Nichtrechthabenwollen. Viel Sinn und weniger Sinn

Hinweis auf ein neues Buch von Martin Seel

Von Christian Modehn

Martin Seel, Philosophieprofessor an der Frankfurter Uni, will versuchen, das Philosophieren etwas aus der Strenge des Rechthaben- Wollens zu befreien. Sehr löblich! Denn bekanntermaßen sind Philosophen oft die wahren „Streithähne“. So ganz kann der Befreier aber auch selbst nicht auf die Berechtigung des Rechthabenwollens und damit auch auf einen Wahrheitsanspruch verzichten (S. 24, auch S. 40). Seels Position will ja ernst genommen werden, also als berechtigt, wenn nicht als recht und wahr gelten können. Es geht also gar nicht darum, auf die für den einzelnen unabwerfbare Einbindung des eigenen Denkens ins Rechthaben-Wollen bzw. in die Wahrheit zu verzichten. Denn wer für sich selbst darauf verzichtet, in seinem nun einmal immer satzhaften Denken für sein eigenes (!) Leben recht zu haben und eben auf der Seite des Wahren zu leben, gibt sich selbst auf. Darauf weist Seel in seinem Buch auch selbst hin.

Aber er wagt es dennoch, Gedankenspiele vorzustellen: Und dies ist der für alles Verstehen dieses ersten Kapitels des Buches entscheidende Untertitel: „Gedankenspiele“. Es sind Spiele, es ist also durchaus etwas Unterhaltsames, was da geboten wird, förmlich eine Art philosophische Lockerungsübung, aber nicht nur für die „Freizeit“ im Denken: Denn das Sich Versteifen aufs Rechthaben ist ein Grundübel der offenen Kommunikation. Menschen mit „absolutem Wahrheitsbesitz“ werden zurecht gemieden. Aber, so Seel, „es geht mir nicht um die Kritik der Rechthaberei“ (S.22). Aber was dann? Es geht um die Akzeptanz der freien Erzählung in der Philosophie. Denn das Erzählen hält die Möglichkeit bereit, „ohne alles Rechthabenwollen auszukommen“ (S. 29).

Der Philosoph Martin Seel, der so viele interessante Essays geschrieben hat, in denen er selbstverständlich für sichere Erkenntnis, also fürs Rechthaben(wollen) eintritt, will nun nicht länger, so wörtlich, „an EIN Genre gebunden sein“. In dem Essay „Wie phänomenal ist die Welt ?“ (in „Paradoxien der Erfüllung“) schreibt er: „Kenntnis wird zur Erkenntnis, wo wir das, womit wir bekannt geworden sind, mit begrifflicher Bestimmtheit ansprechen können“ (S. 175), also mit unserer Erkenntnis dann doch recht haben dürfen! Sind die Zeiten dieser Erkenntnis vorbei?

Nun also ein Plädoyer fürs Erzählen, als dem Spielerischen. „Ich möchte ungehemmt schreiben können“, so in dem neuen Buch (S. 33).

Wer darf es ihm verbieten, „ungehemmt“ zu schreiben? Niemand. Nur: Die philosophische Reflexion, die ja doch auch in einem Gedankenspiel fürs Spielen übliche Gesetze hat, fragt dann: Was hat man davon, wenn man zum Beispiel „ungehemmt schreiben würde“: „Im Himmel ist Jahrmarkt“. Und was haben andere, LeserInnen, davon, wenn sie diese meine ungehemmte „Erkenntnis“ zur Kenntnis nehmen: „Im Himmel ist Jahrmarkt“. Bestenfalls Theologen mit der Spezialisierung in Eschatologie (d.i. die Lehre von den letzten Dingen im Jenseits) könnten sich für diese ungehemmte Erkenntnis erwärmen…

Martin Seel erwähnt dieses Beispiel nicht, wie er überhaupt kein Beispiel für seine Gedankenspiele bietet, leider. Denn dann wäre zumindest aufgefallen, dass man doch unterscheiden sollte zwischen meinem eigenen, nur auf mich selbst bezogenen Nichtrechthabenwollen. Und der Dimension, wenn ich meine Sätze, immer mit der Qualität des Nichtrechthabenwollens, den anderen, der Gesellschaft, mitteile. Was haben die anderen denn dann von diesen nichtrechthabenwollenden Sätzen? Sie können sie als Poesie subjektiver Art deuten oder als hübsche (Märchen)-Erzählung, aber das wars dann auch.

Leider finden die Gedankenspiele Martin Seels außerhalb jeder politischen Dimension statt. Wie nett wäre es doch, wenn Pegida-Anhänger sagen würden: „Mit meinen brutalen Beleidigungen demokratischer Politiker und Journalisten will ich nicht recht haben. Sie sind nur meine kleinen, lieblichen Gedankenspiele“. Wunderbar wäre dies. Nur, wenn dann die Demokraten und die Verteidiger der universalen Menschenrechte, etwa von „Amnesty International“ oder „Ärzte ohne Grenzen“, kommen und sagen: „Auch unsere universalen Menschenrechte sind nur ein Gedankenspiel. Wir haben gar nicht recht, wie sprechen keine universal gültige Wahrheit aus!“

Das wäre eine Katastrophe. Oder würden sich Pegida Fanatiker und Menscherechtler um den Hals fallen und sagen: „Wir alle sind so liebe Brüder, gerade weil wir alle nicht recht haben wollen“. Bloß: Wie ging es dann weiter in der Politik? Die starke Hand würde sich schon durchsetzen, denn immer gibt es Leute, die leider extrem politisch fanatisch recht haben wollen..

Ich denke, dieses erste Kapitel des Buches „Nichtrechthabenwollen“ ist, sorry, nette, aber nicht sehr ins Weite führende Unterhaltung, es ist ein kurzes Lese-Spiel, das man dann aber auch wieder beiseite legt. Dieses Spiel führt nicht wirklich weiter in neue Erkenntnisse, wenn man denn die (noch) sucht: Denn dass Philosophen erzählen müssten ist vielen doch klar. Hat nicht deswegen der Philosophieprofessor Peter Bieri seinen Job an der FU Berlin aufgegeben und dann begonnen, zum Teil sehr beachtliche Romane zu schreiben? Und dass andererseits in Erzählungen der „Literaten“ sehr viel mehr Philosophie enthalten ist, als in expliziter Philosophie, ist völlig klar. Philosophie findet nicht nur dort statt, wo an den Universitäten Philosophie drauf steht. Gott sei Dank ist das so.

Martin Seel hat das erste Kapitel nach Ziffern gegliedert, er erinnert damit entfernt an die bravouröse Bezifferung im „Tractatus Logico-Philosophicus“ von Ludwig Wittgenstein. Für Seel scheint mir die Ziffer 42 (S. 38) besonders wichtig zu sein (Seel bietet nur 67 Ziffern, die z.T.den Charakter von knappen Aphorismen haben). Wir sollen „auf Abstand zu unseren Ansichten und Absichten“ (Ziffer 43) gehen. Wenn das die Summe des ersten Kapitels ist? Wahrscheinlich! Diese Wahrheit musste doch mal von kompetenter Seite gesagt werden. Es kommt zudem, so Seel, darauf an, „alles in der Schwebe zu halten“. (Nr. 48). Die Problematik dieses Satzes, bezogen auf “die Welt” und die Politik, ist, wie vorher von mir gezeigt, sehr erheblich!  Ich persönlich halte den Satz für falsch. Man kann nur kurzfristog etwas in der Schwebe halten. In dieser verrückten Welt dürfen Demokraten eben nur sehr sehr wenig in der Schwebe lassen…

Ich bin bei dem Gedankenspiel des ersten Kapitels förmlich hängen geblieben, und schreibe also nichts zu den Kapiteln 2 und 3. Aber ich denke, dieser Stil, nur ein Kapitel zu „besprechen“, passt gut zum spielerischen Anspruch des Buches. Ich habe dann doch noch etwas weiter, ins 2. Kapitel, hinein geblättert und bin auf Seite 99 hängen geblieben: „Meine Religion ist das Schreiben“, betont Seel, „näher komme ich dem Numinosen nicht“. Vielleicht gibt es für Martin Seel doch noch mal Momente, wo er als Philosoph versucht, diesen Gedanken sehr ausführlich zu entfalten; und vielleicht dem Numinosen auch auf andere Art, dann durchaus etwas recht haben wollend, näher zu kommen. Ich würde mich darüber sehr freuen und warte förmlich schon auf sein längeres Essay zum Thema Religion, weil ich doch etwas recht haben will mit meiner unverschämten Frage: Kann ein so interessanter Philosoph im Ernst darauf verzichten, etwas Ausführliches zum Thema Numinoses, sagen wir unverschämterweise auch „Gott, Göttliches“ zu schreiben? Irgendwie hat er ja de facto schon seine religiöse „Startbasis“: das Scheiben…Ohne einen säkularen Ansatz für Numinoses kommt auch Martin Seel nicht aus… Mit dieser Aussage will ich natürlich nicht recht haben.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon.  Auf dieser website kann ein sehr interessantes Interview mit Martin Seel nachgelesen werden über sein 2012 erschienenes wichtiges Buch “Tugenden und Laster”.

Martin Seel, Nichtrechthabenwollen. Gedankenspiele. S. Fischer Verlag, 158 Seiten. 2018, 18€.

Tugenden und Laster: Eine philosophische Revue

Müßiggang ist aller Liebe Anfang

Wenn Tugenden zu Lastern werden – und umgekehrt.   Christian Modehn im Gespräch mit dem Philosophen Martin Seel

Hinweis am 2.1.2019: Über das neue (2018) Buch von Martin Seel “Nichtrechthabenwollen” klicken Sie hier.

Wollen Sie an einer philosophischen Revue teilnehmen? Dabei können Sie ganz schön erschüttert werden. Denn im Laufe der Revue werden Tugenden zu Lastern und umgekehrt. Der Philosoph Martin Seel (Universität Frankfurt am Main) zeigt überzeugend, wie fließend die Übergänge sind zwischen gutem und bösem Verhalten. »111 Tugenden – 111 Laster« heißt sein neuestes Buch. Es stellt keineswegs 111 Tugenden den 111 Lastern gegenüber. Vielmehr sind die 111 menschlichen Charakterbilder in sich doppeldeutig: Eine Tugend kann zum Laster werden und ein Laster zur Tugend.

Herr Seel, verwischen Sie in Ihrem Buch nicht das klare Bild, das bisher ein tugendhaftes beziehungsweise ein verabscheuungswürdiges, ein lasterhaftes Leben auszeichnete?

Martin Seel: Auch nach der Lektüre meines Buches bleibt es dabei, dass Tugenden ein gutes und gerechtes Leben fördern und Laster ein solches Leben behindern und im Extremfall zerstören. Jedoch führt das Buch vor, dass in den meisten der menschlichen Charaktereigenschaften, die wir auf den ersten Blick als Laster verbuchen, durchaus auch Energien der Tugend stecken und entsprechend, dass in den menschlichen Tugenden häufig auch Kräfte des Lasters wirksam sind. Das heißt: Tugenden sind heikle Balancen, die oft nur mit Mühe gehalten werden können – aber die Mühe ist es wert.

Zum Beispiel: Warum kann das hoch gelobte Mitgefühl auch lasterhaft, also schädlich sein, für den Mitfühlenden wie für die Betroffenen?

Martin Seel: Wir alle kennen das Phänomen des falschen Mitleids. Aber auch dort, wo wir nicht nur ein geheucheltes, sondern ein echtes Mitgefühl für die Lage anderer Personen aufbringen, kann es vorkommen, dass wir die anderen durch unsere Empathie erdrücken: Wir glauben, besser als diese selbst zu wissen, wie es ihnen ergeht, und maßen uns an, deren Leben in unsere Hand zu nehmen. Zugleich kann übersteigertes Mitgefühl auch denen schaden, die es zeigen. Dies geschieht, wenn sie vor lauter Anteilnahme das Gespür für ihr eigenes Wohlergehen verlieren, was ihnen früher oder später die Kraft und die Fähigkeit zu aufrichtiger Anteilnahme raubt.

Oder denken wir an die Tugend der Frömmigkeit. Warum kann sie ins Lasterhafte »umkippen«?

Martin Seel: Wie immer man Frömmigkeit im Einzelnen versteht, ob als eine religiöse Haltung oder auch nur eine Haltung der »Weltfrömmigkeit« (die von jener gar nicht immer so leicht zu unterscheiden ist) – ihre Formen kippen ins Lasterhafte um, wenn der Glaube der Frommen zu einem starren, dogmatischen und darum intoleranten Glauben wird, der keinen anderen neben sich duldet. Insofern ist aller Fanatismus fehlgeleitete Frömmigkeit.

Nehmen wir eine relativ milde Form des Lasters, etwa die Faulheit. Kann denn aus Faulheit eine tugendhafte Haltung werden?

Martin Seel: Aber sicher. Das ethische Lob der Faulheit ist ja durch die Jahrhunderte hinweg immer wieder gesungen worden. Nicht weil Faulheit in jeder Hinsicht wohltuend und sozialverträglich wäre, aber doch, weil in ihr manchmal ein Geist des Widerstands gegen falsche eigene Erwartungen und maßlose gesellschaftliche Zumutungen steckt, der durchaus heilsam sein kann. In der richtigen Dosis erweist sich Faulheit als eine Form des Müßiggangs. Und entgegen anderslautenden Gerüchten ist Müßiggang nicht aller Laster, sondern aller Liebe Anfang.

Könnte man es ethisch rechtfertigen: Wer nie untreu war, weiß nicht, was Treue ist? Also sollte man sich eine gewisse »Dosis« Untreue gönnen?

Martin Seel: Ich würde vorsichtiger sagen: Wer den Zweifel an der Treue nicht kennt, kennt den Sinn der Treue nicht. Der Zweifel, auf den es hier ankommt, betrifft die Frage, ob die Person oder Sache, der ich treu bin, es wirklich wert ist, dass ich es bin. Sich dies fragen zu können ist selbst ein Zeichen der Fähigkeit zur Treue.

Ein hundertprozentig heiliger Mensch ist also philosophisch gesehen nichts als ein frommer Wunsch?

Wenn wir mit der Figur des Heiligen, wie es in der Moralphilosophie und Moraltheologie immer wieder geschehen ist, das Ideal einer Person verbinden, die sich vollkommen sicher auf der Seite des Guten bewegt, weil diese den Widerstreit zwischen Pflicht und Neigung, zwischen Selbstsorge und Sorge für andere, zwischen den Forderungen des Tages und denen über den Tag hinaus (usw.) überhaupt nicht kennt, dann handelt es sich nicht einmal um einen frommen Wunsch, sondern einfach um eine unsinnige Vorstellung. Denn moralisch zu sein heißt gerade, den Widerstreit zwischen unterschiedlichen Anforderungen und Erwartungen ohne Bedauern anzunehmen – ohne den Irrglauben, man könne ein für alle Mal auf der richtigen Seite sein. Die wirklichen Menschen übrigens, die in religiösen Traditionen als »Heilige« verehrt werden, haben sich diesen Irrglauben kaum zuschulden kommen lassen.

Der Revolutionär Robespierre etwa wollte »nur tugendhaft« sein. Ist er gerade deswegen zum Massenmörder geworden?

Martin Seel: Unter anderem deswegen würde ich sagen. Moralischer Rigorismus ist gerade politisch gefährlich. Er verletzt das menschliche Maß eben dadurch, dass er sich einbildet, im Besitz der einzig wahren Deutung dieses Maßes zu sein. Auch hier gilt: Die reine Illusion ist immer eine Illusion der Reinheit.

Gibt es denn für Sie ein Laster, das niemals die Möglichkeit hat, sich positiv zur Tugend zu entwickeln?

Martin Seel: Ja, zumindest ein Laster bildet in meinem Buch eine Ausnahme von der Ambivalenz-Regel: die Grausamkeit. Grausam sind Personen oder Institutionen, die bereit sind oder es in Kauf nehmen, die leibliche und seelische Integrität von Personen ohne Rücksicht auf ihr Wohlergehen zu verletzen. In dieser Einstellung steckt nicht der geringste Keim einer Orientierung am Guten.

Es kommt in Ihrer Tugend-Philosophie darauf an, die Übergänge wahrzunehmen, wenn zum Beispiel aus der authentischen Freundlichkeit das Bloß-freundlich-Tun wird?

Martin Seel: Überall in der menschlichen Lebensführung kommt es auf die feinen Unterschiede an – so auch hier. Wobei nicht einmal das bloße Freundlich-Tun ganz zu verachten ist, etwa, wenn wir an die »professionelle« Freundlichkeit von Schalterbeamten oder Kassiererinnen denken.

Sie wenden sich gegen die definitive Abgeschlossenheit einer bestimmten Lebenshaltung. Könnte man sagen: Sie wollen das Leben flüssiger machen? »So bin ich und so bleib ich auf ewig«: Dieser Spruch hat dann wenig Sinn?

Martin Seel: »Das Leben« flüssiger machen zu wollen wäre wohl allzu vermessen. Außerdem erscheint es den meisten von uns ohnehin als einerseits zu flüssig (und flüchtig) und andererseits zu festgelegt (und beengend). Der Prozess der Lebensführung aber kann so gestaltet werden, dass in ihm eine Offenheit für die Ungewissheiten und Instabilitäten des Lebensvollzugs zum Ausdruck kommt. Nur dank dieser Offenheit ist so etwas wie ein über einzelne glückliche Augenblicke hinaus gelingendes Leben möglich.

Sie nennen Ihr Buch »eine philosophische Revue«: Das heißt, die Leserinnen und Leser können mit der Lektüre irgendwo beginnen, zum Beispiel bei der »Coolness«. Dann werden sie lesen, dass Coolness durchaus eine Mischung aus Gleichmut, Lässigkeit und Gewitztheit ist. Aber dann schreiben Sie auch: Coolness, »diese wohltemperierte Leidenschaft, lässt sich auf Dauer im wirklichen Leben nicht durchhalten«. Hoffen Sie darauf, dass durch Erkenntnis eine neue Einstellung zur Coolness, vielleicht zum Leben insgesamt, gelingt?

Martin Seel: Das Argument an der Stelle, auf die Sie sich beziehen, besagt, dass ein Leben lang durchgehaltene Coolness zur bloßen Fassade verkommen müsste: »Nur brüchige Coolnes ist cool«, lautet deshalb in dieser Sache das paradoxe Fazit. Wer das akzeptiert, verleiht seiner Lebenseinstellung einen bestimmten Akzent. Die Sache der Tugenden und Laster ist aber zu komplex, als dass man im Nachdenken über eine von ihnen sogleich die ganze Einstellung zum Leben neu konfigurieren könnte. Dies aber kann man ohnehin durch Nachdenken allein gar nicht bewerkstelligen. Erfahrung und Übung, und mit ihnen Enttäuschung und Überraschung, sind die unumgänglichen Begleiter einer wirksamen ethischen Reflexion.

Meinen Sie also, dass philosophische Besinnung und Kritik einen therapeutischen Charakter haben kann

Martin Seel: Ja, durchaus: vor allem deshalb, weil es sich um Selbsttherapie handelt, die ihre Basis in einsamer oder gemeinsamer Selbstverständigung hat.

Sind denn Tugenden aus Ihrer Sicht lernbar? Und wenn ja, wer sollte Tugenden lehren?

Martin Seel: Hier möchte ich paradox sagen: Sie sind lernbar, aber nicht lehrbar. Dies folgt aus dem, was ich eben gesagt habe: Die Ausbildung von Tugenden und auch Laster ist wesentlich eine Sache der individuellen Selbstformung, die im günstigen Fall von beständigen Lernprozessen begleitet wird. Das bedeutet freilich weder, dass man den eigenen Charakter insgesamt in Regie nehmen könnte, noch, dass man nicht auf die Hilfe und das Beispiel anderer angewiesen wäre. Dennoch bleibt der Gedanke eines Tugendlehrers ein hölzernes Eisen. Die Fähigkeit, im eigenen Handeln diverse Tugenden zu beweisen, hat nicht die Verfassung eines Expertenwissens, das in feinen Dosen an die Laien weitergegeben werden könnte. Denn es gibt hier weder Laien noch Experten. Wohl aber gibt es Menschen, die anderen durch Erziehung, Anleitung, Imagination und Animation auf die Sprünge helfen können, indem sie veranschaulichen oder vormachen, wie es trotz allem möglich ist, sich selbst und den anderen einigermaßen gerecht zu werden.

Sollten heute Philosophen bestimmte Tugenden in den Mittelpunkt stellen, wenn nicht fördern? Etwa Gerechtigkeit, Engagement, Solidarität?

Martin Seel: Dies sind wichtige und unbedingt zu stärkende soziale Tugenden, über denen aber auch die stärker individualethischen Tugenden nicht vergessen werden sollten, wie beispielsweise Humor, Selbstachtung und Selbstvertrauen. Denn ohne diese werden jene nicht umsichtig wirksam werden können. Außerdem ist zu beachten, dass gerade die primär sozialen Tugenden in einer Gesellschaft wie der unseren nicht allein individuelle, sondern zugleich institutionelle Werte bezeichnen: Ohne gerechte Institutionen beispielsweise bleibt das individuelle Bemühen um Gerechtigkeit immer auch ohnmächtig. Daher hat die Förderung von Tugenden von vornherein eine politische Dimension.

Wie können Philosophen die verschiedenen Formen der Gier, etwa in der Finanzwelt, analysieren und kritisieren?

Martin Seel: Gerade an diesem Beispiel zeigt sich die eben erwähnte politische Dimension der Rede von Tugenden und Lastern. Das Problem der Finanzmärkte und ihrer Regulierung liegt ja nicht in erster Linie an der persönlichen Gier der Akteure, die auf dem Parkett der Börsen zugange sind. Es liegt vor allem an den systembedingten Imperativen, denen die Finanzindustrie gehorcht, und ihrer Indifferenz gegenüber den Entwicklungen der Realwirtschaft. Hier gegenzusteuern – und damit auch die Spielräume individueller Gier zu verringern – ist eine eminent politische Aufgabe, die zudem nur im internationalen Maßstab angegangen werden kann.

Warum brauchen wir eine neue Tugendlehre? Reicht im Alltag nicht der kategorische Imperativ Immanuel Kants als Orientierung völlig aus, der mich mahnt, immer zu prüfen, ob meine Lebensmaxime allgemeines Gesetz für alle werden kann?

Martin Seel: Der kategorische Imperativ oder andere Formen eines Instrumentalisierungsverbots im Verhalten der Menschen untereinander reichen allein deshalb nicht aus, weil sie angesichts konkreter Situationen viel zu wenig aussagen können. Und weil sie nicht in der Lage sind, der Möglichkeit von normativen Konflikten gerecht zu werden. Eine moderne Tugendlehre erinnert demgegenüber an die praktische Auslegung allgemeiner moralischer und rechtlicher Grundsätze, wie sie in der Gestalt einer Pluralität von Tugenden und Lastern in unserem alltäglichen Leben wirksam ist – und dort auch immer wieder verhandelt wird. Denn das ist der Sinn der Tugenden: Denen, die sich um ihren Besitz bemühen, eine Deutung ihres Lebens zu geben, die es ihnen erlaubt, ihr Dasein in Selbstachtung und in mit anderen geteilter Selbstbestimmung zu vollbringen.

Buchhinweis: Martin Seel. 111 Tugenden, 111 Laster. Eine philosophische Revue.

S. Fischer. Frankfurt am Main. 288 Seiten. 18,95 €

Dieser Beitrag erschien zuerst im April 2012 in der empfehlenswerten Zeitschrift Publik Forum. Man kann  Probeexemplare  bestellen.

Coypright: christian modehn und publlik – forum.

 

 

 

111 Tugenden und Laster. Eine philosophische Revue

Ein philosophisches Buch zum Weiter – Denken. Ein Begleiter für das ganze Jahr:

Martin Seel, „111 Tugenden und 111 Laster“.
Eine philosophische Revue.

Aus der großen Fülle philosophischer Einführungen ragt jetzt ein Buch ganz wunderbar hervor: Der in Frankfurt/M. lehrende Philosoph Martin Seel, einigen schon bekannt, etwa durch seine Studien „Paradoxien der Erfüllung“, hat nun ein neues Buch vorgelegt, das alle interessieren, ja begeistern kann (im Sinne von inspirieren), die auf dem Weg des kritischen Reflektierens sind. Und das sollten und könnten ja alle Menschen sein….
Dass Martin Seel sein Buch durchaus auch unterhaltsam meint, zeigt schon der Untertitel an: „Eine philosophische Revue“. Tatsächlich präsentiert er in seiner Revue in 111 kürzeren oder längeren „Auftritten“ (Kapiteln) 111 Tugenden, also für den Menschen positive Lebenseinstellungen bzw. „Dispositionen“ (wie Mitgefühl, Besonnenheit) und dazwischen gemischt, aber doch inhaltlich verbunden, Laster bzw. Untugenden (wie Aberglaube, Fanatismus).
Der Clou dieser positiv wie negativ besetzten Revue ist, dass alle Werte und alle Tugenden auch – ohne die vernünftige Mitte gelebt – in Untugenden umkippen können, aus Mut kann schnell „Übermut, Tollkühnheit, Draufgängertum werden“, (S. 179). Ebenso haben Untugenden und Laster auch positive Aspekte. Mit einer Ausnahme meint Martin Seel: Im Laster der Grausamkeit gibt es keinerlei noch positiv zu verstehenden Entwicklungslinien. Auf die Ambivalenz aller anderen Tugenden und Laster hingewiesen zu werden, bringt den Leser, die Leserin, sehr zu recht ins Schleudern und dann ins weitere Nachdenken, das zu einem Neu – Verständnis führen kann. So ist etwa die Faulheit (Seite 69ff) sicher eine milde Form des Lasters: „Faulheit kann aber ein Mangel an Selbstsorge sein“, andererseits kann sie auch den „ausgelassenen Genuss des Daseins“ signalisieren. Faulheit kann ein Mittel sein, sich vom destruktiven Zwang der Selbststeigerung zu befreien, wie es schon Theodor W. Adorno (S. 71) andeutete. Faulheit als Müßiggang verstanden kann sogar „aller Liebe Anfang“ sein, schreibt Martin Seel (ebd).
Wer an der Revue teilgenommen hat oder immer wieder beinahe beliebig wieder einsteigt, kann dann auf gut 40 Seiten sozusagen die innere Struktur der einzelnen Auftritte erkunden, also in das innere Leben der Tugenden hineinschauen, so, wie es Philosophen in der langen Geschichte gedeutet haben. Diese Seiten, etwas anspruchsvoller, handeln etwa von den Kardinaltugenden, das sind ja nicht jene, die etwa katholische Kardinäle haben (sollten), sondern die von lateinischen Worte CARDO herstammen und die alles entscheidenden Angelpunkte meinen, also in dem Falle unentbehrliche Tugenden, ohne die ein menschliches Leben kein menschliches Leben ist (Weisheit, Besonnenheit, Mut und Gerechtigkeit). Außerdem zeigt Martin Seel sehr schön, dass kein Mensch alle Tugenden in seiner Person vereint leben kann, ja, dass kein Mensch also „nur“ tugendhaft sein kann. Immer gibt es im Einzelleben diese Melange aus Tugend und Laster, natürlich auch bei den so genannten Heiligen der Kirche, wobei den Frommen stets von offizieller Seite vorenthalten wird, wo denn die Laster dieses Heiligen waren. Erst Journalisten kümmern sich darum und weisen etwa auf die Scharlatanerie des heiligen Pater Pio (Süditalien) hin, aber dies nur als Beispiel des Rezensenten.
Insgesamt empfehlen wir nachdrücklich das neue Buch von Martin Seel, es kann hoffentlich einen Durchbruch bewirken im Verstehen, dass Philosophie populär ist und dass dieses Thema nicht von einem ständig in allen Medien herum gereichten Star reserviert sein kann.
Hoffentlich kann man bald die 10. usw. Auflage dieses Buches melden und eine Herausgabe als sehr preiswertes Taschenbuch!
Copyright: christian modehn, religionsphilosophischer Salon.
Martin Seel, „111 Tugenden und 111 Laster“.
Eine philosophische Revue. S. fischer verlag 2011, 285 Seiten.18,95 Euro

WDR 5 brachte am 13.1.2012 ein Gespräch mit Martin Seel: