet.Zumal Volk und Nation bzw. Nationalismus eng verbunden sind. Nationalismus aber das Grundübel unserer Welt ist.
2.
Es drängt sich eine weitere Erkenntnis auf, und dies ist überhaupt keine Attacke eines philosophischen Religionskritikers: Auch die so genannten Volkskirchen werden als Großorganisationen verschwinden. In England sind diese Kirchen längst verschwunden, genauso in Frankreich, in Spanien, in den Niederlanden, Belgien, selbst in Irland: Überall dasselbe Bild. Ich will diese Erkenntnis nicht durch tausend Belege ins Endlose steigern. Denn die Erkenntnis vom Ende der Volkskirchen in Europa ist eine unumstößliche religionssoziologische Tatsache. Die Menschen, vor allem die Jüngeren, distanzieren sich von den einst sich Volkskirchen nennenden Kirchen. Wenn es diese Volkskirchen als Versammlung unterschiedlicher Menschen unterschiedlicher Kulturen und unterschiedlicher Lebenseinstellungen denn jemals gegeben hat: Dann wäre der Verlust dieser offenen, von Gleichberechtigung aller Mitglieder geprägten Volkskirchen tatsächlich ein Verlust. Aber diese offenen, all-umfassenden, d.h. im Wortsinne katholischen Volkskirchen hat es wohl nie de facto gegeben. Die Volkskirchen hatten stets den Mief des Kleinbürgerlichen, Anti-Intellektuellen und Autoritären gehabt. Und die Restbestände dieser Volkskirchen haben noch immer diese “Qualitäten”. Oder kann mir jemand Intellektuelle, Künstler, Wissenschaftler, Journalisten nennen, die sich explizit etwa zur katholischen “Volkskirche” in Deutschland oder in Holland oder in Frankreich bekennen und diese auch verteidigen und mit ihren freien Beiträgen auch verändern und “bereichern”? Das Eintreten für die Volkskirchen leisten sich nur noch Katholiken, die von der Institution fest angestellt sind und von der Instutution bezahlt werden.
3.
Für Deutschland lautet die neueste Prognose der Forscher-Gruppe um Bernd Raffelhüschen: In 40 Jahren, also 2060, „haben die Kirchen in Deutschland halb so viele Mitglieder und halb so viel Geld wie heute“. Auch diese Studie wurde mehrfach diskutiert. Wenn denn diese „Halbierung“ nicht schon viel früher kommt. Und sie versetzt die Kirchenführungen in eine gewisse Krise, und zwar vor allem: Weil das Geld knapper wird.
4.
Selbst die Kirchenmitglieder wissen nicht genau, wofür diese Kirchen eigentlich noch stehen: Sind es die Weihnachtsgottesdienste, die noch ein bisschen dafür sorgen, dass die Menschen noch Mitglieder der Kirchen bleiben, oder die Wallfahrten oder die Konfirmations/ Erstkomunions-Festlichkeiten, oder die soziale Arbeit in „Trägerschaft“ der Kirchen-Institutionen, wobei der Staat ganz überwiegend dafür das Geld gibt…Vielleicht bleiben viele noch Kirchenmitglieder, weil diese Kirchen gut eingepasst sind in die bürgerliche Ordnung. Bürgerliche „Werte“ vertreten. Klar ist: Diese Kirchen stören nicht den staatlichen Betrieb. Sie fordern mal dies und mal das, überall ein bisschen mehr Gerechtigkeit, aber keine globalen Veränderungen oder Revolutionen zugunsten des Lebens der Zweidrittel hungernder Menschen weltweit. Zugunsten einer radikalen, aber hilfreichen Klimapolitik usw.
5.
Wer wirklich weiter kommen will in der Auseinandersetzung mit dieser Frage, muss sehen: Die Menschen haben kein Interesse mehr an diesen Volks-Kirchen, keineswegs nur, weil so viele Priester des sexuellen Missbrauchs überführt wurden; nicht nur weil der Klerus und die Pfarrerschaft so viel Herrschaft nach wie vor haben.
6.
Allein diese Erkenntnis ist wichtig, und sie wird viel zu wenig diskutiert: Die Menschen verlassen die Kirchen, weil sie mit den tradierten und immer wiederholten und gedankenlos nachgesprochenen LEHREN dieser Kirche nichts mehr anfangen können. Die Kirchen sind dermaßen an die alten Dogmen seit dem 3. Jahrhundert gebunden, dass sie keine Kraft haben: Heutiges Leben im Transzendenz-Horizont zu erzählen und zu deuten. Sie verwenden in den Gottesdiensten und den Predigten allzu oft erstarrte Formeln und Floskeln, die niemand als Deutung der eigenen Existenz versteht. Wer etwa die offiziellen Weihnachtslieder in den Kirchen noch mitsingt oder die Karfreitags-Ostern -Choräle, der muss förmlich seine Vernunft ausschalten und wie in eine ferne Märchenwelt flüchten. So werden Gottesdienste zu Orten sentimentaler Kindheitserinnerungen. Man hat vielleicht Tränen in den Augen, aber seelisches Reifen, ein neues Miteinander, passiert nicht.
7.
Mit anderen Worten: Die Kirchen verschwinden gerade wegen ihres so orthodoxen, so korrekten Festhaltens an den alten Dogmen.
8.
Sie verschwinden, weil sie keine Kraft haben, die alte Liturgie im Gottesdienst beiseite zu stellen und ganz neu Feiern des Lebens, Feiern des Suchens, Feiern der Transzendenz in den Kirchen zu gestalten. In den Kircheninstitutionen herrscht totale Angst, „Wesentliches“ aufzugeben, gerade deswegen leeren sich die Kirchen permanent. Wegen dieses Festhaltens an uralten, aber leer gewordenen Lehren. Die Kircheninstitutionen werden wohl keine Kraft mehr zu haben, ihre Lehren und Gesetze sehr schnell und kräftig zu entrümpeln. Die Starre herrscht vor und die starren Herrscher haben das Sagen. So werden die Kirchen förmlich an ihrer eigenen Traditionstreue unsanft entschlafen. Was es heißt, „Einfach zu glauben“, habe ich immer wieder versucht zu beschreiben, auch im Zusammenhang der neuen liberalen Theologie, für die sich auch der protestantische Theologe Wilhelm Gräb einsetzt. In Holland ist die protestantische Remonstranten Kirche die einzige, die für eine konsequent liberale Theologie eintritt.
9.
Das Verschwinden der Volkskirchen führt vor allem philosophisch zu der Frage: Wer tritt dann noch für Transzendenz ein, wer stellt noch die Gottesfrage. Dabei ist klar: Der Gott dieser Volkskirchen war der griffige Gott, der handhabbare, der als Herrscher gefürchtet, als lieber Gott wiederum verehrt wurde. Wie viel Aberglaube in Form des maßlosen Wunderglaubens wurde von den Kirchen verbreitet? Pater Pio, der angeblich stigmatisierte Volksheilige, ist bekanntlich in Italien bekannter als Jesus Christus. Tatsache ist: Der weitverbreitete Wunderglaube stört die Entwicklung kritischer Vernunft, auch im politischen Bereich. Der irrationale Volksglaube und die irrationale Politik sind eng verklammert. Auch das wird zu selten untersucht: Ist die Kirchenführung korrupt, wie in Italien, Spanien und Lateinamerika, leisten sich die Menschen guten Gewissens auch die Freiheit, wie der “vorbildliche” Klerus selbst korrupt zu sein, siehe Italien heute wie gestern.
10.
Philosophisch muss man sich dringend die Frage stellen: Wo wird die Frage nach der Transzendenz, die Frage nach dem Göttlichen, neu gestellt, ohne naiven Wunderglauben, ohne klerikale Bevormundung?
11.
Es müssten viele Orte entstehen, in denen in aller intellektuellen Freiheit um diese Fragen gerungen werden kann. Dies wären Plätze, die man “Orte und Schulen des Lebens” nennen könnte, wo Menschen selbst bestimmt im Dialog zu einem reifen Verständnis ihrer selbst und möglicherweise der Transzendenz gelangen. Dort kann auch die Mystik wieder entdeckt und gepflegt werden, die Mystik eines Meister Eckart oder eines Johannes vom Kreuz oder die Mystik Dietrich Bonhoeffers in den letzten Wochen seines Lebens,um nur Beispiele aus dem christlichen Bereich zu nennen.
12.
Das Ende der Volkskirchen stellt also neue Fragen nach der Zukunft und der entsprechenden Verbreitung religionsphilosophischer Gesprächskreise oder Salons.
13.
Was wird beim Ende der Volkskirchen aus den Treffpunkten, die nun einmal viele volkskirchliche Gemeinden haben? Bleiben sie weiterhin wie die vielen Kirchengebäude verschlossen? Werden die vielen zu Konzerthallen dann umgewandelten Kirchengebäude noch Orte religiöser Musik sein, werden sie Orte der Auseinandersetzung mit Kunst und Literatur und Philosophie werden? Orte der Verabredung für politische Aktionen zugunsten einer gerechten Gesellschaft?
14.
Wo kann in vernünftiger, argumentierender Weise noch von den Propheten der Bibel, und damit auch von Jesus von Nazareth, gesprochen werden? Wird prophetische Gesellschaftskritik noch einen Platz haben?
15.
In jedem Fall kann das Ende der Volkskirchen eine Chance sein, so dass jeder sich selbst fragt: Was ist eigentlich der Mittelpunkt meines Lebens? Wo will ich hin, welches Leben will ich selber führen in dieser verrückten Welt? Insofern kann das Ende der Volkskirchen auch einen neuen Aufschwung bieten für eine neue Vielfalt spiritueller Gruppen.
16.
Vielleicht kann nun die plurale Verbundenheit mit mehreren spirituellen Traditionen besser gelebt werden, etwa Christentum-Buddhismus oder Christentum-Sufitraditionen; Christentum und skeptische Philosophie…
17.
Der Bedarf an Gesprächen wird also bleiben. Seelsorge, wenn man so will, wird wichtig bleiben; vielleicht werden die Menschen einander helfen, sich um ihre Seele zu sorgen. Und politisch gemeinsam zu handeln: Dass diese Welt nicht durch die Verblendung unfähiger Politiker und raffsüchtiger Ökonomen untergeht. Dass die gestressten Pfarrer heute noch Seelsorger, qualifizierte Seelsorger sind, glaubt eigentlich niemand mehr so recht. Welcher Pfarrer ist schon bereit, mit anderen die Poesie der Seele, also das persönliche Beten, zu lehren? Geschweige denn, Meditieren zu lehren? Oder vernünftige Auskunft über den Glauben zu geben?
18.
Manche meinen, das Ende der Volkskirchen bewirkt den Aufstieg der so genannten Freikirchen, also der evangelikalen oder pfingstlerischen Kirchen und Gemeinschaften. Das mag faktisch so sein, weil diese Kirchen oft eine sehr emotionale Gemeinschaft bieten. Aber ihre theologische Lehre ist so schwach, so wenig vernünftig vermittelbar, dass diese so genannten Freikirchen keine Kraft haben, diese Welt vernünftig zu gestalten. Bestes Beispiel ist jetzt der brasilianische Präsident Bolsonaro, der als Ex-Katholik leidenschaftliches Mitglied einer dieser Freikirchen ist: Seine politische Konzeption und Herrschaft nennen viele objektive Beobachter einfach nur faschistisch. Aber: Der Widerstand gegen diesen Wahn regt sich! Vielleicht wird Bolsonaros Freund, Mister Trump, endlich durch eine Art Aufstand der Anständigen in den USA aus dem Amt gefegt. Aber auch dort sind es die Evangelikalen und Pfingstler, die an Mister Trump, stur und dumm festhalten. Die einst machtvollen „mainline-Churches“, also gewissermaßen Volkskirchen der USA, sind ebenfalls zu schwach, wie die Episcopals, einige Lutheraner, Presbyterians usw…Die Katholiken sind heillos zerstritten und müssen alle Energien aufwenden, um die maßlosen Verbrechen vieler Priester „aufzuarbeiten“. Der sexueller Missbrauch im Klerus verhindert also den kritischen gesellschaftlichen Elan.
19.
Dringend wäre ein Bündnis mit den jungen Menschen, die etwa in den Friday-for-future-Demos die Bewahrung der Natur und der Menschen JETZT einfordern. Diese Bewegungen junger Menschen sind außerhalb der Kirchen entstanden, das ist bezeichnend. Vielleicht sollten wir uns also nicht zu viele Sorgen machen, wenn die Volkskirchen klein und kleiner werden. Der Geist, der heilige, weht eben wo er will und wann er will: Und der Geist weht in diesen Bewegungen junger Menschen, ohne dass man diese gleich heilig sprechen muss. Aber in allem Nein zu lebensfeindlichen und unvernünftigen politischen Konzepten der kapitalistischen Herrschaft zeigt sich der Geist der heilige. Der heilige Geist liebt das Nein, die dialektische Bewegtheit, das lehrt uns Hegel.
20.
Wie auch immer es mit den „Volkskirchen“ weitergeht: Ihr Ende haben sie zum großen Teil selbst zu verantworten. Schuld daran sind sie selbst wegen ihrer dogmatischen Erstarrung und bürokratischen „Herrlichkeit“. Und nicht, wie etwa der Religionssoziologe Detlef Pollack vermutet (in: Christ und Welt, 29. Mai 2019, Seite 1) ist verantwortlich zu machen „das wachsende Einkommen heute“, womit sich „immer mehr Menschen die säkularen Waren -und Freizeitangebote leisten“. Solche Äußerlichkeiten, „wachsendes Einkommen“, zählen nicht!
Zu fragen wäre ja, ob denn tatsächlich in den Blütezeiten der Volkskirchen, als man noch um 1900 riesige Kirchen mit 1000 Sitzplätzen baute, tatsächlich die Kirchgänger und Kirchenmitglieder freiwillig und aus Überzeugung und innerem Bewegtsein die Gottesdienste besuchten. Studien zeigen: Dies waren meist nur äußerliche, oft von den Arbeitgebern erzwungene Kirchenbindungen. Sonst hätten sich doch nicht Christen aus Deutschland und Christen aus Frankreich in dem Getümmel des Ersten Weltkrieges gegenseitig totgeschlagen. Die Volkskirchen offenbaren also ihre innere Schwäche. Sie haben die Menschen nicht nachhaltig geprägt, nicht friedlicher gemacht, sondern eher noch im Nationalismus, dieser Ursünde, bestärkt.
21.
Ist es also so “schlimm”, wenn diese Volkskirchen zur Minderheit werden? Ich meine: Eher nicht. Denn: Der Geist, der heilige, weht wo er will (vgl. Johannes Evangelium 3,18). Er weht auch vermehrt außerhalb der Kirchen, in den Aktionen zugunsten der Menschenrechte z.B., im Kampf gegen Nationalismus und Rassismus, im Eintreten für den Schutz der noch verbliebenen Natur…Es gibt ja bekanntlich in der philosophischen Überzeugung eine große “Kirche“ der Menschen außerhalb der (Volks)Kirchen, also die Gemeinschaft derer, die sich vom Geist, der Vernunft und der Empathie leiten lassen. Für den Propheten Jesus von Nazareth war dies am wichtigsten im Leben eines Menschen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Theologie für die Öffentlichkeit? Ein Interview mit Prof. Wilhelm Gräb

Theologie für die Öffentlichkeit?

Ein Interview mit Prof. Wilhelm Gräb, Theologe an der Humboldt Universität zu Berlin

Die Fragen stellte Christian Modehn am 21. März 2014

Trotz zahlreicher theologischer Fakultäten in Deutschland haben doch viele Beobachter den Eindruck, dass evangelische – wie auch katholische – Theologie in der Öffentlichkeit keine sichtbare Rolle mehr spielt, verglichen etwa mit den Jahren 1970, als Bücher von Theologen in allgemeinen Buchhandlungen zu Tausenden verkauft wurden. Man denke auch an die populären Bücher etwa von Heinz Zahrnt oder Hans Küng. Heute gibt es ja auch kaum noch theologische Buchhandlungen. Wie erklären Sie die geringe Sichtbarkeit theologischen Denkens in der Öffentlichkeit?

Es gibt kaum noch theologische Buchhandlungen, aber deren Esoterik-Abteilungen werden immer größer. Milliardenumsätze werden mit einer für Religionsfragen offenen Lebensberatungsliteratur gemacht. Öffentliche Theologie konnten in den 1970er Jahren in der Tat noch Theologen wie Heinz  Zahrnt oder Hans Küng betreiben. Dass sie öffentliche Aufmerksamkeit fanden, hing freilich entscheidend auch damit zusammen, dass damals beide Kirchen noch gewissermaßen ein Monopol  für Religion hatten. Heute haben wir einen religiösen Markt, auf dem sich viele Anbieter tummeln, seriöse und weniger seriöse – wobei auch professionelle Theologen und Kirchenleute auf diesem Markt erfolgreich sind, allerdings zumeist eher die weniger seriösen, wie z.B. Margot Käßmann.

Mein Eindruck ist freilich, dass es Autoren, die nichts mit Kirche und Theologie zu tun haben, denen es aber gelingt, die existentiell-religiösen Lebensfragen aufzunehmen, das öffentliche Interesse an Religion, von dem ich keineswegs glaube, dass es weniger geworden ist, aufzunehmen vermögen. Ich denke da etwa an den Komiker und Fernsehmoderator Hape Kerkeling, der aus seinen Reflexionen auf dem Jakobs-Weg einen Bestseller gemacht hat („Ich bin dann mal weg“), an die Bücher von Rüdiger Safranski, insbesondere das über die „Romantik“, an die Bücher des Philosophen Wilhelm Schmid über die „Lebenskunst“ und den „Sinn des Lebens“, an die Bücher des von der analytischen Schulphilosophie in Literatenfach gewechselten Peter Bieri, vor allem das über die „menschliche Würde“.  Dieses Buch von Peter Bieri , der unter dem Pseudonym Pascal Mercier mit seinem „Nachtzug nach Lissabon“ eine große Leserschaft gefunden hat, beschäftigt sich mit der einen Frage, die auch die Grundfrage der Religion ist: „Was ist das eigentlich für ein Leben, das wir da als Menschen leben müssen?“ Und Bieri’s Absicht ist keine andere, als, wie er sagt, „den Leser in meine Gedankengänge zu verwickeln und ihn zum Komplizen zu machen im leidenschaftlichen Versuch Klarheit zu gewinnen“. Klarheit über sich selbst, über die eigene Art zu leben will er gewinnen, über die Gefährdungen, die das zerbrechliche Leben mit sich bringt und die Möglichkeiten, die sich zeigen, diese Gefährdungen einigermaßen in Schach zu halten.  Was Bieri verspricht, sind keine neuen Erkenntnisse, schon gar keine Heilsversprechen, die er von höherer Warte aus zu geben in der Lage wäre. Am Ende der Einleitung sagt er etwas, wovon ich denke, dass es heute auch die angemessene Art der religiösen Rede, auch der Predigt als religiöser Rede, ist. Bieri wünscht sich einen Leser, der am Ende sagt: „Nichts von dem, was ich gelesen hat, war mir wirklich neu. Vieles habe ich wiedererkannt. Aber ich bin froh, dass einer es in Worte gefasst und im Zusammenhang dargestellt hat. Und froh bin ich auch, dass er nicht verschweigt, wie vieles an den Rändern der Gedanken unklar und unsicher bleibt.“

Wie gesagt, am mangelnden Interesse an den existentiell-religiösen Lebensfragen liegt es nicht, dass die Theologie ihre öffentliche Resonanz verloren hat.

Die Theologie hat ihren kirchlichen Geltungsschutz verloren. Nun müsste sie damit Aufmerksamkeit gewinnen, dass sie zu einer tieferen Selbstverständigung unseres Lebens beiträgt und die Potentiale der biblischen und theologischen Überlieferungen dafür fruchtbar zu machen versteht. Doch angesichts dieser Herausforderung ist ein nahezu komplettes Versagen zu konstatieren.
Liegt das eher geringe öffentliche Interesse an der christlichen Theologie, das ja auch in Holland, Frankreich, Spanien usw. zu beobachten ist, auch an der (oft komplizierten) Form der Darstellung theologischer Gedanken, vielleicht vor allem auch an den dogmatischen Inhalten, die immer noch – seit Jahrhunderten – übermittelt werden?

Die Wirklichkeit unseres Lebens ist komplizierter als es jeder Versuch, sie in Worte zu fassen, zu sein vermag. Das ist nicht das Problem, dass Theologie kompliziert ist.  Die Kompliziertheit theologischer Texte wird dann ärgerlich, wenn sie dem Imponiergehabe im binnentheologischem Diskurs entspringt. Und ein gravierendes Problem ist dann sehr oft natürlich auch, dass die Theologie die Binnenlogik theologischer Denkfiguren, die schon längst den Anschluss an die existentiell-religiösen Lebensfragen der Menschen verloren haben, höchst aufwändig und mit gesteigerter Argumentationsschärfe verteidigt. Statt zu fragen, was aus der biblischen und dogmatischen Überlieferung für die Artikulation des Sinns, den die Religion heute hat, zu lernen ist, bemüht die Theologie sich darum, den Glaubensausdruck vergangener Zeit für die je eigen Gegenwart verbindlich zu halten. Das ist ein verkrampftes Unternehmen und produziert Kompliziertheit, die von der Sache her nicht gerechtfertigt ist.

Könnte Theologie wieder neu in den öffentlichen Disput treten, wenn die Theologen, also auch schon die Pfarrerinnen und Pfarrer, eine breitere Ausbildung erhielten, also etwa auch Literatur und Kunst, oder wahlweise eben auch Psychologie oder Religionswissenschaft, intensiver studieren sollten?

Ich plädiere ja schon lange für eine Neuausrichtung des Theologiestudiums, weg von der historisch-philologischen und den theologischen Binnendiskurs führenden Theologentheologie, hin zu einer religions- und kulturhermeneutischen Theologie. Diese hätte zum einen die biblische und theologische Überlieferung daraufhin zu untersuchen, mit welchen Deutungsmustern menschlichen Sich-Selbst-Verstehens sie auch uns Heutige inspirieren kann. Sie hätte zum anderen den religiösen Motiven nachzugehen, die sich in der ästhetischen Kultur der Gegenwart finden und dort oft große Aufmerksamkeit finden. D.h. dann, nach der Religion in Musik und Literatur, Kunst und Theater zu fragen. Vor allem die Literatur, Kultur- und Medienwissenschaften sind von daher für die Theologie heute ganz wichtige Gesprächspartner.

Die Frage nach der Zukunft der Theologie ist ja kein Randthema, denn ohne eine kritisch erneuerte, muntere und Neues wagende Theologie wird wohl auch die Kirche selbst nicht in Schwung kommen. Welche Hinweise hätten Sie da den kirchenleitenden Gremien und den Gemeinden vorzuschlagen?

Ich muss gestehen, dass mir zu dieser Frage nichts mehr einfällt. Von den kirchenleitenden Gremien erwarte ich auf absehbare Zeit kein Umdenken. Sie waren an Theologie ohnehin eigentlich noch nie interessiert. Ihnen geht es um kirchliche Machterhaltung. Was dieser theologisch nützlich erscheint, wird dann als „theologische Begründung“ kirchlichen Handelns ausgegeben. Anders sieht es freilich in den Gemeinden aus, sofern die Gemeinden die Menschen sind, die der Kirche (noch) zugehören. Unter ihnen sind viele, die auf eine ihr merkwürdiges Leben zum besseren Verständnis bringende religiöse Ansprache warten.

Copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Belin

Wege der Kunst – Wege zu Gott?

Wege der Kunst – Wege zu Gott?

Von Prof. Wilhelm Gräb. Der Beitrag wurde am 6. August 2012 publiziert.

Die Fragen stellte Christian Modehn

Das Interesse an Kunst, wie es sich etwa im Besuch von Kirchen, Kathedralen und Museen zeigt, ist ungebrochen groß. Zeigt sich da Ihrer Meinung nach mehr als ein „übliches Kulturinteresse“, etwa ein „Ausstieg“ aus dem Alltag?

Wenn wir eine gotische Kathedrale wie etwa den Kölner Dom betreten, spüren wir unwillkürlich, dass wir an einem anderen Ort sind. Der Raum öffnet sich ins Hohe wie in die Tiefe. Wir machen in der Tat die Erfahrung des Eingang in eine dem Alltag enthobene Wirklichkeit. Das besondere dieser anderen Wirklichkeit ist, dass sie uns auf eigentümliche Weise berührt. Wir fühlen uns angesprochen, in etwas ausgesetzt, das uns sagt: „Tua res agitur“, „Deine eigene Sache wird hier verhandelt“.

Das ist die Erfahrung, die wir in Kirchen machen können, auch modernen Kirchen wie etwa in der berühmten Walfahrtskirche, die Le Corbusier in Ronchamp, Frankreich, gebaut hat. Dort sind es die kubischen Fensteröffnungen in einem alles Rechteckige und Quadratische von sich abweisenden, in sich zurück gebogenen Raum, die die Erfahrung geradezu einer Lichtoffenbarung machen lassen. Die ganz besondere Raumatmosphäre macht es, dass wir aus unserer Selbstbezüglichkeit herausgeführt werden. Es kann uns aufgehen, dass wir, diese in selbst verkrümmten Wesen, doch zu einer sehr viel größeren Wirklichkeit gehören, ja Teil eines unendlich Ganzen sind. Doch das Universum ist – entgegen aller physikalischen Erkenntnis – nicht stumm, nicht abweisend. Im Gegenteil, es spricht uns an, es hebt uns über uns selbst hinaus, lässt uns aufatmen, gibt uns neue Kraft.

Was ich so zu beschreiben versucht habe ist eine ästhetische Erfahrung, die zugleich auf ihr innewohnende religiöse Momente hin durchsichtig wird, eine ästhetische Erfahrung, die zur Gotteserfahrung werden kann.

Wir können sie überall machen, wo uns ästhetische Erfahrungen, also sinnlich beeindruckenden Sinnerfahrungen geschehen, nicht nur in Kirchen, auch vor großen Werken der Kunst und im Musikerleben, auch vor dem Naturschönen, bei einem Waldspaziergang, am Meeresstrand, oder auf einer Bergwanderung. Immer hat unser ästhetisches Erleben die Chance, ein religiöses Empfinden zu wecken und zu stärken. Religiös ist dieses Empfinden, weil es den meditativen Gedanken bei sich hat, leicht jedenfalls auf sich ziehen kann, dass wir doch in die letztlich fremde, verkehrte Welt passen, dass es ein Glück ist, da zu sein und das Leben genießen zu können. Voll Dankbarkeit! Wem das Religiöse im ästhetischen Erleben bewusst wird, der wird dem empfundenen Dank auch Ausdruck geben wollen – indem er vor seinem Schöpfer auf die Knie fällt. Weiterlesen ⇘

Die “liberale Theologie” ist aktuell. Perspektiven von Prof. Wilhelm Gräb

Über die “liberale Theologie”

Einige Perspektiven anlässlich einer Begegnung mit Remonstranten in Berlin am 5. 11.2011

Von Prof. Wilhelm Gräb, Theologe an der Humboldt Universtität zu Berlin

Bedeutung und Aktualität der „liberalen Theologie“ sind für mich deutlich auf die säkulare Situation einer Stadt wie Berlin oder anderer Großstädte in Europa und Amerika bezogen. Dort haben die  Kirchen Mühe, ihre Mitglieder an die Kirche zu binden.

Andererseits bekommen die Menschen von heute die Religion nicht aus dem Blick. Es ist ein Bedürfnis da nach letzter Vergewisserung des Lebenssinns, auch an den Bruchstellen des Lebens, in Krisensituationen z.B.  Aber nicht nur dort. Es ist vielmehr ein Verlangen da, das Leben gesteigert zu erfahren, etwa in der so genannten Eventkultur. Aber auch die Präsenz religiöser Themen in den Medien ist deutlich, etwa in den Talkshows. Also, dass es mit der Religion bergab ginge, so lautet ja eine Interpretation unserer säkularen Gesellschaft, das ist für mich nicht zutreffend. Es gibt sicher einen Resonanzverlust des kirchlichen Christentums, vor allem in der Reformierten Kirche oder der Lutherischen Kirche, und derer, die man in den USA „main line churches“ nennt.

Aber dieser Resonanzverlust der Kirchen liegt daran, dass dort eine Sprache gesprochen wird, die die Menschen nicht mehr verstehen.

Da ist der Glaube in Formeln eingepackt, die nur Insidern noch zugänglich sind. Der große Sozialphilosoph Niklas Luhmann hat das einmal „Gruppensemantik“ genannt, die in den Kirchen gesprochen wird.

Für „liberale Theologie“ ist also eine Unterscheidung wichtig: Es gibt  einerseits das religiöse Interesse bzw. es gibt Religion im christlichen Gesamtkontext. Und andererseits gibt es die Art, wie in Predigten, Theologien, kirchlichen Texten usw. darüber gesprochen wird. Dort wird der Glaube immer noch mit der Anerkennung bestimmter Glaubenslehren und Bekenntnissätzen gleichgesetzt.

Die „liberale Theologie“ meint: Dieser Glaubensausdruck ist nicht vorgeschrieben, er ist nicht durch Bibel und Bekenntnis vorgeschrieben, sondern der Glaubensausdruck muss in einer bestimmten Zeit und im Blick auf die eigene Person immer wieder neu gefunden werden. Jeder hat die Freiheit, wie er seinen Glauben ausdrückt und welche Konsequenzen er daraus in seiner Lebenspraxis zieht. Nicht auf das autoritativ Vorgegebene kommt es an, sondern auf die persönliche Entscheidungsfreiheit des einzelnen.

Ich muss als liberaler Theologie nicht glauben, was die Kirche zu glauben von mir verlangt, sondern das jenige, wovon ich selber persönlich überzeugt bin. Das ist der Grundsatz liberaler Theologie.

Glaube ist eine persönliche Angelegenheit eines jeden Menschen.

Und die Kirche? Sie ist  im Grunde nur dazu da, dass wir über diesen Glauben miteinander ins Gespräch kommen, dass wir ihn nicht allein leben, dass wir andere als Gesprächspartner haben über das, was uns allen persönlich wichtig ist, wenn es um Gott geht, wenn es darum geht, woran wir uns in letzter Instanz orientieren. Die Kirche ist eine Kommunikationsgemeinschaft des Glaubens. Sie ist dem Glauben der einzelnen nicht vor geordnet, sondern die Kirche folgt aus der Tatsache, dass der Glaube den einzelnen so wichtig ist, dass sie mit den anderen darüber sprechen möchten und ihn feiern wollen. Da wird nichts von oben und anderswoher vorgeschrieben.

Wenn Diskussionen entstehen und nach Kriterien gefragt wird, dann sind die Kriterien nicht dogmatischer Natur, sondern es sind eher ethische Kriterien des Umgangs mit einander; es sind Kriterien, wo die Frage aufbricht: Gibt es auch destruktive Glaubensüberzeugungen, solche, die den Menschen menschlich nicht gut tun, etwa, wenn sie an den Teufel glauben oder an böse Mächte, von denen sie dann befallen sein können.

Für liberale Theologie ist auch die Kultur ganz wichtig: Denn persönlicher Glaube kann überall dort entstehen, wo ich Erfahrungen mache, die eine tiefe Resonanz in mir auslösen, wo ich mich angesprochen finde gegenüber dem, was in meinem Leben wichtig ist, wo Sinn – Perspektiven erschlossen werden. Das kann die Erfahrung in einem Konzert sein, so, dass ich merke: Ich bin Teil eines größeren Ganzen, da entstehen Resonanzen in mir, die mich sehr tief mein Dasein in dieser Welt spüren lassen; da erfahre ich das, was der Theologe  Friedrich Schleiermacher das Universum genannt hat, also die alles bestimmenden Wirklichkeit, die wir dann Gott nennen, die Erfahrung also, dass wir uns aufgehoben fühlen in einem großen Ganzen.

Diese Erfahrung kann sich auch beim Hören einer Symphonie von Mahler ereignen, die ein solches Empfinden in mir weckt, dass die Wirklichkeit im Vorhandenen nicht aufgeht, dass es eine Dimension der Transzendenz gibt, von der wir uns getragen wissen können. Diese Erfahrung kann in der bildenden Kunst geschehen oder auch im Kino, wo ich spüre: Diese Geschichte geht auch mich an.

Darum noch einmal: Alle Lehren über Glaubenssätze sind sekundär gegenüber dem – eben nur angedeuteten – Erlebten, das ist Kern liberaler Theologie. Mit der religiösen Erfahrung fängt die Religion an, also mit der Erfahrung, dass ich einer umfassenden Wirklichkeit zugehöre, einem größeren Ganzen, das mich im Leben trägt. Da spüre ich mich lebendig, wenn ich schwierige Erfahrungen zu verarbeiten habe usw. Also diese Dimension einer inneren Gewissheit, ist zentral.

Das religiöse Erleben ist immer das primäre, welche Sprache dann gefunden wird, ist sekundär. Allerdings meine ich, dass liberale Kirchen in ihren Gottesdiensten nicht so berücksichtigen, was andere Glaubensgemeinschaften praktizieren, nämlich eine Form der Emotionalität. Es geht nicht nur darum, über den Glauben zu „räsonieren“. Wir sollten auch in gewisser Weise „Erlebnis“ bieten im Gottesdienst, wenn wir das nicht schaffen, dann müssen wir bereit sein anzuerkennen, dass junge Leute heute im Pop Konzert das finden, was früher in der Religion oder in der Kirche gefunden wurde.

Für liberale Theologie kommt es nicht in Frage, den Religionsbegriff zu verengen, man neigt ja oft dazu, den Religionsbegriff abhängig zu machen von bestimmten Glaubensinhalten. So dass man sagt: Jemand ist gläubig, wenn er zur Kirche geht und bestimmte Dogmen glaubt. Wir vertreten ein weites Verständnis von Religion: Es ist das Berührtwerden von einer Dimension des Unbedingten in der Kultur. Liberale Kirchen nehmen deswegen Abstand von eher fundamentalistischen Theologien und Kirchen, die ja noch stark am Paradigma der Mission festhalten, also der Bekehrung der Menschen hin zur vorgegebenen Überzeugung der eigenen Kirche.  Wir als liberale Theologen gehen hingegen nicht davon aus, dass die Menschen erst zum Glauben kommen müssen, wie es das Missionsparadigma vorsieht. Als liberale Theologen setzen wir voraus: Da ist immer schon eine religiöse Erfahrung in den Menschen, da ist immer schon eine Erfahrung mit dem Unendlichen, diese haben die Leute längst gemacht. Jeder hat seine eigenen religiösen Gedanken, im religionsleeren Raum lebt keiner hier zulande, in den Gebieten der ehemaligen DDR ist das vielleicht anders, das ist ein eigenes Thema.

Liberale Theologie unterstreicht: Die Menschen haben bereits ihren Glauben. Die Kirche wird aber deswegen nicht überflüssig, wir brauchen Orte, wo man das Erlebte miteinander gestalten kann, wo man etwa an den großen Stationen des Lebens religiöse Feiern gestaltet, etwa bei der Geburt oder bei der Trauung. Wer sich den Menschen religiös zuwendet, redet so, dass die Menschen auf ihre Art Glaubende sind. Ich mache ihnen bewusst, was sie glauben, biete ihnen Vorschläge an, das Erfahrene sprachlich auszudrücken.

Ich bin sozusagen die „Hebamme“ für die anderen, den eigenen Glauben auszudrücken. Auch das Beten kann dann neu verstanden werden: Beten heißt, dass ich mich ausspreche, sage, was mich zutiefst bewegt, und zwar in letzter Hinsicht, bezogen auf die Transzendenz, auf Gott. Im Beten geschieht eine gesteigerte Form der Selbstreflexion, ich verstehe mich dann im Horizont des Unbedingten, spreche mich aus. Ich brauche das als religiöser Mensch.

copyright:religionsphilosophischer-salon.de

 

 

 

 

 

 

 

 

Ein leidenschaftlicher Theologe. Zur Aktualität von Paul Tillich

Der protestantische Theologe Paul Tillich hat nach wie vor interessante Vorschläge zu machen: Wo kann der Mensch das Unbedingte erfahren? Welche Bedeutung hat die Kultur/haben die Kulturen, wenn es um die Entdeckung des Göttlichen geht? Welche Rolle spielt dabei die Kirche? Welche Bedeutung hat die Philosophie für das vernünftige Reden von Gott? Der folgende Text ist eine längere Fassung eines Beitrags für das Kulturradio des RBB am 21. 8. 2011.

Ein leidenschaftlicher Theologe
Erinnerungen an Paul Tillich
Von Christian Modehn
…Die kürzere Fassung dieses Beitrags wurde im im RBB Kulturradio am 21.8.2011 gesendet…
Copyright: christian modehn

Musikal. Zusp.,

O TON, Christian DANZ,
Grundlegend muss man auch sehen, dass Tillich sehr stark auf moderne Fragestellungen sich bezieht, so dass er relativ breit religiöse Phänomene auch über die Kirchengrenzen und Christentumsgrenzen hinaus identifizieren kann.

1. Musikal. Zusp.,

O TON, Werner Schüssler
Er will dem säkularen Menschen deutlich machen: Wenn er in seine Tiefe vorstößt, dann findet er vielleicht, was man Religiosität nennen könnte.

Musikal. Zusp.,

O TON, Wilhelm Gräb
Er war ein Weltmann, man könnte dann auch sagen, ein Lebemann, der alle frommen Zirkel und bestimmte rigide Normen, die für besonders christlich gehalten werden, sich nicht hat gefallen lassen.

Musikal. Zusp.,

O TON, Gräb, 0 39“
Die große Leistung von Paul Tillich war, und womit er für uns auch heute noch Maßstäbe setzt: Er hat Gott in der Kultur entdeckt. Gott ist nicht nur in der Kirche zu Hause, er ist in erster Linie gerade nicht in der Kirche zuhause, sondern in der Kunst, in der Literatur, in der Musik. Natürlich ist das Kunstwerk nicht selber eine religiöse Wirklichkeit. Aber es bringt mich in Kontakt mit der transzendenten Wirklichkeit, mit einem Sinnzusammenhang, und wo das
geschieht, dort ist für Menschen auch ein gottesdienstliches Geschehen da, das ist gerade nicht an den Ort der Kirche gebunden.

1. SPR.:
Professor Wilhelm Gräb von der Humboldt Universität zu Berlin berichtet über Paul Tillich, einen der außergewöhnlichen Theologen des 20. Jahrhunderts. Er wurde vor 125 Jahren, am 20. August 1886, in Starzeddel geboren, einem Dorf in der Nähe von Guben; es gehörte damals zur „Provinz Brandenburg“. Sein Vater war dort Pfarrer, ein begabter Theologe, der sich nicht nur mit der Bibel befasste. Er weckte bei seinem Sohn sehr früh schon die Begeisterung für die Philosophie. Im Jahr 1900 zog die Familie nach Berlin. Nach dem Abitur studierte Paul Tillich in Berlin, Tübingen und Halle. An der Philosophie schätzte er die Weite des Denkens und das unablässige Fragen. Nur auf dieser Basis wollte er Theologe sein und den Glauben an Jesus Christus interpretieren. Denken und Glauben sollten nicht länger als Konkurrenten gelten. Tillich wollte Grenzen überschreiten, Getrenntes verbinden. Daran erinnerte er noch 1962, als er in Frankfurt mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels geehrt wurde.

O TON, Tillich, 0 44“
Das Dasein auf der Grenze, die Grenzsituation, ist voller Spannung und Bewegung. Sie ist in Wirklichkeit kein Stehen, sondern ein Überschreiten, ein Zurückkehren, ein Wiederzurückkehren, ein Wieder Überschreiten, ein Hin und Her, dessen Ziel es ist, ein Drittes, jenseits der begrenzten Gebiete zu schaffen, etwas, auf dem man für eine Zeit stehen kann, ohne in einem fest Begrenzten eingeschlossen zu sein.

1. SPR.:
Wenn sich Denken und Glauben gegenseitig anregen, entsteht ein „Drittes“, wie Tillich sagt, eine neue, eine moderne Religiosität. Sie lässt sich nicht in enge Mauern der Kirchen einschließen. Mit unverbrauchten Worten will Tillich den Glauben ausdrücken: Anstelle von Sünde spricht er von Seinsverfehlung. Christus nennt er das „neue Sein“; Gott wird zum Namen für das, „was die Menschen unbedingt angeht“.

1. SPR.:
Paul Tillich wird in Theologie und Philosophie promoviert, auch seine Habilitationen sind erfolgreich. 1912 wird er zum Pfarrer der „Brandenburgischen Landeskirche“ ordiniert. Unmittelbar danach beginnt er seinen Dienst als „Hilfsprediger“ in der Erlösergemeinde in Berlin – Moabit. Der dortige Pfarrer Wolfgang Massalsky hat nach den Spuren seines bedeutenden Kollegen geforscht:

O TON, Wolfgang Massalsky, 1 18“.
Es sind wohl ungefähr 20 Predigten in Moabit hier in der Erlöserkirche von ihm gehalten worden. Und diese Predigten konnte ich in einer Abschrift nur in Marburg einsehen. Und diese Predigten haben wir dann auch in einem Arbeitskreis behandelt. Es gibt immer einen Bezug zur Erfahrungswelt der Menschen damals. Dogmatische Fragen, Lehrfragen im eigentlichen Sinne spielten anscheinend gar nicht die große Rolle für ihn. Wichtig war ihm, das Leben in der Gesellschaft, das Leben im privaten Bereich vor allem auch, und sicher auch ein Stückweit das Leben in der Arbeitswelt. Er versucht die biblischen Sätze, die er als Predigttext benutzt, in den Horizont seiner Hörer herein zu bekommen; er versucht aber nicht durch eine Art Indoktrination sie zu gewinnen und sozusagen voll zustopfen mit christlicher Botschaft, sondern aus ihrer Erfahrungswelt heraus einen Zugang zu schaffen zu diesem Gott, der für ihn Jesus Christus greifbar und erlebbar geworden ist.

1. SPR.:
In Moabit gründet Tillich seine „offenen Salonabende“, Gesprächskreise, an denen Gläubige, Atheisten oder auch Anhänger esoterischer Zirkel teilnehmen. 1914 zieht er als Feldprediger an die vorderste Front. Er muss zusehen, wie Soldaten, Freunde wie Feinde, hingeschlachtet werden oder als Krüppel schwerste Verletzungen überlebten. In einem Brief schreibt er:

2. SPR..
Das Erleben des Krieges riss den Abgrund für mich so tief auf, dass er sich nie mehr schließen konnte. Mir wurde klar: Wenn es eine neue Theologie geben kann, dann muss sie dieser Erfahrung des Abgrundes unserer Existenz gerecht werden. Es ist ein Abgrund der Sinnlosigkeit.

1. SPR.:
Was ist das Leben? Was ist der Tod? Wie ist Frieden möglich? Fragen, die den Theologen und Philosophen sein Leben lang begleiten. In der Weimarer Republik ist er als Dozent und Professor in Berlin, Marburg und Dresden tätig, schließlich wird der nach Frankfurt am Main auf den angesehenen Lehrstuhl für Philosophie berufen. Theodor W. Adorno gehört dort zu seinen Doktoranden. Das Interesse an seinen Vorlesungen ist überwältigend. Tillich gelingt es, mit den Studenten gemeinsam nach dem Sinn des Lebens zu fragen.

O TON TILLICH , 0 22“
Der Mensch unserer Tage ist sich seiner Endlichkeit bewusst. Er kann nicht vergessen, dass er vom Nichts kommt und zum Nichts geht. Auch wenn er zugleich zu einer ewigen Dimension des Seins gehört. Die Angst vor dem Nichts mischt sich in ihm mit dem Mut, Ja zu sagen zum Dasein.

1. SPR.:
Viele Menschen schreiben ihm, berichten von ihrem seelischen Leid, der Suche nach einem tragfähigen Lebenssinn. Tillich, der Vielbeschäftigte, nimmt sich Zeit, auf jeden Brief persönlich zu antworten:

2. SPR.:
Man kann den Sinn finden in kleinsten und größten Dingen. Der Sinn kann niemals definiert, fest umschrieben oder gar griffig gehandhabt werden. Für mich ist Gott das grundlegende Symbol für den Sinn des Lebens. Er ist die Kraft des Seins. Daran glauben wir, wenn wir den Mut haben, Ja zu unserem Leben zu sagen, selbst wenn wir in unseren Worten die so genannte „Existenz Gottes“ verneinen.

1.SPR.:
Ob sich jemand gläubig oder ungläubig nennt, ist zweitrangig. Entscheidend ist, dass jeder Mensch das „Unbedingte“ mitten im Leben erfahren kann, betont Tillich:

O TON, Tillich. 0 21“
Es die Dimension, die sich zeigt, wenn die Fragen gestellt werden: Wofür bin ich da, warum ist irgendetwas da? Was ist der Grund, der Sinn allen Seins, was ist der Sinn meines Seins?

1. SPR.:
Tillich erinnert an das Licht, das sich noch in der Dunkelheit von Sinnlosigkeit und Angst zeigt. Und er fragt: Warum treten wir nicht aus dem Dunkel heraus, wechseln die Perspektive? Dann kann Religiosität entstehen. Über das besondere Glaubensverständnis Tillichs berichtet der evangelische Theologe Wilhelm Gräb von der Humboldt Universität :

O TON, Gräb, 0 55“.
Die Glaubenssprache redet nicht von einer anderen Wirklichkeit, sondern sie wirft einen anderen Blick auf diese Wirklichkeit, die wir hier und heute haben und leben. Sie lässt uns unsere Erfahrungen, die wir so oder so machen, anders deuten; sie bringt sie in eine andere Interpretationsperspektive. Das ist es, was die Sprache des Glaubens leistet. Sie lässt uns eben unsere Erfahrungen, die wir im Scheitern machen, die Erfahrungen, die wir in der Nichtstimmigkeit unserer Beziehung zu uns selbst wie zu anderen Menschen machen, als etwas sehen, das nicht was nicht unbedingt so sein muss, worin wir nicht aufgehen, sondern dass es da etwas gibt, was uns gleichwohl im Innersten zusammenhält, ja was diese Ganze im Innersten zusammenhält.

1.SPR.:
Aber Tillich weiß genau, dass Missgunst und Hass, Krieg und Gewalt „das Geheimnis allen Seins“ auch verdunkeln können. Der Sinn des Lebens muss immer neu errungen werden. Es sind vor allem Künstler, die dazu inspirieren, erläutert Wilhelm Gräb:

O TON, GRÄB, 0 26
Für Tillich waren das insbesondere die expressionistischen Maler, ein Ernst Ludwig Kirchner, Otto Dix, vor allen Dingen diejenigen expressionistischen Maler, die die Katastrophe des 1. Weltkriegs zu verarbeiten unternommen haben. Und eben dieser Appell ergeht, dass es so nicht weitergehen kann wie bisher, sondern Neues geschaffen werden muss.

1. SPR.:
Die neue, die gerechte Welt ist mehr als ein Traum, heißt Tillichs politische Überzeugung. Er fordert: Gerechtigkeit muss jetzt geschaffen werden! Mitstreiter findet er in der „Gruppe religiöser Sozialisten“:

O TON, Tillich, 0 37“
Der deutsche religiöse Sozialismus hatte gegen zwei Fronten zu kämpfen: Einerseits gegen die pessimistische Beurteilung der Geschichte durch das konservativ orthodoxe Luthertum der deutschen Kirche und seine damit zusammenhängende rein jenseitige Gerichtetheit. Andererseits hatte er zu kämpfen gegen die optimistische Beurteilung der Geschichte durch den Sozialismus und seine damit zusammenhängende utopische Diesseitigkeit.

1. SPR.:
Vor allem Pfarrer und Mitglieder der Kirchenleitung reagieren empört, als der religiöse Sozialist Tillich auch die traditionelle Diakonie und Fürsorge in Frage stellt:

2. SPR.:
Wir lehnen jede Form des Christentums ab, die an einer Innerlichkeit festhalten will. Es entspricht dem Geist der Liebe mehr, das Übel selbst auszurotten, als die Leiden, die es immer wieder bringt, durch bestimmte Regeln mildern zu wollen. Es ist ein höheres Ziel, die Voraussetzungen des Almosengebens aufzuheben als die Armut durch Almosen zu lindern.

1. SPR.:
Worte, die lateinamerikanische Befreiungstheologen heute genauso formulieren. Und als die große Wirtschaftskrise Ende der Zwanziger Jahre zum Crash der Banken führte, schreibt Tillich:

2. SPR.:
Es ist ein höheres Ziel, die Möglichkeit des wirtschaftlichen Egoismus zu unterbinden, als diesen wirtschaftlichen Egoismus durch den Appell an die Pflicht patriarchalischer Fürsorge bloß einzuschränken.

1. SPR.:
Die Nazis werden auf Tillich, den sozialistischen Professor aufmerksam, sie machen ihm das Leben schwer; schließlich entfernen sie ihn gleich nach de sogenannten „Machtübernahme“ von der Universität.

1. SPR.:
Aber schon bald zeigt sich für Tillich ein Ausweg: Er wird eingeladen, an der Columbia University in New York zu lehren. Tillich lässt sich darauf ein, obwohl er kaum Englisch spricht. Im Herbst 1933 wandert er mit seiner Familie aus.

musikal. Zuspielung,

1.SPR.:
Bis zu seinem Tod am 22. Oktober 1965 lehrt Tillich in den USA, viel beachtet und hoch geschätzt, lehrt er an verschiedenen Elite – Universitäten in New York und Chicago. Das Magazine TIMES widmet ihm eine Titelgeschichte. Er gilt als DER moderne Theologe. Zu seinen Predigten strömen die Menschen in Scharen. Ein Bestseller wird sein Buch „Der Mut zum Sein“. Nach dem Krieg kommt er regelmäßig zu Vorträgen nach Deutschland. Auch hier bemüht er sich, einem möglichst breiten Publikum Wege zur Gotteserfahrung zu weisen. Seine Hörer und Leser wissen, dass ihnen gedankliche Arbeit zugemutet wird:

2. SPR.:
Wir Menschen entkommen niemals der Notwendigkeit, uns auf die Wahrheit zu beziehen. Auch der Lügner beansprucht noch für sich und die anderen, Wahres zu behaupten. Im Gewissen jedes Menschen meldet sich die Verpflichtung, das Gute zu tun. Dieser Aufforderung können wir niemals entkommen. Noch der größte Bösewicht, glaubt noch in seinen Untaten für sich oder für eine bestimmte Ideologie, Gutes und Richtiges zu tun. Der Mensch ist in seinem Geist gebunden an etwas unbedingt Geltendes, an etwas, das nicht der Verfügung des einzelnen unterliegt. Dieses Unbedingte kennt keine Bedingungen, es lebt von sich aus. Es ist das, was die Tradition Gott nennt.

Musikal. Zuspielung

1. SPR.:
Von Gott als dem Unbedingten kann nur sprechen, wer achtsam mit der Sprache umgeht. Alltägliche Worte und Begriffe können niemals den „ganz anderen“ Gott treffend beschreibend. An diese Erkenntnis Tillichs sollte man sich halten, meint die Berliner Philosophin Petra von Morstein:

O TON, Petra von Morstein, 0 40“
Was sich unserer objektiven Erkenntnis entzieht, das erleben wir ja auf eine gewisse Weise. Und wir drängen danach, was wir auf diese Weise über die Grenzen des objektivierenden Verstandes hinaus erleben, zu artikulieren. Wie artikulieren wir es? Natürlich nicht in Begriffen. Aber wir drücken es symbolisch aus. Und in diesem Sinne wäre Gott der Vater ein Symbol, aber nicht wörtlich zu nehmen. D.h. Gott ist nicht eine Entität, eine Person ganz besonderer Art, deren Kinder wir alle wörtlich sind, aber diese Symbolik trägt uns natürlich.

1.SPR.:
Wer aber Gott festlegt und in Definitionen einfangen will, gelangt schnell zu fundamentalistische Überzeugungen:

O TON, Petra von Morstein, 0 31“
Deswegen wehre ich immer wieder dagegen, wenn Menschen sagen, das Leid und die Kriege der gegenwärtigen Welt liegen an der Religion oder an den Religionen. Die liegen an Dogmen, an fanatisch gestalteten Dogmen, aber nicht an Religiosität. Religiosität führt dazu, die Freiheit in sich selbst und im anderen immer mit einzubeziehen, was ja logischerweise dann Diskriminierung und Unterdrückung unmöglich macht.

1. SPR.:
Tillich hat großen Respekt vor Menschen, die sich Atheisten nennen, weil sie weder den naiven Kinderglauben noch den kämpferischen Fundamentalismus akzeptieren. Er kennt viele Menschen ohne konfessionelle Bindung, die sich für Gerechtigkeit in dieser Welt leidenschaftlich einsetzen. Sie haben die „bessere Welt“ zu ihrem „Unbedingten“, zu ihrem „Lebensprojekt“, erklärt. Sind dann diese Menschen wirklich noch gottlos? Der Tillich Spezialist Werner Schüssler von der Universität Trier:

O TON, Schüssler: 0 30“
Atheismus wäre dann in seinem Verständnis der Versuch, jedes unbedingte Anliegen abzulehnen. Und es ist zu recht die Frage, ob das möglich ist. So wie der Gläubige vom Zweifel bedrängt ist, so wird der Ungläubige auch vom Zweifel bedrängt. Was Tillich sagen will: Atheismus ist vielleicht nur intentional möglich, weil wir immer in der Hand Gottes leben quasi. Er will dem säkularen Menschen deutlich machen, wenn er in seine Tiefe vorstößt, dann findet er vielleicht, was man Religiosität nennen könnte.

1.SPR.:
Gott, die kaum beschreibbare Tiefe im Leben eines Menschen, geheimnisvoll entzogen und doch gegenwärtig. In diesen Worten aus der mystischen Tradition spricht Tillich von Gott. Und er ist empört, wenn das Unendliche und Unbedingte von frommen Christen wie ein bezahlbares Produkt der Warenwelt, etwa als die beste Medizin, angepriesen wird:

O TON, TILLICH, 1 01“
Das Wort Glaubensheilung verbindet das Religiöse mit dem Medizinischen. Aber es ist ein gefährliches Wort. Es kann für eine Praxis stehen, in der die Religion als Quelle für magische Heilungszwecke benutzt wird. Der Glaube wird als Medizin angepriesen und von religiösen Propagandisten verkauft. Solche Methoden haben gewisse Erfolge und gewinnen dadurch Anhänger, aber sie widersprechen dem Sinn des Religiösen, nämlich der Erhebung zu Gott um Gottes willen. Und sie widersprechen den Forderungen ärztlichen und psychotherapeutischen Heilens.
Glaubens – Heilung im unverzerrten Sinn des Wortes, ist Aufnahme des Heils im Akt des Glaubens, nämlich in der Hingabe an etwas, was uns unbedingt angehrt, an das Heilige, das nie in unseren Dienst gezwungen werden kann.

musikalische Zuspielung

1. SPR.:
Paul Tillich hat unmittelbar bis zu seinem plötzlichen Tod im Jahr 1965 über eine unerschöpfliche Energie verfügt. Es hatte Lust am Leben. Und die war – wie sollte es auch anders sein? – immer auch erotisch geprägt. Der Publizist Eike Christian Hirsch schreibt:

3. SPR.:
Tillich war ein Genie der Freundschaft, der Freundschaft mit Männern und mit Frauen, wobei die Beziehung zu Frauen fast immer einen stark erotischen Charakter hatte. Er ist bis in sein hohes Alter von dieser =Liebeslust= nicht losgekommen…

1. SPR.:
Schon als junger Dozent in Dresden konnte er seine Sehnsucht nach erotischer Nähe ausleben. Zusammen mit seiner Frau Hanna hat er manche Nacht in Tanzlokalen verbracht, erinnert sich eine Freundin von damals:

3. SPR.:
Wenn es ans Tanzen ging, war Tillich in seinem Element. Er wirkte wie elektrisiert. Er tanzte aus Freude an der Bewegung, an Rhythmus und Melodie. Dabei erfand er stets neue Variationen und überraschte durch lustige Einfälle.

1. SPR.:
Später, in reiferen Jahren, war er überzeugt, niemanden in seiner Liebe ausschließen zu dürfen, hat Eike Christian Hirsch beobachtet:

3. SPR.:
Treue bedeutet für ihn, dass man den Partner und die Partnerin nicht als Eigentum behandeln dürfe. Er bezweifelte überdies, dass ein absolutes Gelöbnis der Treue überhaupt möglich sei.

1. SPR.:
Seine Frau Hanna veröffentlichte nach dem Tod ihres Gatten ein Buch, das von erotischen Eskapaden des berühmten Theologen freimütig erzählt. Professor Werner Schüssler hält diesen Bericht nicht für sehr zuverlässig:

O TON: Schüssler , 0 28“
1973 erscheint auch eine kleine Biographie von Rollo May, einem bekannten humanistischen Psychologen in Amerika: „Paulus. A personal portrait of Paul Tillich“. Und Rollo May sagt ausdrücklich, dass Tillich Liebhaber unzähliger Frauen gewesen soll, das stimmt nicht, sagt er. Und dann spricht er davon, dass wir also das große Bedürfnis haben, wichtige Persönlichkeiten zu skandalisieren.

1.SPR.:
Dabei hatte ihn doch seine Frau Hanna hatte in jungen Jahren einen Magier des Herzens genannt. Er sei eine kosmische Macht gewesen, der sich niemand entziehen konnte. Aber offenbar konnte sie sich im Alter ihrer Eifersucht nicht erwehren. Wie dem auch sei: Grundsätzlich darf doch wohl gefragt werden: Warum soll es ehrenrührig sein, wenn Tillich, der weltberühmte Theologe, auch ein leidenschaftlicher Freund der Erotik war? Professor Wilhelm Gräb betont:

O TON, Gräb, 0 42“
Ich sehe darin eigentlich eher auch eine Bestätigung eben dieser Weltzugewandtheit und Offenheit. Er war ein Weltmann, man könnte dann auch sagen, ein Lebemann, der alle frommen Zirkel und bestimmte rigide Normen, die für besonders christlich gehalten werden, nicht hat gefallen lassen. Das sind alles menschliche Versuche, letztendlich Gott in die eigene Tasche zu stecken, ihn klein zu machen, gefügig zu machen, den eigenen engen Moralvorstellungen anzupassen. Und ihn als Hüter eben einer verklemmten Sexual Moral und einer engen kirchentümlichen Welt werden zu lassen.

1. SPR.:
Tillich hat über seine erotische Lebenslust nicht öffentlich gesprochen; zur Überraschung vieler Beobachter hat er aber in seiner Rede in der Frankfurter Paulskirche im Jahr 1962 vehement die nicht gerade erotisch aufgeschlossene Welt des Kleinbürgertums offen kritisiert:

O TON, Tillich, 0 49“.
Der Spießer, er kann geradezu charakterisiert werden als jemand, der sich durch die Angst, an seine eigene Grenze zu geraten, nie über das Gewohnte, Anerkannte und Festgelegte zu erheben wagte. Möglichkeiten, die jedem Menschen dann und wann gegeben sind, über sich hinauszukommen, ließ er unverwirklicht; ob es ein Mensch war, der ihn aus seiner Enge hätte herausreißen können oder ein ungewohntes Werk der Kunst, das ihn hätte erschüttern können. Um sich herum aber sieht er Menschen, die über die Grenzen gegangen sind, die er nicht überschreiten konnte, und der heimliche Neid wird zum Hass.

musikal. Zuspielung

1. SPR.:
Paul Tillich, der Grenzgänger zwischen Leidenschaft und Liebe, Glaube und Zweifel, Philosophie und Theologie. Im hohen Alter wollte er noch die Grenzen der christlichen Welt überwinden:

O TON, Tillich, 1 06“
Ich war in Japan, wo ich 10 Wochen mit Buddhisten debattiert habe.
Wie beurteilt man eine fremde Religion, wenn man einen solchen Dialog haben will. Man muss verstehen, dass in jeder aktuellen Religion Elemente von dem enthalten sind, was auch in jeder anderen aktuellen Religion vorkommt.
Wenn man darum mit einem Buddhisten spricht, dann spricht man immer zugleich mit sich selbst. Jedes Gespräch, das ich mit buddhistischen Priestern, Philosophen, Theoretikern, Theologen usw. hatte, war zugleich ein Gespräch mit mir selbst. Weil das, was im Buddhismus radikal durchgeführt ist, auch ein Teil meines eigenen protestantischer Christsein, dass das auch in mir war.

1. SPR.:
Denn die letzte Wirklichkeit ist Geheimnis, unsagbar und heilig. In dieser Überzeugung sind Christen und Buddhisten verbunden. Kirchliche Mission im Sinne von Werbung und Bekehrung hat dann keinen Sinn:

O TON, Tillich, 0 33“.
Der, wer bekehren will, nimmt den anderen im Grunde nicht ernst. Der, der von ihm lernen und ihm geben will, aber so, dass er selber auch bereit ist, verändert zu werden, das ist ein echter Dialog. Wo der Dialog in diesem Sinne fehlt, da ist es besser ihn gar nicht anzufangen. Wo er aber da ist, da muss ehrliche Kritik gesagt und angenommen werden.

1. SPR.:
Unter Theologen ist Tillichs Denken immer noch lebendig. Der anglikanische Bischof John Sprong z.B. verweist auf Tillich, wenn er in seinen Büchern Gott die „Quelle der Liebe“ nennt. Pastor Klaas Hendrikse aus Holland ist von Tillich inspiriert, wenn er seinem inzwischen viel beachteten Buch den Titel gab: „Vom Glauben an einen Gott, der nicht besteht“. Dabei will er im Sinne Tillichs Verständnis wecken für den wahrhaften, den „göttlichen Gott“. Selbst in Lateinamerika wird Tillich heute entdeckt. Und im deutschsprachigen Raum? Die Kirchenleitungen wollen Tillich jedenfalls nicht zu einem ihrer Haustheologen erklären, sie sind von der Weite und Großzügigkeit seines Denkens irritiert, betont Christian Danz, Theologieprofessor in Wien und Vorsitzender der Paul Tillich Gesellschaft:

O TON, Christian Danz, 0 27“.
Der Protestantismus kultiviert weiterhin eine hohe Kirchlichkeit, die den Realitäten wohl kaum noch gerecht wird. Das ist das Problem, dass man angesichts von beschleunigter Modernisierung gewissermaßen auf Besitzstandswahrung setzt und dadurch natürlich wichtigen Einsichten kaum Raum gibt. Tillich selbst war stark enttäuscht eigentlich darüber, aber die Kirchen sind an ihm vorbei gegangen, ja.

musikal. Zuspielung

1.SPR.:
Paul Tillichs Urne wurde 1965 auf dem Friedhof von New Harmony, im Bundesstaat Indiana, beigesetzt. In dieser kleinen Stadt hatten sich im 19. Jahrhundert sozialistische und humanistische Gruppen niedergelassen, mit denen Tillich eng verbunden war. Auf seinen Gedenkstein aus rotem Granit ohne Kreuz wurden Worte aus dem 1. Psalm eingemeißelt:

2. SPR.:
Und er soll sein wie ein Baum, gepflanzt an Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit und dessen Blätter nicht verwelken, und alles, was er tut, gerät ihm wohl.

musikal. Zuspielung noch mal freistehen lassen.

Einige Buchhinweise:
– Werner Schüssler und Erdmann Sturm, Paul Tillich. Leben – Werk – Wirkung. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, 2007. 278 Seiten.

– Werner Schüssler, Paul Tillich, Becksche Reihe, München 1997.

– Von Paul Tillich selbst ist als Einführung geeignet:
Der Mut zum Sein, de Gruyter, Berlin 1991.

– Eike Christian Hirsch, Mein Wort in Gottes Ohr. Ein Glaube, der Vernunft annimmt. Hoffman und Campe verlag Hamburg 1995, das Tillich Kapitel auf den Seiten 93 ff.

– Die deutsche Paul Tillich Gesellschaft ist erreichbar über: http://www.theo.uni-trier.de/tillich/tillich.html

Wenn die Religion die Vernunft respektiert. Ein Vortrag von Wilhelm Gräb

Wilhelm Gräb, Professor für ev. Theologie an der Humboldt Universität Berlin.
Er hielt am 18.1.2011 im Rahmen des Forum der Remonstranten Berlin in Zusammenarbeit mit dem Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin einen Vortrag zum Thema:

Wenn Religion die Vernunft respektiert.
Perspektiven liberaler Theologie

Liberale Theologie ist Theologie nach der Aufklärung. Sie ist getragen von dem Grundimpuls aller Aufklärung, dass ein jeder sich in allen Angelegenheiten des Lebens seines eigenen Verstandes zu bedienen habe, auch in den Angelegenheiten der Religion. Damit sind die Sinn-fragen des Lebens gemeint, das, worin sich uns die Daseinszwecke versammeln, was uns am Leben hält und unser Dasein mit Inhalt füllt.
Liberale Theologie hat Konsequenzen für die Theologie selbst, für die Reflexionsgestalt des christlichen Glaubens. Sie hat aber auch Konsequenzen für die gelebte Religion, für die Praxis der Frömmigkeit und der Spiritualität. Und sie hat schließlich Konsequenzen für die Sozialge-stalt protestantischen Christentums, für die Auffassung von der Kirche. In dieser dreifachen Hinsicht will ich einige einführenden Worte sagen, bevor wir dann in die Diskussion eintre-ten.

1. Vernünftige Theologie
Eine liberale, vernünftige Theologie sucht die Vermittlung des christlichen Glaubens mit dem modernen Denken in Wissenschaft und Kultur. Der Glaube an Gott muss vor dem Wissen und den Wissenschaften nicht zurückschrecken. Sofern der Glaubende dazu findet, das Wissen zu achten und an seiner Förderung mitzuarbeiten, kann er sich vielmehr durch den Wissensfort-schritt in seinem Glauben geradezu bestätigt finden. Denn auch das Wissen hat seine Grenzen, deren gerade derjenige ansichtig wird, der möglichst viel wissen will. Worin schließlich ist das Vertrauen in das Wissen eigentlich begründet? Wie kommt es, dass wir auf der Basis un-seres Wissens erfolgreich in dieser Welt handeln können, dass also die Dinge in der Welt tat-sächlich unserem Wissen von der Welt entsprechen und sie sich aufgrund dieser Entspre-chung durch Technik einrichten, verändern und steuern lassen? Warum das so ist, wissen wir letztendlich nicht. Wir sind, wenn wir handeln, vielmehr darauf angewiesen, auf unser Wissen zu vertrauen und auf einen Erfolg unseres, auf dieses Wissen gestützten Handelns, zu hoffen. Könnten wir den Grund der Ermöglichung unseres Wissens vor uns bringen, dann wäre er zu seinem Gegenstand geworden und gerade nicht als dasjenige erfasst, was uns die Gegenstände in ihrer Zugehörigkeit zur Welt wahrnehmen, in ihren Sinnzusammenhängen bestimmen und uns absichtsvoll, auf Technik gestützt, mit ihnen umgehen lässt. Wir können, wie leicht einzu-sehen ist, die Folgen unseres Wissens und damit die Folgen des durch unser Wissen ermög-lichten Handelns in der Welt nie vollständig überblicken und somit auch nicht im Ganzen wissend vor uns bringen.
Wenn wir daher nach dem Grund des Vertrauens in unser Wissen und nach der Rechtferti-gung der Hoffnung auf die Erfolge unseres Handelns in der Welt fragen, stoßen wir darauf, dass wir eine einzigartige Beziehung zwischen uns Menschen und der Welt in Anspruch neh-men. Es ist diese grundfügende Beziehung zwischen Mensch und Welt, die es macht, dass uns unser Dasein als zugehörig zur Welt in absichtsvoller Weise bewusst ist. Und viel spricht da-für, eben diese Einheit aller Gegensätze, mit der uns die Welt als Ganze entgegentritt, mit dem Wort ‚Gott’ zu bezeichnen und in ihrer lebensführungspraktischen Relevanz zu deuten. Weil ein Gott ist, der die Zusammenstimmigkeit unseres Denkens mit der uns gegenüber ste-henden Welt stiftet, können wir Bestimmtes in ihr wissen und zielorientiert in ihr handeln. Diesen Gott können wir nicht wissen, denn wir hätten ihn damit zu einer Tatsache unter den vielen anderen Gegenständen des Wissens herabgezogen. Diesen Gott, der die Einheit und damit den Sinn des Ganzen der uns wissend und handelnd zugänglichen Wirklichkeit garan-tiert, können wir nur glauben. Auf diesen Gott können wir nur vertrauen. Für dieses Vertrauen gibt es allerdings gute Gründe und verschiedene Wege, auf denen es sich einstellt und zu fin-den ist. Diese Wege führen hinein in unser leib-seelisches Dasein, in unsere Emotionen und Phantasien, in alle unsere mentalen Zustände, Erfahrungen und Tätigkeiten.
Liberale Theologie zielt darauf, dass es letztendlich vernünftig ist, zu glauben, weil nur der Glaube und nicht das Wissen auf den Sinn des Ganzen der Welt und unseres endlichen Da-seins in ihr vertrauensvoll auszugreifen vermag. Liberale Theologie betont genauso aber die Zeitbedingtheit der überlieferten Dogmen und Glaubenslehren, die historische Welt auch der Bibel. Sie unterscheidet zwischen dem Glaubensgrund, den sie in der persönlichen Bindung an Jesus Christus, dem mit Gott bedingungslos verbundenen Menschen, dem inkarnierten Gott, erkennt und dem zeitbedingten, somit wandelbaren Glaubensausdruck. Die Sprache des Glaubens ist einer jeden Gegenwart gemäß neu zu finden und nicht durch die biblischen Texte bzw. die altkirchlichen Dogmen oder die Bekenntnisse des 16. Jahrhunderts normativ fixiert. Liberale Theologie unterscheidet zwischen dem Glauben, der ein persönliches Vertrauensver-hältnis zu Gott ist und dem Glaubensausdruck, der den religiösen Kommunikationsbedingun-gen einer jeden Zeit gemäß zu entwickeln ist. Auch christliche Lehre und die Theologie gera-ten auf die Seite der zeitbedingten Artikulation und Reflexion des persönlichen Glaubens. Wenn sich in der kirchlichen Lehre und der wissenschaftlichen Theologie die persönliche Frömmigkeit einer bestimmten Gegenwart nicht mehr gedeutet finden sollte, dann drängt libe-rale Theologie auf zeitbedingte Umformungen in Lehre und Theologie.
Dass die Theologie im Rechtfertigungsglauben den Grund individueller Freiheit erkennt, ge-hört zum entscheidenden Erbe liberaler Theologie. Denn es bedeutet, den Glauben an das E-vangelium, dass Gott Liebe, Vergebung, der Grund der Freiheit ist, als den Aufgang eines durch diese Werte bestimmten Verständnisses menschlicher Existenz zu erkennen. In der Tradition liberaler Theologie führt vom Glauben an das Evangelium kein direkter Weg zu gegenständlichen Aussagen über Gott und sein Offenbarungshandeln. Glaube ist überhaupt kein Wissen, weder über Gott noch über sein Handeln in der Welt, sondern ein Vertrauen, das zur Kraftquelle in der Bewältigung des Lebens wird. Mit dem Gott des Evangeliums lässt sich nicht die Welt erklären lässt, sehr wohl aber eine fundierende Daseinsgewissheit und zielbe-wusste Lebensorientierung gewinnen. Dieses liberaltheologische Credo befreit die Theologie von den unversöhnlichen Konflikten mit der Wissenschaft. Der Wissenschaftler kann gelassen dem Sachverhalt begegnen, dass die wissenschaftliche Welterkenntnis und die aus ihr folgen-de technische Naturbeherrschung ebenso ohne Gott auskommen wie die politisch-staatlichen Rechtsverhältnisse und die gesellschaftlichen Integrationsmechanismen. Sie sind einer theo-logischen Legitimation nicht mehr bedürftig.
In der Tradition liberaler Theologie kann jedoch zugleich festgehalten werden, dass sich, im Zuge der durch die politischen, wissenschaftlichen und industriellen Revolutionen der Neuzeit ausgelösten Veränderungen, die religiösen Fragen keineswegs erledigt haben. Es hat sich die Motivlage für religiöse Fragen verschoben. Die Religion hat ihren Umbau erfahren, hinein in ein neues Relevanzgefüge. Der christliche Glaube gewinnt in der modernen Kultur seine Re-levanz aus dem Interesse der Menschen an der Sinndeutung ihrer durch die soziokulturellen Veränderungen zugleich zur eigenen Gestaltung freigesetzten wie in ihrer Eigenheit bedroh-ten Individualität.

2. Selbstbestimmte Spiritualität
Liberale Theologie plädiert für religiöse Autonomie, für eine selbstbestimmte Frömmigkeit und Spiritualität. Sie will eine Religion der freien, persönlichen Einsicht in die Wahrheit des Glaubens, verlangt daher keine Anerkennung von Glaubenssätzen allein aufgrund der Autori-tät der Bibel oder der Kirche. Selbstbestimmte Frömmigkeit kann auf sehr verschiedene Wei-se Gestalt gewinnen. Sie kann ihr Zentrum in einer persönlichen Beziehung zu Jesus finden, die der Beziehung zu Kirche und Gemeinde vorgeordnet wird. Selbstbestimmte Frömmigkeit kann heute in einer Spiritualität lebenspraktisch werden, die ein inhaltlich eher unbestimmtes Transzendenzbewusstsein ausbildet, sich aber weithin doch im Tradierungszusammenhang des freilich undogmatisch verstandenen Christentums bewegt. Selbstbestimmte Frömmigkeit kann sogar in Gestalt charismatischen Pfingstlertum oder fundamentalistischen Wort-Glaubens praktisch werden. Dann jedenfalls, wenn dort auf die persönliche Überzeugungsge-wissheit der Akzent gelegt wird, das je eigene Ergriffensein vom Geist Christi oder vom Wort Gottes und nicht so sehr die Unterwerfung unter ein ekstatisches Ritual mit seinen vorgefer-tigten Bekenntnisnormen und Verhaltenskodizes oder unter das Papier des Bibelbuchstabens gepocht wird. Entscheidend für liberale Frömmigkeit ist, dass der Glaubensaudruck frei gelas-sen wird und variabel bleibt, dass er sich nicht nach biblischen, dogmatischen, kirchlichen oder lehrmäßigen Bestimmungen richten muss, sondern klar der persönlichen Gewissheit, der Erfahrung und dem Engagement der Glaubenden nachgeordnet bleibt. Wo der Glaubensaus-druck als Ausdruck persönlicher Glaubensgewissheit verstanden wird, haben wir es mit einer Form liberaler, selbstbestimmter Frömmigkeit zu tun.
Heute steht das Konzept der Spiritualität am ehesten für diese Form liberaler Frömmigkeit. Wo Menschen sich zu ihrer Spiritualität bekennen, geht dies oft mit einer Distanzierung ge-genüber dem kirchlichen Glaubensausdruck einher. Umso energischer wird die eigne Trans-zendenzerfahrung betont, die Offenheit für die geistige, nicht verrechenbare und nicht mach-bare Dimension der Wirklichkeit. Spiritualität ist eine Sinneinstellung, eine Offenheit für die Präsenz des Göttlichen, die als Lebensbereicherung erfahren wird. Insofern geht das Konzept der Spiritualität durchaus zusammen mit dem in Theologie und Kirche heute gebräuchlichen Reden von der Glaubenserfahrung. Die Glaubenserfahrung wird dabei in der Regel als le-bensgeschichtliche Sinnerfahrung verstanden. Sie wächst in den Geborgenheitserfahrungen der Kindheit, in der Gemeinschaft der Kirche, in schönen Gottesdiensten an Weihnachten, an den Wenden der eigenen Biographie. Sie wird erschüttert in Erfahrungen des Desaströsen und Ungeheuren, wovon ja auch die Bibel erzählt. Das Konzept der Spiritualität oder auch der persönlichen Glaubenserfahrung, hält fest, dass die Gläubigen oder religiös Suchenden den göttlichen Sinngrund nicht als gegenständliche oder personale Wirklichkeit erfahren müssen und dennoch von seiner Wirklichkeit tief überzeugt sein können.
Liberale Spiritualität ist undogmatisch. Sie versteht die christlichen Glaubensaussagen nicht mehr in einem gegenständlichen Sinn. Danach suchen heute viele Menschen, weil sie den Glauben an göttliche Heilstatsachen, überhaupt an einen direkt ins Weltgeschehen eingreifen-den Gott nicht mehr erschwingen können. Sie suchen nach der Entgegenständlichung des Glaubens, somit auch nach einer Glaubensauffassung, für die Gott die Offenheit für die geis-tige Dimension der Wirklichkeit ist. Liberale Theologie und Frömmigkeit bewegen sich in diese Richtung. Sie nehmen die gegenständlichen Vorstellungen der biblischen Tradition von Gott dem Schöpfer, Versöhner und Erlöser auf, versuchen sie aber in ihrem symbolischen Sinn zu verstehen. Die Aussagen über Gott im symbolischen Sinn zu verstehen, heißt, sie in dem zu verstehen, was sie uns über uns selbst und unser Dasein in der Welt sagen. Wer Gott den Schöpfer, Versöhner und Erlöser glaubt, weiß sich auch noch im Elend und Verderben, ja über den Tod hinaus, in seiner Hand geborgen. Aus seinem Glauben erwächst ihm unbedingte Lebensgewissheit aber auch die Kraft zu Anklage und Protest in den Erfahrungen des Unge-rechtigkeit und des Ungeheuren.
Der Glaube hat dort, wo er sich als spirituelle Lebenseinstellung versteht, freilich auch oft etwas Tastendes und Suchendes. Er strotzt nicht immer vor Gewissheit und fragt beim Hören der Rede von einem Gott, der dies und das tut, ob es auch wahr ist oder, was solche Gottesre-de eigentlich in den Erfahrungen des Lebens meint. Diese fragende Skepsis macht bekennen-de Liberale bei Fundamentalisten und Charismatikern oft verdächtig. Liberale Theologie er-mutigt den Glauben jedoch dazu, zu seinen Zweifeln zu stehen. Die Zweifel gehören zum Glauben, eben weil dieser kein Wissen ist und nicht zu einem Wissen werden kann.
3. Eine offene, tolerante Kirche
Liberale Theologie plädiert für eine offene und tolerante evangelische Kirche. Sie will eine Kirche oder kirchliche Gemeinschaften, die unterschiedliche Formen der Frömmigkeit zulas-sen. Deshalb wertet sie auch die distanzierte Form der Kirchenmitgliedschaft nicht ab, auch dann nicht, wenn etwa nur anlässlich der Kasualien der Kontakt zur Gemeinde gesucht wird.
Die liberale evangelische Kirche unterstützt den Gemeindegedanken. Sie will, dass sich die Kirche von unten her bildet, durch das lebendige Engagement ihrer Mitglieder. Der Glaube ist eine innerliche Angelegenheit des einzelnen Menschen, aber keine bloße Privatsache. Abge-wehrt wird, dass die Kirchenführer sich ein politisches Mandat anmaßen. Jeder einzelne Christenmensch ist unmittelbar zu Gott. Die Kirche und die sie Leitenden haben sich nicht dazwischen zu schalten. Die Gemeinde und ihre Gottesdienste sind Orte der Kommunikation des Evangeliums, der Belehrung und Beratung der Gewissen, nicht aber der politischen Akti-on. Die einzelnen Christen partizipieren aus ihrem Glauben heraus und in den Entscheidungen ihres Gewissens am politischen Prozess. Aber die Kirche bzw. christliche Gemeinschaft ist nicht selbst politische Partei. Solche Anmaßungen führen immer zur Vergewaltigung der Ge-wissen durch mehr oder weniger offenkundigen Klerikalismus.
Es müssen nicht alle auf dieselbe Weise ihr Christsein verstehen und leben. Die einen halten sich an der Bibel als dem für sie verbindlichen Gotteswort fest. Die anderen fühlen sich vom Heiligen Geist ergriffen. Wieder andere suchen den Zuspruch des Evangeliums und den Se-gen Gottes an den Sollbruchstellen ihrer Lebensgeschichte und noch einmal andere schließen sich zum „Bund für freies Christentum“ zusammen und suchen Kontakt zu einer der vielen Freikirchen. Mit der Moderne sind wir in das Zeitalter der religiösen Bewegungen und damit der Individualisierung und Pluralisierung der Formen religiösen Lebens, der Globalisierung und damit der Begegnung der Weltreligionen eingetreten. Auch diese Begegnung der Religi-onen braucht nichts so dringlich sie den liberalen Geist der Anerkennung der anderen in ihrem Anderssein.
Eine liberale Kirche versucht unterschiedlichen Ausprägungen des Christlichen in sich selber zuzulassen und zusammen zu halten. Die Grenzen zieht sie erst dort, wo die Freiheit, die sie gewährt, zur Bestreitung und Ausschaltung der Freiheit anderer genutzt werden will. Dass eifernde Fundamentalisten eben dazu neigen, wissen wir und sehen sie daher auch als Gefähr-dung einer liberalen Kirche an. Fundamentalisten müssen jedoch nicht von missionarischem Eifer getrieben sein. Es kann auch sein, dass sie den anderen Glaubensausdruck anderer ach-ten und frei lassen. Dann sind sie auch in einer liberalen Kirche gern gelitten. Wo jedoch im Namen religiöser Autorität politische oder moralische Geltungsansprüche nicht nur geltend gemacht, sondern unmittelbar, an der Gewissensentscheidung der Individuen und ihren Parti-zipationsmöglichkeiten vorbei, zur Durchsetzung gebracht werden, sind die Prinzipien libera-len Christentums verletzt.
Der kirchliche, theologische und frömmigkeitspraktische Liberalismus prägt die Religionskul-tur unserer Gegenwart weltweit. Natürlich gibt es, ich habe es schon angedeutet, gerade auch im gegenwärtigen Protestantismus andere Strömungen und ein anderes kirchliches Wollen. Immer wieder melden sich Stimmen zu Wort, die auf eine objektivere Kirchlichkeit drängen, wie sie der Katholizismus aufrechtzuerhalten versucht. Sie betonen stärker den Buchstaben und nicht den Geist der reformatorischen Bekenntnisse und machen dabei dem kirchlichen und religiösen Liberalismus einen gefährlichen Hang zur Beliebigkeit bzw. zur Geistemphase, zum Subjektivismus und zum Werterelativismus zum Vorwurf.
Wie der Bertelsmann Religionsmonitor zuletzt belegte, aber aus den Kirchemitgliedschaftsun-tersuchungen der EKD seit den 1970er Jahren hervorgeht, dominiert hierzulande eine modera-te, durchaus liberale Christlichkeit, die die Kirche als religiösen Sinnlieferanten im Hinter-grund des Lebens nicht missen möchte, aber sie nur gelegentlich aktiv in Anspruch nimmt. Die gelebte Religion bewegt sich überwiegend im Trend einer undogmatischen Spiritualität. Nur eine Minderheit selbst unter denen, die religiös besonders aktiv sind, wird von charisma-tisch allzu überschwänglichen, fundamentalistisch allzu bornierten oder konservativ allzu traditionsfixierten Gemeinden angezogen. Das ist in vielen Weltgegenden außerhalb Europas sicher anders. Aber die Gründe dürften gerade darin liegen, dass sich dort die Prinzipien des von Pietismus und Aufklärung geprägten religiösen Liberalismus stärker durchgesetzt haben, als dies in seinen europäischen Heimatländern der Fall ist. Die Religion ist in vielen vom Christentum mit geprägten Ländern Amerikas, Afrikas und Asiens sehr viel selbstverständli-cher als hierzulande längst nicht mehr eine Sache institutioneller, traditionsorientierter Vorge-gebenheiten, sondern eben eine Sache persönlicher Wahl und Entscheidung, aber auch unge-zwungenen Gemeinschaftserlebens. Das Christentum ist verbunden mit sozialen Zugehörig-keitsverhältnissen, mit der Einbindung in eine starke Gemeinschaft, stärker vor allem auch eine Sache kommunaler Praxis und der persönlichen Lebensorientierung als Sache der Lehre und der gedanklichen Reflexion. Von geistbewegten und sich auf das rettende Wort Gottes berufenden Gemeinden geht die Botschaft aus, dass der Glaube eine Lebenskraft ist und zur Bewältigung eines oft schwierigen Alltags hilft. Die kirchliche Gemeinschaft stabilisiert den einzelnen nach innen und nach außen. Diese Stabilisierungskraft geht vor allem deshalb von der christlichen Gemeinde aus, weil der einzelne nicht schlicht in sie hineingeboren wird, sondern weil er sich selbst bzw. seine Familie sich bewusst für sie entschieden haben und sich voll und ganz mit ihren Lebensmaximen identifizierten. Christ zu sein ist kein Schicksal, wie bei uns, sondern gilt als Entscheidung für einen mit bestimmten Vorzüglichkeiten ausgestatte-ten Lebensstil.
Der religiös-kirchliche Liberalismus reicht so gesehen – dem politischen Liberalismus durch-aus vergleichbar, auch wenn deren Verhältnis zueinander umstritten ist – sehr viel weiter als das Gewicht der ihn fördernden Schulen akademischer Theologie und der ihn explizit tragen-den kirchlichen Parteien. Zu seinem Erbe zählt der kirchliche und religiöse Pluralismus in den USA und von dort weltweit ausgehend in Südamerika, Afrika und Asien, wie eben auch die volkskirchlichen Strukturen hierzulande. Für die Freiheitsspielräume in den christlichen Le-bensformen wie auch in der Vielfalt lebendiger Gemeindebildungen ist freilich nur der sich zu seiner freiheitlichen Gesinnung bekennende religiös-kirchliche Liberalismus seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingetreten. Auch die Gemeindeaufbaubewegung um Emil Sulze um die Wende zum 20. Jahrhundert stand aber im Wirkungszusammenhang dieses kirchlich-religiösen Liberalismus. Seinem Erbe begegnen wir auf bewusste Weise im Grunde überall dort, wo zwischen der verfassten, institutionalisierten Religion und dem individuellen Glau-ben in den verschiedenen Formen seiner Vergesellschaftung unterschieden wird, auch wenn man sich zur Trennung von Religion und Politik, Kirche und Staat auf breiter Basis zu beken-nen in Deutschland erst nach 1945 gelernt hat.
Seine Pluralismusfreundlichkeit musste der religiös-kirchliche Liberalismus nach 1945 erst noch lernen. Die Freiheit des einzelnen und der religiösen Bewegung, der er sich verbunden weiß, muss gegen Unduldsamkeit und Missachtung Anders-Gläubiger aber heute verteidigt und weiter befördert werden. Den Individuen steht das Recht zu, ihre religiösen Zugehörig-keitsverhältnisse zu wählen. Sie haben unter den Bedingungen der modernen Kultur geradezu die Pflicht, sich selbst zu entscheiden. Sie stehen unter dem „häretischen Imperativ“, wie dies der Religionssoziologe Peter L. Berger beschrieben hat, nicht ohne sich zum religiösen und theologischen Liberalismus zu bekennen und die Beschäftigung mit den liberalen Theologen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts dringlich zu empfehlen.
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