„Ethik ist wichtiger als Religion“: Hinweise zu einer These des Dalai Lama
Von Christian Modehn
Der Dalai Lama hat in Gespräch mit Franz Alt die These vertreten: „Ethik ist wichtiger als Religion“. Dieser neueste Beitrag des Dalai Lama vom April 2015 wird international verbreitet, der Text steht auch als pdf Datei gratis zum Herunterladen bereit.
In unserem Religionsphilosophischen Salon am 28.8.2015 haben sich –im Gespräch mit 26 TeilnehmerInnen – einige Fragen und Perspektiven ergeben. Aus meiner Sicht der Hinweis:
Es ist außergewöhnlich, dass einer der prominentesten religiösen Führer/Meister, der immer noch als „Seine Heiligkeit“ angesprochen wird, behauptet: „Ethik ist wichtiger als Religion. Ethische Bildung ist wichtiger als religiöse Bildung. Religion ist tendenziell gewalttätig“.
Relativiert der Dalai Lama damit die Religion? Handelt es sich um eine Art Selbst-Herabstufung des Religiösen durch einen religiösen Meister? Diese Überzeugung wäre ja angesichts der vielen Krisen dieser Welt verständlich, wo die Religionen oft keine konstruktive Rolle spielen (Islam) und die Sehnsucht nach einer wirklichen allumfassenden Menschlichkeit enorm ist.
Die Frage bleibt: Ist die Lage der Welt, Krieg, Gewalt, Fundamentalismus, Wahn, Vertreibung usw. so zum Verzweifeln, dass schon gar nicht mehr damit gerechnet werden kann, Religionen könnten dabei behilflich sein? Haben die Religionen kein Potential der Hilfsbereitschaft mehr? Wer sich unbefangen umsieht, wird heute eher des gegenteiligen Eindrucks gewiss: Die Kirchen helfen diakonisch, auch muslimische Organisation sind caritativ tätig. Schwierig bzw. nicht hinzunehmen ist hingegen, wenn aus religiösen Offenbarungsprinzipien weltliche Gesetze abgeleitet werden! Das geschieht noch in vielen islamischen Ländern. Der Dalai Lama plädiert ausdrücklich mehrfach für eine säkulare Ethik, also eine solche, die sich der allgemeinen, der menschlichen Vernunft erschließt, also auch Atheisten und Agnostikern, wie ausdrücklich betont wird. Diese hat Gewissheiten, wenn nicht Evidenzen zu bieten, etwa der Kategorische Imperativ! Aber: Welche konkreten Vorschläge hat de Dalai Lama, um dieser säkularen Ethik als Realität entgegen zu gehen? Er schlägt das Übliche vor: Meditieren, meditieren, meditieren… Aber, eher nebenbei: Der Dalai Lama scheint Ethik und Moral zu verwechseln. Moral ist das gute Leben des einzelnen, Ethik die Reflexion auf die gelebte Moral. Er spricht dauernd nur von Ethik als der Lehre der Moral!
Gibt es auch „böse Ethiken“? Natürlich, aber das wird vom Dalai Lama nicht thematisiert. Die ideologischen Traktate der Nazis oder der Stalinisten gaben sich als so genannte „Ethiken“ aus.
Und nicht alle Religionen sind „unvernünftig“ und tendenziell bzw. faktisch gewalttätig. Mit der Reformation begann das Bemühen, den christlichen Glauben vernünftig zu betrachten, die Bibel vernünftig zu lesen, vielen Hokus Pokus aus dem Christentum zu vertreiben. Dabei haben Philosophen für eine Reinigung des obskuren christlichen Glaubens gesorgt. Es gibt bis heute kleine explizit theologisch-liberale protestantische Kirchen! Und auch die Mystiker, die von dem unsichtbaren Gott, dem göttlichen Geheimnis sprechen. Das sieht der Dalai Lama (in dieser Schrift) nicht.
Er sieht auch nicht, dass Religion selbst sich ALS Ethik versteht, etwa, wenn Jesus von Nazareth im Gleichnis des Barmherzigen Samariters diese gute Tat ALS den wahren Gottesdienst versteht.
Die abstrakte Trennung hier Ethik, da drüben „jenseits“, getrennt die Religion, gilt nicht, sie ist sogar falsch! Ein Beispiel: Heute sind (katholische) Basisgemeinden in ihrem Engagement für die Menschenrechte (auch für die Arm-Gemachten, Elenden) bester Ausdruck dafür: Religion ist selbst Ethik (als Eintreten für Menschenrechte).
Und hat Religion als (reflektiertes) religiöses Gefühl, das sich entwickelt auch in Auseinandersetzung und im Erleben von Kunst, Musik, Literatur, Poesie, nicht nur sehr gutes und manchmal – in seelischen Krisenzeiten etwa – ihr vorrangiges Recht?
So ist diese Broschüre des Dalai Lama mit Franz Alt interessant, inspirierend, durchaus, aber auch inspirierend zur Kritik und der Feststellung von Fehlern. Aber das will der Dalai Lama zweifellos!
Bei aller Kritik jedoch gilt: Die Broschüre des Dalai Lama bleibt wichtig. Sie zeigt den richtigen Weg: In dieser zerrissenen und chaotischer werdenden Welt kommt es zuallererst auf Kräfte an, die das Verbindende der Menschheit fördern willen. Die zuerst an den Menschen als Menschen denken, an sein „Glück“, wie der Dalai Lama sagt, und alle gewagten/neurotischen Konstruktionen und Ideologien, auch religiöse Ideologien, auf die zweite Stelle setzen.
Und diese Kräfte sollten, so bescheiden auch immer, diese säkular – ethische Haltung leben, in kleinen Gruppen oder allein. Die protestieren, wenn Religionen, Ideologien, esoterische Fantastereien wichtiger genommen werden als die allgemeine Vernunft, also die für alle (!) geltenden Menschenrechte, die absolut vorrangig bleiben, auch wenn unbegabte Politiker sie missbrauchen.
Es wird die Frage dringend angesichts dieser Schrift des „Anführers“ der Buddhisten:
Wann wird denn ein Papst – dem Dalai Lama folgend – sagen: Auch für uns Katholiken und für den Vatikan, alle Bistümer und den päpstlichen Hof (Kurie) ist die vernünftige Ethik wichtiger als die katholische Religion und ihre rigiden religiösen/klerikalen Gesetze? Und wir sprechen darüber IN den Gottesdiensten, gestalten „Feiern der Ethik“ am Sonntag anstelle der ewig selben Messen mit ewig denselben Worten etc…
Wann wird denn dies der Ökumenische Weltrat der Kirchen in Genf sagen? Wann die Verantwortlichen der Reformationsfeierlichkeiten 1517 in Wittenberg: Ethik ist wichtiger als eure Religion!
Wann die Putin ergebenen und verblendeten Popen und Patriarchen in Moskau? Gibt es Hoffnungen angesichts einer reaktionären orthodoxen Kirche, die nur als angepasste Staats-Ideologie existiert?
Wann all die vielen Islam-Organisationen: Wann werden sie mit einer Stimme bekennen und in allen Moscheen laut schreiend bei einem Freitagsgebet jeweils in den Landessprachen sagen: Vernünftige (!) Ethik ist wichtiger als Religion und religiöse Traditionen?
Wann werden dies militante Hindus und militante Buddhisten usw. sagen? Und die Anhänger jener Religion, die die eigene Nation bzw. den eigenen Staat und den Kurs der Börse heilig sprechen? Darf man das hoffen? Erwarten dürfen wir es nicht, weil die Macht der religiösen Verblendung auch heute enorm ist, weil Religion das eigene Nachdenken erspart und nicht fördert. Und viele Religion (als Ideologie) wichtiger finden als pure Menschlichkeit.
ABER: Wir müssen hoffen und daran arbeiten, damit wir nicht völlig verzweifeln: Säkulare Ethik ist wichtiger als unvernünftige Religion, aber nicht jede Religion ist unvernünftig, siehe oben!
Der Dalai Lama hat jedenfalls einen klaren Schritt vollzogen und er hat einen radikalen SCHNITT vollzogen. Merken wir es uns: Ethik ist ab sofort wegen des Überlebens der Menschheit wichtiger als (unvernünftige) Religion.
Copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon Berlin