Der gekränkte Mensch. Ein Interview mit dem Philosophen Dr. Jürgen Große

Leben mit Kränkungen:

Fragen an Herrn Dr. Jürgen Große, anläßlich seines Buches “Der gekränkte Mensch”  (mit einem Hinweis zum Autor am Ende des Interviews)

Von Christian Modehn

Welche Rolle spielt für Sie als Philosoph, auch im Blick auf Ihr neuestes Buch „Der gekränkte Mensch“, die Beobachtung von Menschen in der Stadt? Man möchte sagen der empirische Blick des Flaneurs? Ihre „metaphysischen Miniaturen“, so der Untertitel, sind ja alles andere als empiriefreie Spekulationen.

Ich lebe in einer Großstadt und bin dort täglich, hauptsächlich zu Fuß, unterwegs. Das unterscheidet meine Situation sicherlich von der eines Reiseautors, der sich aufmacht, um etwas zu erleben und dann darüber zu schreiben. Die Eindrücke, auf die sich Der gekränkte Mensch bezieht, sind für mich zunächst eher etwas Passives gewesen, etwas, das sich (gewiss nicht nur mir) aufdrängte. Die literarische und philosophische Verarbeitung ist eine Möglichkeit, darauf zu reagieren. Metaphysik hat mit Steigerung, auch Übertreibung von Alltäglichem zu tun. Was ich an mir und anderen auf der Straße nur fragmentarisch erlebe, treibe ich am Schreibtisch zur Konsequenz. Ich fühle mich nicht in einer privilegierten Position wie der des Flaneurs.

Sie wollen das „Wesen“ des heutigen Stadtbewohners erfassen und kommen dabei zum Phänomen des weit verbreiteten Gekränktseins. Rührt Kränkung (durch Demütigung, Gefühl von Tadel und ungerechter Behandlung) vor allem aus einem Mangel an Selbstwertgefühl?

Das schwierigste Wort an dieser Frage ist für mich Selbstwertgefühl. Wodurch entsteht das? Hat man es ständig? Stolz wird zu Selbstgefühl normalerweise nur, wenn er verletzt wurde. Im Kapitalismus ist aber, wenn man sozial funktionieren will, ein dauerndes Wissen vom eigenen Wert gefordert, das nicht so sehr mit erbrachten Leistungen zusammenhängt – die können ja schnell durch technische Fortschritte hinfällig werden –, sondern eher mit der Bereitschaft zu einer Selbstdistanzierung. Um sich ihres Wertes gewiss zu werden, muss die Person dauerhaft neben sich treten können, muss sich als wert versprechendes Objekt vorstellen, darstellen, herstellen. Paradox gesagt: Sie muss sich zum Objekt machen, um als Subjekt überzeugen zu können. „Erfinde dich selbst“ ist der frischfröhliche Ausdruck dafür.

Viele Menschen sind gekränkt, weil sie keine Chance haben, ihre Begabung, ihren Beruf usw. adäquat auszuüben. Ruft Gekränktsein nicht nach „Empörung“ (Stephane Hesssel) auch politischer Art?

Der „Mythos vom Zivilisationsprozess“ besagt, dass physische Übergriffe allmählich durch imaginäre, symbolische Formen der gegenseitigen Verletzung ersetzt werden. Man existiert sozial durch den Respekt, den andere einem zollen, man ist bereit, für ein Bild von sich zu sterben. Die prominentesten Terroristen waren nicht underdogs, die im materiellen, gar physischen Sinne Erniedrigten und Beleidigten dieser Erde. Es waren Aufsteiger aus den Mittel- und Oberschichten der sog. dritten Welt, die ihre Anpassung an die westliche Lebensform nachträglich als demütigend empfanden, oder auch Leute aus dem innersten Zirkel der wissenschaftlich-technischen Zivilisation (Unabomber).

Kann man überhaupt noch einem anderen Menschen die von einem selbst empfundene, also „eigene“ Wahrheit sagen, ohne Angst haben zu müssen, den anderen noch weiter zu kränken?

Wahrheitsliebe und Nächstenliebe sind nun einmal nicht vom selben Stamm. Doch man kann ja auch verletzt sein, wenn man sich belogen findet.

Ist in einer allseits gekränkten Gesellschaft noch Wahrheit, Wahres sagen, möglich?

Mir geht es in dem Buch nicht so sehr um gegenseitige Kränkungen, sondern um die Bereitschaft zur Selbstdemütigung. Wer sich unter das Bild des allzeit disponiblen Subjekts demütigt, glaubt nicht an eine objektiv bestehende Wahrheit.

Wie entkommen wir dem wohl unabwendbaren Geschehen des Gekränktwerdens? Brauchen wir – um den Untertitel aufzugreifen – metaphysische Verwurzelungen? Etwa ein prinzipielles Ja zum nun einmal auch Kränkungen bringenden Dasein?

Unabänderliches zu bejahen wäre bloß intellektuelle Pose.

Veröffentlicht am 4. 3. 2013

Das Buch von Jürgen Große “Der gekränkte Mensch” ist 2012 erschienen. Es hat den Untertitel “Metaphysische Minitiaturen”. Erster Band. Leipzoger Literaturverlag. 109 Seiten.

Zum Autor, dem Philosophen Jürgen Große:

Dr. Jürgen Große, geb. 1963 in Berlin; Lehre als Schriftsetzer, Wehrdienst, Pressevolontariat, Lektor in verschiedenen Verlagen. 1986–1992 Studium der Geschichte und der Philosophie an der Humboldt-Universität sowie an der Freien Universität Berlin, 1996 Promotion, 2005 Habilitation, Lehraufträge für Philosophiegeschichte, akademische Gastaufenthalte im Ausland, seit 2000 freier Autor.

Veröffentlichungen (Auswahl): Aus Zeit und Geschichte (Roderer: Regensburg, 2000); Aus Langeweile. Aphorismen – Essays – Fragmente (Leipziger Literaturverlag: Leipzig, 2004); Kritik der Geschichte (Mohr: Tübingen 2006); Phänomenologie des Unglücks (edition fatal: München, 2007; Teilübersetzungen ins Italienische und ins Polnische 2011); Die Philosophen (der blaue reiter: Stuttgart, 2007); Durch Tag und Nacht. Lehrstunden der Schlaflosigkeit (der blaue reiter: Stuttgart, 2008); Philosophie der Langeweile (Metzler: Stuttgart, 2008); Ernstfall Nietzsche. Debatten vor und nach 1989 (Reihe Essay – Aisthesis: Bielefeld, 2010); Lebensphilosophie (Reclam: Stuttgart, 2010); Fünf Zeitbilder. Geschichtsphilosophische Glossen (Leipziger Literaturverlag: Leipzig, 2010); Der gekränkte Mensch. Metaphysische Miniaturen (Leipziger Literaturverlag: Leipzig, 2012); Die Arbeit des Geistes (der blaue reiter: Aachen, 2013).

Auszeichnungen/Stipendien (Auswahl): 1997 Humboldt Fellow Hopkins University/Baltimore, 1999 Stipendium der Akademie Schloß Solitude (für Aus Langeweile), 2001 Förderstipendium Essay der Stiftung Niedersachsen (für Aus Zeit und Geschichte), 2006 Alfred-Döblin-Stipendium der Akademie der Künste (für Die Philosophen), 2009 Preis der Jungen Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften für den Essay „Gedankenräume“, 2010 Günter-Bruno-Fuchs-Preis (für Fünf Zeitbilder)