Erlebnis des Schöpferischen: Hinweise zu einer Philosophie der Geburt. Nicht nur angesichts des “Muttertages”
Von Christian Modehn am 10.5. 2014 und leicht überarbeitet am 10.5. 2019.
Zur Überarbeitung: Ich muss gestehen, ich habe diesen nun 5 Jahre alten Text von mir noch einmal gern gelesen. Und viele andere haben es getan. Weil dieser Hinweis die Banalität eines Kommerz-Festes überwindet zugunsten eines tieferen Denkens und Lebens/Liebens.
Ins Philosophieren kommt jeder Mensch immer. Auch angesichts von Feiertagen, die ein auf Kommerz und Konsum ausgerichtetes Ziel haben, wie dem „Muttertag“. Kann es also eine „Philosophie des Muttertages“ im Ernst geben? Naturgemäß heißt die Antwort “Ja. Denn kein Ereignis dieser Welt entzieht sich philosophierender Betrachtung. Und diese tief im Alltag verwurzelte philosophische Denkweise ist bekanntlich der legitime Ausgangspunkt, um dann in ein systematisches philosophisches Denken weitergeleitet zu werden. Philosophie ist für uns im „Religionsphilosophischen Salon Berlin“ kein „l´ art pour l´ art“ Spielchen, kein Jonglieren mit Begriffen.
Nun also der Muttertag: Da wird philosophisch daran erinnert, und wir sollten diese dem ersten Hinblick nach banal erscheinende Aussage wirklich bedenken, dass wir alle geboren wurden; dass wir alle eine Mutter (und einen Vater) haben, die uns freundlicherweise unter Schmerzen zur Welt brachte und – in den allermeisten Fällen – nicht sterben ließ, sondern irgendwie liebevoll behütete; dass wir alle aus einer sexuellen Begegnun, welcher Art auch immer, hervorgegangen sind; dass ohne Sex, auf welche Art auch immer, kein personales neues Leben ist (das sagen wir nebenbei jenen, die Sex peinlich oder gar schmutzig finden und am liebsten nur für die Zeugung gelten lassen, wie etwa der heilige Augustinus. Dass wir alle uns dann als Wesen, die aus dem Mutterleib befreit wurden, Geschöpfe nennen, also Geschaffene sind. Auch die Eltern wurden geschaffen, sie sind selbst Geschöpfe… Und wir alle sind in dieser Konkretheit unserer Existenz naturgemäß immer auch genetisch „zufällig“ geprägt, später von der Umwelt, von der Gesellschaft usw. Aber jeder und jede bringt doch auf seine/ihre Weise das individuelle Eigene und Einmalige mit. Ist das nicht erstaunlich? Warum vergessen wir so schnell solche Einsichten?
Der Mensch ist also in dieser Sicht ein Geschöpf, ein Wesen, das in die Welt gelangt, das dann für sich die Freiheit des Anfangs erlebt, dieses Herausforderung bzw. das Glück des Neuen erleben ja auch die Mütter und die Väter. Geborenwerden ist die Erfahrung: Etwas einmalig Neues, eine neue Person, betritt diese Welt: Eine einmalige Person.
Diese Philosophie der Geburt bzw. des Geborenwerden verändert das „Klima“ des philosophischen Nachdenkens: Sartre und andere sprachen vom Geworfensein. Das Baby soll also ein Geworfenes sein. Eigentlich furchtbar, man könnte dabei hart aufprallen nach dem „Wurf“ des (ja welchen?) Werfenden. Emile Cioran liebte wohl diesen Gedanken, als er in seiner Lust des Neinsagens vom „Nachteil geboren zu werden“ sprach. Auch Erich Fromm hat in seinem Text „Wege aus einer kranken Gesellschaft“ (1955) die Geburt als etwas Negatives angesehen. Und zwar, weil der Neugeborene und Unbeholfene und Gefährdete, also das winzige Baby, „einen sicheren Zustand, der relativ bekannt ist (im Mutterschoß) für einen anderen Zustand aufgibt, der neu ist und den man noch nicht beherrscht“ (Erich Fromm, Gesamtausgabe, Band IV, Seite 23).
Hannah Arendt hat (als Frau, also doch etwas anders denkend, anders fühlend?) sich gegen diese Negativ-Deutungen des Geborenwerdens zurecht argumentativ gewehrt, als sie ihre Philosophie der Natalität entwickelte.Und eine Sensibilität beschrieb, die in der Lage ist, das Wunderbare des Neuanfangs mit jedem neu geborenen Menschen zu bedenken.
Der Mensch ist also Schöpfung: Der geborene und geschaffene und eher zufällig SO entstandene Mensch kann nur staunen über die Konkretheit seines Wesens. Das Erstaunliche ist nicht in fernen Himmelswelten, das Erstaunliche sind wir selbst als Geschöpfe. Die von Heidegger und Sartre her lancierten Begriffe, die ja durchaus in einem ontischen Verständnis irritierend klingen, etwa das Geworfensein, werden so überwunden.
Wie könnte eine Philosophie des Daseins und damit das durch sie geprägte Lebensgefühl aussehen, wenn nicht in den Köpfen die Geworfenheit und das Sein zum Tode”, sondern das Erstaunen über die Neuschöpfung, d.h. die Geburt, im Mittelpunkt stehen würde? Bestimmte philosophische Grundwörter, “Slogans”, haben das Denken sehr vieler Menschen in eine begrenzte Sicht der Existenz geführt. Eine Philosophie der Geburtlichkeit, des “Geschaffenseins”, korrigiert das nahezu ständig zitierte Wort Heideggers vom „Vorlaufen in den Tod“ (Sein und Zeit). Vielleicht sollten wir eher auch „Zurücklaufen“ in das Wunderbare des Geborenseins/Daseins und von daher eine andere Fundamentalontologie bzw. Phänomenologie des Daseins entwickeln, die Rücksicht nimmt auf das Erstaunliche des Anfangs. Natürlich wäre es im Rahmen einer „alltäglichen Metaphysik“ oder auch „alltäglichen Phänomenologie“ möglich und wohl auch erlaubt, nach dem “Werfenden” zu fragen, also nach dem, der da wirft, wenn man schon von Geworfensein groß tönend redet.
Jedenfalls verändert sich der Blick auf den Menschen grundlegend, wenn auch das GeborenWERDEN als zentrale und grundlegende Dimension des DASEINS mitbedacht wird. Dann kommt die Dimension des Erstaunlichen hinein, vielleicht des Wunderbaren des Menschseins. Eine neue Anthropologie (oder Fundamentalontologie) könnte entstehen. Dann wird aber auch das viel besprochene und so oft wie selbstverständlich zitierte „Sein zum Tode“ (Heidegger) als Form der absoluten Endlichkeit in ein anderes Licht gerückt werden. Wird der Schöpfer jemals sein Geschöpf verlassen? wäre eine Frage, die ins Religionsphilosophische weist.
Das (von Heidegger und anderen so viel beschworene) „Ganze des Daseins“ ist dann eben nicht mehr so einfach überschaubar, weil wir unsere Herkunft als Geschaffene aus dem Göttlichen gar nicht exakt überschauen. Wir entstammen sozusagen einem “offenen Beginn”, weil wir eben nicht wissen, was Schöpfung eigentlich exakt und wissenschaftlich bedeutet. Die Naturwissenschaft wird darauf ohnehin keine Antwort geben, sie untersucht das bereits Vorhandene, Gegebene, nicht aber die Welt ALS Schöpfung. Die Grenzen werden also fließend, wenn wir nicht genau “wissen”, woher wir kommen. Dieses Verschwinden exakter Grenzen ist ein Gewinn. Das Geheimnis des Lebens lässt sich nicht definitiv, also umgrenzend, festschreiben und festlegen.
Und der Tod steht in neuem Licht da. Vielleicht als Rückkehr in die Herkunft des Schöpferischen? Aber wer oder was ist denn das Schöpferische aller schöpferischen Akte? Kann man bei dieser Frage, tastend-suchend, im Ernst auf eine Wirklichkeit verzichten, die in einer langen religiösen und philosophischen Tradition “das Göttliche” oder “Gott” genannt wurde?
Der immer wieder erlebte, eher arrogant wirkende Stolz vieler Philosophen, von Heidegger angestoßen, das ganze Daseins (“ganz” definiert durch den Tod) zu überschauen, kommt also etwas ins Weiter-Fragende “Schleudern”. Und das ist gut so. Philosophisch sollte man auch über gängige und wie Dogmen gehandelte philosophische Sätze hinausdenken und … weiter suchen.
Insofern gilt: Schön, dass es einen Muttertag gibt. Er gibt nämlich Neues zu denken …und zu leben, beleben. Dieser Feiertag lädt ein zum Philosophieren, verstanden als Form der Lebensorientierung. Ohne dabei die Dankbarkeit gegenüber der Mutter (und dem Vater) zu vergessen…und dann doch das Leben, unser Leben, zu feiern. Gemeinsam, wenn es denn noch möglich ist in dieser Unkultur des totalen Invidualismus.
Copyright: Christian Modehn. Religionsphilosophischer Salon Berlin.