(Unvollständige) Hinweise von Christian Modehn anlässlich des 50. Todestages von Georg Lukács am 4. Juni 2021.
1.
Vor 50 Jahren, am 4. Juni 1971, ist der Philosoph Georg Lukács in Budapest gestorben, geboren wurde er ebenfalls in Budapest am 13.4.1885. Das sehr umfangreiche Werk des marxistischen Philosophen ist, wie Axel Honneth schreibt (in: Georg Lukács, „Ästhetik, Marxismus, Ontologie“, Suhrkamp, 2021, S. 7, in den folgenden Zitaten hier nur die Seitenangaben) „voller Höhen und Tiefen“, nicht zuletzt wegen seiner Jahre langen engen Bindung an die Kommunistische Partei Ungarns. Zur Zeit seines Aifenthalts in Moskau (dorthin geflohen seit 1933) fiel er 1941 in Ungnade Stalins …und überlebte trotzdem: „Glück in Katastrophenzeit“, sagte er (G.L. Ästhetik, S. 557).
Lukács hat sich seit 1919 bis zu seinem Tod sehr deutlich als Marxist verstanden. Aber deswegen ist Lukács alles andere als ein Denker, der nur für Historiker des angeblich bedeutungslos gewordenen Marxismus wichtig ist. Im Gegenteil, es gibt bleibende und gültige Erkenntnisse des Marxisten Lukács, man denke nur an den Begriff der „Verdinglichung“, dargestellt in dem Buch „Geschichte und Klassenbewusstsein“. Der Soziologe Hartmut Rosa bezieht sich in seinem viel beachteten Buch „Resonanz“ ausführlich auf die Verdinglichung im Sinne von Lukacs.
2.
In der ersten Phase seines äußerst umfangreichen nicht nur philosophischen, sondern auch literaturwissenschaftlichen Publizierens hingegen war er „vormarxistisch“ (A. Honneth, S.8) orientiert. Seine „Konversion zum Kommunismus“ (so Axel Honneth, S. 13) fand Ende 1919 statt. „Lukács wird 1918 scheinbar urplötzlich Kommunist und zumal orthodoxer Marxist“, ergänzt Rüdiger Dannemann, Lukács Spezialist und Mit-Herausgeber des genannten Buches (S. 24f.). Die Gründe für dieses „urplötzliche Konversion“ wird vielleicht eine sehr ausführliche Biographie erklären können. War es die Erschütterung über die Verwüstungen des Ersten Weltkrieges? Die Flucht in eine Doktrin, die die „Erlösung“ der Menschheit politisch durchsetzen kann?
3.
Der theologisch konnotierte Begriff „Konversion“ macht wie schon die von Lukács selbst verwendete Behauptung von der „welterlösenden Rolle des Sozialismus“ (in: G.L., „Ästhetik…“ S .205) neugierig: Wird eigentlich heute – endlich, möchte man fast sagen – auch gründlich das Thema „Georg Lukács und die Religion“ untersucht?
4.
Nun findet im „Aufbau-Haus“ in Berlin am 4. Juni 2021 eine internationale Lukács Konferenz statt – live gestreamt! Unter den zahlreichen Vorträgen (Höhepunkt dürfte wohl der Vortrag von Axel Honneth sein über „Lukács‘ Gratwanderung zwischen philosophischem Argument und parteilichem Engagement“) sucht man das Thema Religion, jedenfalls explizit, vergebens, vielleicht kommt es ja irgendwie am Rande „implizit“ dann doch noch vor. Die Frage nach der Religion im philosophischen Denken ist keineswegs ein persönlicher „Spleen“. Dieses Interesse entspricht nicht nur den Traditionen philosophischen Denkens, sondern im Fall von Georg Lukacs selbst gibt es allein schon in dem genannten Buch einige zum Teil kurze, zum Teil ausführlichere Hinweise zur Bedeutung der Religion in seinem Denken aus allen unterschiedlichen „Denk – Epochen“ von Lukács.
5.
Für mich ist sehr aufschlussreich der kurze Text über „Jüdischen Mystizismus“ von 1911, also noch aus der vormarxistischen Phase. Der kurze Text ist eine Buchbesprechung zu den „Geschichten des Rabbi Nachman“ aus der mystischen Chassidim-Bewegung, in einer Übersetzung Martin Bubers. Interessant ist, welche Kenntnisse der Mystik Lukacs in dem kurzen Text (Seite 108 und 109) zeigt. In einem gewissen kritischen Abstand spricht er nicht von Mystik, sondern von Mystizismus, was auf seine Distanz hinweist. Aber Lukács weiß auch, dass „Mystizismus“ wenig an etablierte Religions-Systeme gebunden ist, er weiß, dass es sozusagen interreligiöse inhaltliche Übereinstimmungen zwischen verschiedenen „Mystizismen“ gibt. Im Jahr 1933, als Marxist und Kommunist, kommt Lukács noch einmal auf „Mystik“ zurück. In seinem inzwischen etwas berühmten Aufsatz „Grand Hotel Abgrund“ behauptet er, dass ein skeptischer Relativismus eine nicht-kommunistische, liberale und sozialdemokratische intellektuelle „Elite“ hinübergleiten lässt in eine „reaktionäre Mystik“, (so wörtlich S. 333). Diese reaktionäre Mystik im Sinne von Lukács hält sich nicht mehr an die „objektive Wirklichkeit“ in seinem Sinne, also an die alles bestimmende Macht der materiellen Gegebenheiten. Diese reaktionäre Mystik gleitet in ihrer Ignoranz ab „in das fingierte Absolute des religiösen Mythos“ (332). Also, man könnte sagen: Wer nicht als Kommunist die Partei ergreift für die Unterdrückten, ergreift Partei für die Unterdrücker und gleitet ab in einen religiösen Glauben, der förmlich nur über allem Materiellen schwebt.
6.
Der christliche Begriff des Märtyrers als „Blutzeugen“ ist Lukács natürlich bekannt. Darum kann er in seiner Hommage für Rosa Luxemburg aus dem Jahr 1920 (!) diese ja durchaus Lenin-kritische Sozialistin eine „wahre Blutzeugin“ nennen (S. 294). Ist dies eine Art säkularer Heiligsprechung der Blutzeugin Rosa Luxemburg?
7.
Seine Studien über den jungen Hegel hat Lukacs auch in Moskau unter Stalin fortgeführt. Und Axel Honneth schreibt wohl sehr treffend: „Es fällt ein bestürzend erbarmungsloses Licht auf die Widersprüchlichkeiten, in die sich Lukacs inzwischen bei seinem Versuch verstrickt hat, gleichzeitig Partei für den Geist (also Hegel, CM) und Partei für die Partei zu ergreifen“( 21). Vorher, 1922, hatte Lukács schon einen Beitrag „Die Jugendgeschichte Hegels“ verfasst. Der „junge Hegel“ ist sozusagen ein Dauerthema für Lukács. In diesen Arbeiten ist – wie es sich für Hegel gehört – auch von Religion die Rede. Darin sieht er Hegel auf einer Linie mit der bürgerlichen Klasse, die sich damit abgefunden hatte, die feudalen Reste der Gesellschaft zu akzeptieren. Auf die Religion im Sinne Hegels bezogen: Hegel wollte nur noch das bestehende, gegebene „positive“ Christentum durch die Vernunftreligion rechtfertigen. Er wollte als Bürgerlicher aber nicht das Christentum abschaffen zugunsten nur einer Vernunftreligion. (S. 304). Das hätte Lukács treffend gefunden
8.
Sehr religiös klingen einige Formulierungen, wenn Lukács, 1918 also noch sehr kurz vor seiner Konversion zur kommunistischen Partei, von der erlösenden Kraft des Proletariates schwärmt: Das „Wollen“ einer demokratischen Weltordnung durch die Sozialisten (also SPD) „macht das Proletariat zum sozialistischen Erlöser der Menschheit“ (S. 205). Kann man sich, philosophisch gesehen, Erlösung in einer engeren, begrenzteren Definition vorstellen?
9.
In seinem Aufsatz von 1933 „Grand Hotel Abgrund“ fordert er hingegen die Abkehr von der Sozialdemokratie, er fordert den mutigen „Sprung“ angesichts des politischen Abgrundes dieser Welt in die kommunistische Partei. Diesen Sprung nennt er hübsch „salto vitale“ (S. 329). Lukács verwendet tatsächlich den Begiff „Sprung“, (S. 328) um die entscheidende Leistung des zum Kommunismus Entschlossenen zu beschreiben. Dieser Begriff Sprung erinnert mich daran, was Kierkegaard oder der Theologe Karl Barth für die entscheidende Leistung des Glaubenden hielten. Sie müssen gegen alle Vernunft in den Glauben und seine Dogmen springen. Über den Begriff Sprung sehe ich eine intime Nähe der kommunistischen Religion zur dogmatischen Religion der christlichen Kirche. In beiden Religionen muss „gesprungen“ werden. Und der Begriff „salto vitale“, also ein lebendiges, wenn nicht erst gar Leben spendendes salto, erinnert mich von fern an den „Sprung „des Menschen, wenn er sich zur Taufe entschließt, und ursprünglich in das tiefe Taufbecken einst gestoßen wurde.
Für viele Kommunisten, zumal unter Stalin, wurde ihr „salto vitale“ dann doch zu einem salto mortale, für Millionen anderer Menschen ebenso, die dieses sich nur im „Glauben“ zu erschließende kommunistische „salto vitale“ aus Vernunftgründen gar nicht vollziehen konnten und wollten. Sie wurden zu tausenden dann auch in den Lagern Stalins oder der sozialistischen „Bruderländer“ gequält, ausgebeutet als Arbeitstiere und umgebracht
10.
Ausführlich über das Christentum spricht Lukács in der Einleitung seiner Studie „Zur Ontologie des gegenwärtigen Seins“(von 1964) (S. 458 ff.). Darin weist er nicht nur auf das Eingebundensein des Christentums in die antike und mittelalterliche Philosophie hin, er zeigt sich dabei als Kenner der Kirchengeschichte, wenn er etwa sagt: „Paulus, der das Christentum über die engen Schranken einer jüdischen Sekte hinausführt“ (S. 459).
11.
Die Erinnerung an Georg Lukács also bleibt zwiespältig: Für mich stellt sich die Frage: Wie kann man sozusagen bleibende Erkenntnisse (etwa „Verdinglichung“) aus dem Gesamtkorpus seines nun einmal seit 1919 kommunistischen, später aber in jedem Fall sozialistischen Denkens „herausbrechen“? Und eine Debatte über das „Bleibende“ und nach wie vor „Inspirierende“ des Sozialismus ist heute alles andere als obsolet.
12.
Eine Frage bleibt: Wie hat Georg Lukács den Antisemitismus und den Holocaust verstanden und beschrieben, auch den Antisemitismus in den kommunistischen Parteien (Polen, Ungarn, DDR) nach 1945?
Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin