Statt Identitäten: die Vielfalt
Religionsphilosophische Perspektiven für 2011
Wichtig bleibt für uns als Projekt, den „Geist der Zeit“ bzw. „die Geister der Zeit“ (in ihrem Nebeneinander und Gegeneinander) wahrzunehmen und kritisch zu analysieren. Philosophie schwebt nicht in der Abstraktion, sie hat das Gegebene, auch in den Religionen, zu bedenken und zu kritisieren. Maßstab ist eine sich selbst kritisierende und damit „offene“ Vernunft.
Der schon vorher deutliche Trend bleibt: Die Verkapselung der Individuen und Gesellschaften, der Staaten und Religionen in ihre vermeintliche Identität.
Das zum Teil aggressive Bestehen auf einer fix und fertigen Identität äußert sich im Rechthaben, im Anspruch, „die“ Wahrheit gegenüber den anderen zu haben, Fremde und Fremdes als Gefährdung zu deuten, von Verlustängsten geplagt zu sein, nicht teilen zu wollen, nicht lernen zu wollen von anderen. Identität kann es geben, aber nur in einer offenen, dialogischen Situation.
Dieser Wahn, um jeden Preis eine angeblich „ewige“ oder „typische“ Identität zu wahren, ist naiv: Denn auch diese Identität ist entstanden, gewachsen, aus verschiedenen Einflüssen geformt worden…
Was die christlichen Kirchen angeht:
– Die Orthodoxie in ihrer Vielfalt zeigt sich heute in Osteuropa als staatstragend. Sie lässt sich als religiöse Ideologie für halbdemokratische Regime missbrauchen. Reformen kommen nicht in Frage; reale Trennung von Staat und Kirche ist tabu. „Die orthodoxe Frömmigkeitskultur trägt zudem kaum dazu bei, ein elementares soziales Vertrauen zu stärken. Zumindest in der Perspektive westlich geprägter Analytiker fördert die Orthodoxie ökonomischen Traditionalismus und quietistische Akzeptanz des Gegebenen“, so der Theologe Friedrich Wilhelm Graf in „Die Wiederkehr der Götter, 2004, s. 195. Im Gebrauch längst vergangener Sprachen für die “göttliche Liturgie” z.B. wird ohnehin kein Anspruch erhoben, Glauben und Vernunft zu versöhnen. Das Unverständliche gilt als “göttliches Mysterium”…
– In der katholischen Kirche ist aufseiten der Kirchenleitung die verbissene Lust an der römischen Identität seit Jahren bekannt und vielfach besprochen worden. Der Papst behauptet nach wie vor, nur der römische Katholizismus sei die wahre Kirche Jesu Christi, die anderen Kirchen „nur“ Gemeinschaften. Mit einer – trotzdem vom Papst beschworenen – Ökumene hat das eigentlich nichts mehr zu tun. Ökumene hat nun auf hoch offizieller Ebene den Charakter des diplomatisch Gebotenen und “Klugen”. Dadurch wird Ökumene eigentlich belanglos, manche sagen überflüssig, eine Art Zwangshandlung?
– Im weiten Feld der Evangelischen Kirchen müssen immer viele Nuancen bedacht werden. In den klassischen protestantischen Kirchen, den Lutheranern und Reformierten, aber auch im liberalen Flügel der Anglikaner, ist sicher viel Raum für einen echten Dialog lernbereiter Partner. Andererseits bemühen sich die Landeskirchen (etwa in Deutschland) darum, auf keinen Fall die Evangelikalen, die Ultra Konservativen, zu verlieren, sie sind gute Kirchensteuerzahler.
Die Pfingstkirchen bieten ein klares und eindeutiges „identisches“ Profil des Christlichen. Sie haben damit Erfolg, weil in einer Welt voller Unsicherheiten die krampfhafte Suche nach dem Ewigen und Festen verständlich ist, aber religionsphilosophisch problematisch bleibt.Kann ein fundamentalistisch wiederholtes Bekenntnis „Sicherheit“ bieten, gibt es Sicherheit ohne kritische Vernunft und kritisches Nachdenken?
Merkwürdig – und aus meiner persönlichen Sicht traurig – ist die Tatsache, dass die Kirchen, die alle Freiheit kritischen Denkens lassen und allen Raum bieten für die kreative Entwicklung der Theologie und Spiritualität, wie die freisinnigen Kirchen, etwa die Remonstranten, zahlenmäßig klein bleiben. Tom Mikkers, Allgemeiner Sekretär der Remonstranten in Utrecht, nennt seine Kirche eine „Asylkirche“, also einen Ort, der Raum bietet zum freien Atmen und kritischen Denken. Aber die Menschen suchen lieber ihre fixen Identitäten, als eine Kirche, in der man sich verändern kann und lernen kann. www.remonstranten-berlin.de wird nach wie vor über freisinnigen Glauben heute und damals berichten. Unsere These ist: Philosophierende Menschen haben in freisinnigen Kirchen einen Platz der Versöhnung von Glauben und Vernunft. Unsere Prognose heißt: Solangs es noch kritisches Nachdenken gibt, wird es auch freisinnige Kirchen geben.
Auch in dem Zusammenhang ist ein Dialog über den Zusammenhang von Religion und Vernunft dringend geboten. Der religionsphilosophische Salon www.religionsphilosophischer-salon.de will sich als “Basisinitiative” diesem Projekt weiterhin verpflichtet fühlen. Die Selbständigkeit des philosophischen Denkens steht dabei im Mittelpunkt.
In einem Interview sagte mir der evangelische Pfarrer Stefan Matthias (Berlin – Kreuzberg) zum Thema Identität und Lernbereitschaft:
“Ich bin kein Vertreter, der sagt: Wir brauchen eine feste Identität, dann wissen wir, wer wir sind. Sondern ich möchte lernen, wer ich bin, in der Begegnung mit der Welt, mit dem Leben im Augenblick, mit der Begegnung mit anderen Personen. Und ich möchte mir diese Flüssigkeit erhalten und ich denke diese Flüssigkeit macht unsere Identität aus. Und nicht das Jeweilige, woran uns wir uns mal gern für eine Weile festhalten, aber was uns letztlich dann einengt und blockiert”. Aus einem Beitrag zum Thema “Multireligiös gebunden”.