Weiterdenken: Prof. Wilhelm Gräb im Gespräch
Die Fragen stellte Christian Modehn
1. Wer das Programm des Kirchentages in Berlin (vom 24. bis 27.Mai 2017) liest, findet in der Liste „Programm im Überblick“ auf Seite 24 tatsächlich nur zwei Veranstaltungen zum „Dialog mit humanistischen Gemeinschaften“. Man glaubt zu träumen, wenn man bedenkt, dass in Berlin mindestens jeder zweite Einwohner sich konfessionslos nennt. Unter dem Oberbegriff „konfessionslos“ finden sich Menschen wieder, die aus der Kirche ausgetreten sind, Skeptiker, Atheisten oder organisierte Humanisten. Man kann also sagen, dass mindestens die Hälfte der Einwohner Berlins (und Ostdeutschlands sowieso) nicht ins direkte Gespräch des Kirchentages einbezogen ist. Warum haben offenbar die Kirchen und die meisten Theologen Angst, mit Atheisten und Humanisten ins Gespräch zu kommen, der als expliziter Dialog selbstverständlich immer wechselseitige Lernbereitschaft voraussetzt?
Ich weiß nicht, ob es die Angst vor solchen Auseinandersetzungen ist, vor dem Gespräch oder auch Streit mit Atheisten und Humanisten, mit anderen Konfessionen und Religionen. Man sucht ja überhaupt vergeblich nach dem kritischen Diskurs, dem kirchen- und religionskritischen Diskurs. Es finden sich kaum Vorträge oder Podien, auf denen Theologen und Theologinnen vertreten wären. Schon gar nicht kommt eine liberale Theologie vor, also eine Theologie, die das Christentum ins Humane zu vermitteln und mit anderen philosophischen, religiösen und weltanschaulichen Sinnorientierungen ins Gespräch zu bringen sucht.
Das interreligiöse Gespräch und die Auseinandersetzung mit der medial vermittelten populären Religionskultur hat man in ein Forum abgeschoben, das die Sache schon durch das Zitat aus Goethes Faust in eine esoterische Ecke einordnet: „Wie hältst Du’s mit der Religion?“. Man tut so, als hätte das, was ansonsten auf dem Kirchentag passiert, nichts mit Religion zu tun.
Dabei ist das alles Religion pur, nur eben eine ziemlich selbstverliebte, sich selbst feiernde Religion. Ich will dies gar nicht verurteilen. Vielleicht muss das manchmal sein, gerade in einer Kirche, die sonst zumeist deutlich zu spüren bekommt, wie gesellschaftlich randständig sie geworden ist, wie wenig Resonanz die Gottesdienste und Predigten normalerweise finden. Doch alle zwei Jahre, da kommen die kirchlich Engagierten, die sich sonst in einer Minderheitssituation wissen, alle an einem Ort zusammen und entdecken freudig, wie viele sie doch (immer noch) sind. Nicht von ungefähr wird der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa, der vor kurzem ein dickes Buch über „Resonanz“ geschrieben hat, in dem freilich Religion und Kirche so gut wie gar nicht vorkommen, auf vielen diesjährigen Kirchentagsveranstaltungen herumgereicht und, siehe da, auch der Gottesdienst wird als „Resonanzgeschehen“ thematisiert. Ich meine, dass man diese binnenkirchliche Funktion des Kirchentags, das ansonsten arg strapazierte kirchliche Selbstbewusstsein zu stabilisieren, klar sehen muss, damit man keine falschen Erwartungen an diese Veranstaltung aufbaut. Der Kirchentag ist ein weiteres Element in der „Eventisierung“ populärer Kultur und dabei zugleich ein Fest, auf dem die Kirchenchristen erleben können, dass sie doch immer noch ziemlich viele sind und offensichtlich in die Mitte der Gesellschaft gehören. Von der Bundeskanzlerin über den Bundespräsidenten bis zu Barack Obama, alle machen sie ihre Aufwartung. Und dabei werden natürlich auch die uns heute global bedrängenden Probleme angesprochen, vom Beitrag der Religionen zum Weltfrieden, bis hin zu den Fragen der sozialen Gerechtigkeit und des Klimawandels.
Nur, was man vom Kirchentag schon lange nicht mehr erwarten darf, ist das kritische, gerade auch selbstkritische Religionsgespräch. Die rationale, aufklärende und aufgeklärte Auseinandersetzung um Religion und Vernunft, um Religion und Humanität, um Religion und Weltanschauung, Religionsbegründung und Religionskritik, um die Religion in den Religionen und deren Verhältnis zueinander, findet nicht statt – das nicht erst dieses Mal in Berlin. Und natürlich kommen auch die Fragen von Theismus und Atheismus, eines Christentum als Atheismus (Dorothee Sölle) oder ob eine Religion ohne Gott vielleicht sogar besser ist als eine Religion mit Gott (Richard Dworkin), nicht vor, jedenfalls nicht so, dass sie irgendwo ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt würden.
Man will sich feiern und freut sich zu sehen, dass Christentum und Kirche in unserer Gesellschaft offensichtlich immer noch wichtig genommen werden. Ein Podium, auf dem die Bundeskanzlerin mit einem „Theologen und Ethiker“, wie es heißt, diskutiert, ist sogar überschrieben: „Was hält die Gesellschaft zusammen?“ Es ist beim Kirchentag ja klar, wie die Antwort ausfallen wird, als Erwartung an die Kirchen von der Bundeskanzlerin formuliert, die Bestätigung liefernd von Seiten des „Theologen und Ethikers“.
Der Kirchentag ist Religion als Eventkultur, kein theologisches Forum auf dem das rationale, aufklärende Gespräch mit Humanisten, Konfessionslosen und Atheisten über unsere weltanschlichen und moralischen Orientierungen gesucht würde. Am ehesten noch betreibt man den Dialog mit den Vertretern anderer Religionsgemeinschaften, vor allem des Islam und auch des Judentums. Denn mit ihnen weiß man sich im Kampf gegen die säkulare Welt verbunden. Da glaubt man eine gemeinsame Basis zu haben, offensichtlich jedoch ohne zu merken, dass die, wenn überhaupt, nur in der gemeinsamen Menschenvernunft und im Einsatz für nachhaltig menschen- und lebensdienliche Weltverhältnisse gefunden werden kann.
2. Wie könnte angesichts der Ökumene der verschiedenen Kirchen und der interreligiösen Ökumene, also dem Dialog mit Juden, Muslimen und Buddhisten, eine neue, bislang unbekannte umfassende „Ökumene mit Humanisten und Atheisten“ aussehen? Welche dringenden Themen der Menschheit könnte man gemeinsam besprechen und Probleme gemeinsam in Projekten praktisch „aufgreifen“?
Zunächst müsste man ins Gespräch darüber kommen, ob es nicht etwas gibt, was uns als Menschen so miteinander verbinden, dass wir darin gleichermaßen „letzten“ Sinn für uns und unser Dasein in dieser Welt zu erkennen vermögen – obwohl wir religiös und weltanschaulich offensichtlich in sehr unterschiedliche Richtungen denken. Das war im Grunde schon das Projekt der Aufklärung, denken wir nur an die Ringparabel in Lessings „Nathan der Weise”. Das Menschenrechtsdenken hat diese Idee, dass das menschliche Leben und zwar das eines jeden Menschen seinen Sinn in sich selbst trägt und deshalb von unendlichem Wert ist, in den Gedanken der jedem Menschen zukommenden unantastbaren Menschenwürde gefasst.
Das ist die Basis, auf der Menschen, die verschiedenen Religionen und Weltanschauungen zugehören, müssten zusammenfinden können. Sollten sie auf dieser Basis miteinander ins Gespräch kommen, dann bestünde aber die weitergehende Aufgabe darin, sich mit denen, die der christlichen Religion, einer anderen Religion oder eben auch einer atheistischen oder humanistischen Position bzw. Weltanschauung verbunden wissen oder auch sich als Agnostiker bezeichnen, darüber zu verständigen, inwiefern die jeweils eigene Glaubensposition (auch der Atheismus oder Nihilismus sind Glaubenshaltungen), einen Umgang mit der zutiefst menschliche Frage darstellen, warum wir in der Welt sind und was das Ganze überhaupt soll.
Ein Gespräch zwischen solchen, die Religionen anhängen auf der einen Seite und solchen, die sich als Atheisten, Humanisten und Agnostiker verstehen, kann überhaupt nur in Gang kommen, wenn zuvor, wie Sie richtig sagen, von allen anerkannt wird, dass wir zunächst einmal Menschen sind und damit solche Lebewesen, die nicht umhin können, nach dem Sinn und der Bestimmung ihres Daseins in der Welt zu fragen. Es kann sein, dass wir alle möglichen Antworten, die die Religionen und Weltanschauungen auf diese Frage geben, unbefriedigend finden. Wir müssen dennoch anerkennen, dass die auf Ganze gehende Sinnfrage unabdingbar aus der menschlichen Grundsituation hervorgeht, sie uns Menschen somit unabweisbar ist. Das war im Grunde schon der Ansatz der Aufklärung im 18. Jahrhundert. Damals begann man herauszufinden, wie man von verschiedenen religiösen oder weltanschaulichen Positionen Zugang zu einem uns als Menschen verbindenden und für das Gute engagierenden, vernunftgesteuerten moralischen Handeln finden kann. Die Religion wurde dabei nicht überflüssig. Sie genau rückte in die Zuständigkeit dafür ein, uns zu versichern, dass wir, sofern wir moralisch handeln, eines unverbrüchlichen, unbedingten Lebenssinns gewiss sein können (Immanuel Kant). Es war genau dieses Denken vom Menschen her, seinen Sinnbedürfnissen und seiner Verpflichtung auf das allgemeine Wohl, das dann den motivationalen Hintergrund auch des Menschenrechtsdenkens bildete, wie es in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der Französischen Revolution seine erste öffentliche Erklärung fand. Natürlich ist es so, dass sich die Menschenrechtserklärung und deren Fundierung in der Unantastbarkeit der Menschenwürde entscheidenden Inspirationen aus dem Christentum verdankt. Dennoch beruft sich das Menschrechtsdenken zu Recht auf seine human vernünftige und damit alle Menschen gleichermaßen angehende Begründung. Es nimmt insofern auch universale Geltung in Anspruch. Die partikulare, christliche Herkunftsgeschichte der Menschenrechte, die ebenso unbestreitbar ist, muss dem keinen Abbruch tun.
Die Aufgabe, die dem transreligiösen, weltanschaulichen Gespräch heute gestellt ist, besteht vielmehr genau darin, den Zugang zum Menschenrechtsdenken von den unterschiedlichen religiösen und weltanschlichen Positionen und Zugehörigkeiten her zu ebnen. Es genügt nicht, zu sagen, dass wir doch alle Menschen sind. Wir haben zugleich unsere religiösen und weltanschaulichen Bindungen und werden die nie los. Dennoch können wir, woher wir auch kommen und wer wir auch sind, zur vernünftigen Einsicht finden, in das, was für uns Menschen gut ist, sowie dem Frieden und der Gerechtigkeit in der Weltgesellschaft dienen kann. Auf dieser Basis, vermittels der Einsicht in das human Vernünftige, können wir auch in ein fruchtbares transreligiöses und weltanschauliches Gespräch kommen. Wir entdecken dann, welch eine motivierende Kraft zur Verwirklichung des human Vernünftigen in den religiösen und weltanschlichen Bindungs- und Orientierungskräften liegen kann.
Für Christen, wo ich das selbst am ehesten sagen kann, ist es so: Sie wissen sich durch den Glauben an die Menschwerdung Gottes wie auch aus dem Vertrauen, dass jeder Mensch nach Gottes Ebenbild geschaffen ist und trotz seiner Fehler von Gott geliebt wird, zur Anerkennung der unantastbaren Würde eines jeden Menschen hingezogen und verpflichtet. Dies gilt, egal, welcher Religion, Kultur, Nation oder Rasse er oder sie zugehören. Es ist, so denke ich, aber auch möglich, von anderen religiösen Traditionen den Zugang zum Menschrechtsethos zu finden. Gerade der Gedanke der Gottebenbildlichkeit des Menschen findet sich auch im Judentum, (er stammt aus der hebräischen Bibel, dem Alten Testament) und im Koran des Islam.
Die Frage ist im Grunde nur, ob die Bereitschaft dazu da ist, diese aufs Humane gehende, aufs menschlich Plausible und Verbindliche zielende Auslegung und Umformung der religiösen Traditionen zu betreiben. In Theologie und Kirche ist man eher auf Abgrenzung gegenüber dem Humanum bedacht. „Humanismus“ gilt vielen geradezu als eine sehr abschätzig zu betrachtende Sache, der gegenüber man Berührungsängste hat.
3. Wie stehen Sie als moderner liberaler Theologe zu der Auffassung, dass im Grunde alle Menschen, noch vor jedem religiösen bzw. nicht-religiösen, also atheistischen Glauben, zuerst und vor allem eben gemeinsam Menschen sind, also letztlich die geistige Haltung eines gemeinsamen Humanismus pflegen sollten vor aller religiösen oder nicht-religiösen Auslegung etwa die Menschenrechte als gemeinsame humane Basis leben und anerkennen?
Ich bin in der Tat, wie eben schon deutlich geworden sein dürfte, der Meinung, dass wir allen Anlass haben, unsere religiösen und weltanschaulichen Positionen der Frage nachzuordnen, was uns eigentlich, über diese religiösen und weltanschaulichen Differenzen hinweg, dadurch als Menschen verbindet, dass wir vernunftbegabte und damit im bewussten Selbstverhältnis uns bewegende, nach der Bestimmung und dem Sinn unsers Daseins fragende Lebewesen sind. Das war das Projekt der Aufklärung schon des 18. Jahrhunderts. Es ist immer noch unvollendet.
Worauf es heute im transreligiösen und weltanschaulichen Gespräch entscheidend ankäme, ist, sichtbar zu machen, dass dieses Projekt der Aufklärung nicht eine Reduktion der Humanität auf bloße Moral und schon gar nicht auf einen christlich-imperialen Humanismus bedeutet, sondern die Behauptung, dass dem menschlichen Leben, indem es seinen Sinn in sich selbst trägt, eine Unbedingtheitsdimension innewohnt.
Diese Dimension der Unbedingtheit von Sinn ist es, die jede Verteidigung des Menschen und seines Rechts auf Leben zur Voraussetzung hat. Deshalb gilt die Unbedingtheit von Sinn dann auch unabhängig von religiösen, nationalen, kulturellen, rassischen und sonstigen Zugehörigkeiten. Für mich ist das ein Hinweis darauf, dass auch dem Humanismus eine religiöse Auslegung eigentlich ganz gut täte – so wie dem Christentum und anderen Religionen eine humanistische Auslegung. Eine religiöse Interpretation könnte den Humanismus im Anschluss an religiöse Überlieferungen in weiter ausgreifende Systeme der Sinnorientierung einfügen und dabei vor allem auch die aus solchen Traditionen schöpfenden motivationalen Ressourcen eines von einem gemeinsamen Glauben getragenen Ethos freisetzen. Eine Notwendigkeit zur religiösen Interpretation des Humanismus und seiner an den Menschenrechten orientierten Sinndeutung menschlichen Lebens besteht gleichwohl nicht.
4. Wegen des dringenden Thema erlaube ich mir diesmal ausnahmsweise eine vierte Frage: Wenn sich heute weltweit immer mehr vor allem jüngere und vor allem reflektierte Menschen Atheisten nennen, sollte man sie nicht immer fragen: Welchen Gott lehnt ihr eigentlich ab? Und sollte man gläubige Christen nicht immer fragen: Welchen Gott verehrt ihr wirklich in eurer Lebenspraxis? Beide Fragen könnten helfen, die manchmal verfeindeten Menschen näher zu einander zu führen und auf Etiketten und Klischees und oberflächliche Bekenntnisse zu verzichten. Wie könnte das gelingen?
Ich denke, gerade jetzt im Jahr der Reformationsjubiläums, in dessen Zeichen auch der Kirchentag steht, könnte die Verständigung über „Gott“ am ehesten dadurch gelingen, dass man an das Wort Luthers aus dem „Großen Katechismus“ erinnert, „woran du nun dein Herz hängst, das ist dein Gott“. Wer in Wahrheit der Gott ist, an den wir glauben und auf den wir unser Vertrauen setzen, das zeigt sich dann und dort, wo für uns diese Welt und unser eigenes Dasein in ihr einen unbedingten, göttlichen Sinn gewinnt bzw. auf sich zieht. Das kann vieles sein, das es nicht wert ist – und oft ist es das auch nicht wert.
Jeden Menschen in der ihm eigenen Würde zu achten, sein Lebensrecht anzuerkennen, gilt zu Recht als ein Handeln, das einen unbedingt Sinn auf sich zieht. Auch alles in den eigenen Kräften Stehende zu tun, um ihm bzw. ihr zu diesem Recht zu verhelfen, gerade dann, wenn es ihm bzw. ihr, auch welchen Gründen auch immer, z.B. als Flüchtling heute in Europa aufgrund fehlender Papiere, verweigert wird, gilt ebenso als ein Handeln, das einen unbedingt Sinn auf sich zieht.
Es lohnt sich nicht über einen theoretischen Gott zu streiten, ob es ihn gibt und was er tut. Gott ist der Sinn unseres ganzen Daseins im Ganzen dieser Welt. Wer an Gott glaubt, der vertraut auf diesen Sinn, auch wenn er ihm in vielem unbegreiflich bleibt. Er glaubt, indem er an Gott glaubt, genau daran, dass das Leben, das im geschenkt ist wie das Leben jedes Menschen seinen Sinn unbedingt in sich selbst trägt. So gilt seine Sorge dem Recht auf Leben eines jeden in diese Welt geworfenen Menschen.
Darin können der Christ und der Humanist völlig einig miteinander sein. Sie ziehen gewissermaßen am gleichen Strang, auch wenn sie ihren Einsatz für Menschenwürde und Menschenrechte unterschiedlich interpretieren. Der eine sagt, mir ist der Mensch der höchste Wert. Der Christ wird ihm, vielleicht mit leicht kritischem Unterton antworten, dann ist also der Mensch dein Gott? Dabei vergisst der Christ aber hoffentlich nicht, sich zu erinnern, dass Jesus gesagt hat: „Was ihr getan habt einem eurer geringsten Brüder, das habt ihr mir getan.“ (Matthäusevangelium Kapitel 25).
Copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon, Berlin.