Von Christian Modehn.
Veröffentlicht in der empfehlenswerten Zeitschrift Publik-Forum (13/2018 vom 06.07.2018) Siehe auch: https://www.publik-forum.de/
Früher glaubte man an Gott. Heute glaubt man ans Internet. Oft macht der Seelen-Striptease in den Netzwerken Menschen sichtbar, die nicht wissen, wer sie sind. Wir brauchen eine neue Bekenntniskultur. Eine, die den Namen verdient Wer bin ich? Allzugerne geben viele im Internet Privates von sich preis, doch mit echtem Bekenntnis hat das wenig zu tun. Allzugerne geben viele im Internet Privates von sich preis, doch mit echtem Bekenntnis hat das wenig zu tun.
Religionen und Kirchen werden zahlenmäßig überholt von der virtuellen Gemeinde der Facebook-Freunde: Mehr als zwei Milliarden sind bei diesem »sozialen Netzwerk« angemeldet, von 26 Millionen deutschen Nutzern gehört jeder Dritte zur Altersgruppe zwischen 18 und 24. Facebook-Chef Mark Zuckerberg beschrieb kürzlich den Glauben vieler seiner »Gemeindemitglieder«: »Wenn man sich Facebook anschließt, kann das gut sein für unser Wohlbefinden. Man fühlt sich weniger allein und das trägt zu Glück und Gesundheit bei.
Psychologen wissen hingegen, wie belastend und schädlich das ständige Starren auf die Smartphones ist. Aber das erschüttert nicht die Gemeinde der Facebook-Freunde oder der 800 Millionen Instagram-Nutzer. Vor Bekenntnissen der neuen Art scheuen sie sich nicht: Wer bei Facebook sein Profil einrichtet, setzt mit dieser Entscheidung ein meist unausgesprochenes, aber tatsächliches Bekenntnis: »Ich will Teil dieser virtuellen Gemeinde sein.« Auch bei einem klassischen religiösen Bekenntnis wird von der formalen Struktur her lediglich verlangt, öffentlich Ja zu einer Lehre und einer Gemeinschaft zu sagen. Während in Europa die klassischen christlichen Glaubensbekenntnisse aus dem 4. Jahrhundert im Alltag nahezu bedeutungslos sind, steigt die Lust am individuellen, immer wieder neu formulierbaren und nach Laune korrigierbaren Bekenntnis. Viele Millionen Menschen sind bereit, beinahe pausenlos ihre Überzeugungen öffentlich anzupreisen. Es handelt sich dabei um »Confessiones«, was in den romanischen Sprachen »Bekenntnisse« und »Beichten« bedeutet. Aber es sind Beichten der schlichten Art, gerade dann, wenn sie Intimes öffentlich machen: Jeder und jede soll wissen, dass meine Lieblingsfarbe beim BH Dunkelblau ist oder dass ich unter Depressionen leide und seit einer Woche mein Zimmer nicht mehr verlassen habe. Oder dass ich so einzigartig Mousse au Chocolat für die beste Freundin zubereiten kann. Ich bekenne das alles und rechne damit, dass »meine Gemeinde« mich dafür liebt.
In einer »Welt des allmächtigen Konsums macht man sich selbst zum Konsumgut für andere«, betont der Soziologe Zygmunt Bauman in seinem Buch »Leben als Konsum«. Einander das Leben erzählen: Gut ist das! Thematisch geht es bei diesen Beichten eher selten um den Ausdruck der eigenen Reflexionskraft, auch wenig um Grundsätzliches aus Ethik oder Politik. Mit Sprüchen oder Selfies liefert man sich und anderen stattdessen häufig eine Art Striptease, ist verliebt in die eigene Reality-Show. Der Soziologe Andreas Reckwitz nennt diese Form des Miteinanders »die Gesellschaft der Singularitäten«: »Der Mensch arbeitet an sich selbst als etwas Einzigartigem, Attraktivem und Unverwechselbarem (…) Er will weltweit sichtbar sein. Denn Unsichtbarkeit (im sozialen Netzwerk) bedeutet den digitalen Tod.« Aber es ist nicht das authentische Ich, schon gar nicht das »Selbst« oder meine Person, die sich in Facebook-Bekenntnissen ausspricht. Selbstfindung und »persönliche Ganzheit« sind ja eher selten intendiert. Viele Bekenntnisse auf Facebook sind nichts als Lügen. Und diese Lügen können extreme Formen annehmen: Rechtsextreme verbreiten pseudonym ihre von Hass und Rassismus bestimmten Bekenntnisse. Man will muslimischen Frauen ihre Schleier verbieten, bevorzugt aber selbst das Versteckspiel hinter Masken. »Dieser bekenntnishafte Sprachterror reicht bis in die Mitte der Gesellschaft«, sagt der Kommunikationswissenschaftler Kai Hafez. Die Kluft zwischen permanentem Gerede dieser Art und dem Bekenntnis, an einer humanistischen oder religiösen Gestaltung der eigenen Person zu arbeiten, ist evident. Wird eine neue Bekenntniskultur, die den Namen verdient, eines Tages noch erlebbar werden? Einst waren religiöse Bekenntnisse Ausdruck des eigenen Glaubens an Gott. Sie gaben Zeugnis von Grundentscheidungen angesichts des eigenen Lebens und Sterbens. Der Gläubige wollte – etwa bei der Erneuerung der Taufe in der Osternacht – mit seinem Bekenntnis »Nein sagen zur Macht des Bösen und des Teufels«. Welche Bewegung könnte entstehen, wenn Bekenntnisse heute auch Formen des Neinsagens zu Ungerechtigkeit und Krieg wären? Wer eine Bekenntniskultur, die diesen Namen verdient, fördern will, sollte kritische Sprach- und Sprechgemeinschaften, ohne Flucht ins Virtuelle, aufbauen. Der Katholizismus hat es versäumt, die Beichte mit neuen Formen und neuen inhaltlichen Schwerpunkten auszustatten. Beichte bedeutet »confessio«, also Bekenntnis. Aber dieses Bekenntnis wurde seit dem 17. Jahrhundert meist als Dahersagen von Sünden in einem verdunkelten Beichtstuhl vor einem fast unsichtbaren »Beichtvater« praktiziert. Von dieser Form des Bekennens haben sich die meisten Gläubigen befreit. Die Frage bleibt: Wo und wie können sich Menschen im kirchlichen Rahmen zum Auf und Ab, zum Schicksal ihres Lebens bekennen? Freiheit gewinnen – weil man solidarisch ist Völlig vergessen ist eine Empfehlung aus dem Jakobus-Brief im Neuen Testament, wo es heißt: »Bekennt einander eure Sünden.« Und so kannte die frühe Kirche im 4. Jahrhundert die Praxis, dass Laien und Mönche sich zu einem »bekennenden, also öffentlichen Gespräch« trafen. Der französische Jesuit Jean Claude Guy hat über diese, wie er sagt, therapeutischen Beichtgespräche publiziert: »Diese Christen sorgten sich miteinander um ihre Seele, weil ein nicht ausgesprochenes Übel eine versteckte seelische Erkrankung bedeutet.«
Könnten christliche Gemeinden auch heute Orte werden, wo man einander das eigene Leben erzählt und Versagen bekennt? Von der formelhaften Wiederholung uralter Glaubensbekenntnisse sollte man in jedem Fall Abstand nehmen: Ihre antike philosophische Sprache versteht fast niemand mehr ohne die Lektüre umfangreicher Kommentare. Wie es anders geht, zeigt die niederländische protestantische Kirche der Remonstranten: Sie fordert jedes neue Mitglied auf, nach gründlicher Reflexion das eigene, persönliche Glaubensbekenntnis zu formulieren und auszusprechen. Dieses Bekenntnis wird dann selbstverständlich respektiert und in der Gruppe erörtert. Es wird zum eigenen Horizont, zu einer Verpflichtung, sich um die eigene und die Seele der anderen zu kümmern. Seele ist die Energie, »die Menschen in ihrem Leben in Gang hält«, sagt der Philosoph Michael Hampe treffend, vor allem: »Die Sorge um die Seele findet in der Gemeinschaft der miteinander Sprechenden statt.« Nur wer sich auf diese Weise seiner selbst klar wird, kann seine Confessiones, seine Bekenntnisse, sprechen und schreiben.
Der Kirchenvater Augustinus blickte in der spätantiken Welt auf sein Leben zurück. In seinen »Bekenntnissen« wendet er sich wie im Gebet ständig an Gott und bittet um Vergebung seiner meist sexuellen Verirrungen. Sehr viel näher steht uns der im Detail ehrlichere Jean-Jacques Rousseau mit seinen viel gelesenen »Confessions« (veröffentlicht 1782). Auch Rousseau beschreibt – wie Augustinus – seine sexuellen Leidenschaften: Sie sind für ihn keine Sünden mehr, sondern diskutable Wege und Irrwege. Sich seiner selbst bewusst, wendet er sich an den (göttlichen) Richter, der den Menschen ganz durchschaut: »Ich habe das Gute und das Schlechte (!) mit derselben Offenheit ausgesprochen. Ich habe mein Inneres so enthüllt, wie du (Gott, der höchste Richter) es selbst erblickt hast.« Heute schreiben Schriftsteller, die Beachtung finden wollen, sehr offen »Bekenntnisliteratur«. Sie stehen zu ihrer persönlichen Glaubenshaltung. Gerade im säkularisierten Frankreich ist das auffällig: Der viel beachtete Franzose Emmanuel Carrère etwa möchte auch als Agnostiker ein Liebhaber der Worte Jesu sein. Und der spirituell stets suchende Michel Houellebecq klagt öffentlich: »Gott will mich nicht.« Ob sich viele Bekenner auf Facebook und Co. von dieser reflektierten Bekenntnisfreude anstecken lassen? Immerhin gibt es auch jene, die qualvoll erlittene Bekenntnisse schätzen können oder schätzen lernen, zum Beispiel, wenn sich homosexuelle Menschen outen. Viele Betroffene suchen auf dem Weg zu ihrem wahren Selbst hilfreiche Gruppen. Sie könnten sich als Bekennende zeigen, als Liebhaber von Gerechtigkeit und Solidarität – und so eine neue Freiheit gewinnen. Das gilt auch dann, wenn Gemeinschaft im Gottesdienst gesucht und gefunden wird: Dort wird die gesprochene und erlebte Erinnerung daran gepflegt, dass Gott nur Menschlichkeit »will«.
Dieser Text stammt von der Zeitschrift Publik-Forum. Für Probe abonnemenents und weitere Infos siehe: https://www.publik-forum.de/