Über das Buch des „liberalen Theologen“ Martin Werner
Ein Hinweis von Christian Modehn
An einen Theologen soll erinnert werden, der die „liberale Theologie“ förderte und als Professor für systematische Theologie
in Bern lehrte; der mit dem „dialektischen Theologen“ dort, Karl Barth, erwartungsgemäß seinen Streit hatte; der mit Albert Schweitzer befreundet war; und der ein weites, auch gesellschaftspolitisches Engagement übte; zahlreiche Studien hat er veröffentlichtet: Aber heute ist er ziemlich in Vergessenheit gerate: Martin Werner ist sein Name. Er lebte von 1887 bis 1964. Karl Barth starb vier Jahre später: Wenn Barth noch vielen heute als ein „Zeitgenosse“ gilt, dann sollte diese Qualität auch Martin Werner zugesprochen werden.
Es ist das große Verdienst von Jochen Streiter, Pfarrer emeritus in Wuppertal, dass er eine leicht lesbare, eher knappe Studie Martin Werners über den Apostel Paulus zugänglich macht. Erschienen ist das Buch unter dem Titel „Wer war der Apostel Paulus?“ im Verlag Traugott Bautz in Nordhausen.
Warum ist die Gestalt, vor allem die Lehre und die theologische Erkenntnis des Apostels Paulus für alle religiös und weltanschaulich Interessierten, also nicht nur „Kirchgänger“, von besonderem Interesse? Weil Paulus in der Pluralität frühchristlicher Autoren (im vielfältigen Buch „Neues Testament“ versammelt) eine besondere Rolle spielt: Der früheste Text des Neuen Testaments stammt von dem aus dem Judentum konvertierten Paulus, es ist der 1. Thessalonicher-Brief aus dem Jahre 51. Paulus wird darüber hinaus sehr zu recht als der eigentliche Initiator der christlichen Kirche angesehen, der Kirche als einer pluralen Gemeinschaft, die aber im Bekenntnis zu Jesus als dem Christus eine immer umstrittene Einheit fand und sich deswegen vom Judentum trennte (und dieses vom Christentum). „Ohne Paulus keine Kirche“: Diese populäre Aussage ist sicher treffend!
Von den sieben Kapiteln der Studie sind meines Erachtens die letzten beiden Kapitel besonders lesenswert: In „Zur Eigenart des Christusglaubens des Paulus“ (S. 65 ff) fällt auf: Martin Werner will die Aussagen über Paulus (auch seine Reden) in de, neutestamentlichen Text „Apostelgeschichte“ in den Hintergrund stellen. Dabei nimmt Werner zum Dialog des Paulus auf dem Areopag etwas ausführlicher Stellung und weist dabei auf einen Übersetzungsfehler hin: Denn Paulus spricht dort von DEM unbekannten Gott, tatsächlich aber hätte es dort eine Statue gegeben für DIE unbekannten Göttern, was ja nahe liegender ist in der damaligen Kultur. Ich finde die Relativierung der Areopag-Rede des Paulus durch den Autor schade, weil darin so wunderbar und philosophisch so treffend (von Hegel und Meister Eckart heftig unterstützt) davon die Rede ist: dass Menschen „göttlichen Geschlechts“ sind, d.h. schlicht gesagt und gar nicht größenwahnsinnig: In einer Einheit mit Gott/dem Göttlichen verbunden sind. Aber dieser Gedanke (von dem griechischen Dichter der Stoa ARATOS (S. 66) angestoßen, gefällt dann dem „liberalen Theologen“ doch nicht so ganz…Werner spricht hingegen von dem „wirklichen Paulus“, der ja philosophisch sehr gebildet war, aber dann als Christ alle Weltweisheit (Philosophie) verachtete. Aber den Glauben dann doch als Weisheit definierte, als DIE Weisheit zwar. Später werden Kirchenväter“ treffend sagen: Das Christentum ist eine unter vielen philosophischen Schulen…Nebenbei: Die „Apostelgeschichte“ spricht ausdrücklich davon, dass Paulus, nachdem er aus der Synagoge in Ephesus rausgeschmissen wurde, Zuflucht fand im Hause des dortigen Philosophen Tyrannus, der ihm seine Vorträge seiner speziellen Weisheit gestatte. Philosophen waren großzügig gegenüber Christen…
Man sieht, wie unterschiedlich die früheste Kirche mit dem Christentum als einer (von vielen) Weltweisheit(en) umging…
Aber entscheidend ist die Erkenntnis des Apostels Paulus: Mit dem Tod und der Auferstehung Christi hat eine neue Zeit, eine neue Epoche,, begonnen: Damit meint Paulus auch, so Martin Werner, die Gültigkeit der Gesetzgebung Israels sei auch „beendet“ (S: 69). „Das mosaische Recht wird einfach gegenstandslos…“ (S. 71). Diese neue, ganz andere Zeit ist von außen betrachtet noch unsichtbar; für den vom Geist erfüllten Menschen jedoch eine spürbare Realität. Denn in der neuen Welt gibt es weder „Juden noch Griechen“. Paulus betont die prinzipielle Einheit der Menschheit, auch die gleiche Würde aller Menschen. Weil Paulus aber persönlich so sehr von der alsbaldigen Wiederkunft Christi überzeugt war, glaubte er nicht so recht an die Notwendigkeit einer praktischen Umsetzung dieser „Gleichheits-Erkenntnis“ im politischen und sozialen Bereich. Paulus deutete die gegenwärtige Lebenszeit als „Aufenthalt in einem Provisorium“ (S. 75), also als Zwischenstation zwischen der alten Welt und der kommenden. „Provisorium“ deutet Werner „wie ein auf Abbruch verkauftes Haus“ (S. 76). Leider fehlt der Hinweis, dass sich die Kirchen seit dem 4. Jahrhundert von dem Selbstverständnis verabschiedet haben, selbst nur Provisorium zu sein…Man schaue sich die hiesigen Kirchenverwaltungen an, da ist von Provisorium nichts aber auch gar nichts zu spüren. Lediglich der Gründer von Taizé, Roger Schutz, sprach von der Kirche und seinem Kloster als „Provisorium“, als „Zelt“. Aber das ist ein anderes Thema: Die Entfernung der Kirche(nbürokratie) vom Ursprung…
Mit Gewinn (weil Erkenntnisse wie auch Fragen lebendig werden) wird man auch das letzte Kapitel lesen „Die Bedeutung des paulinischen Christusglaubens für uns“(S. 78 ff). Am Beispiel des Umgangs mit der Sklaverei zeigt Werner, dass Paulus auch in das populäre Denken seiner Zeit eingebunden war und deswegen nicht explizit forderte, die Sklaverei als solche abzuschaffen. Vor allem aber war er wegen seiner Überzeugung von der alsbaldigen Wiederkunft des Auferstandenen Christus gar nicht so motiviert, etwa die Abschaffung der Sklaverei zu fordern. Heute müssen Christen damit umgehen, dass Paulus ein ganz anderes Zeitverständnis im Sinne des bevorstehenden Welten-Endes hatte. Wenn auch heute der Gedanke lebt, dass Menschen durch ihr Tun bzw. Unterlassen (Ökologie, Kriegsverhinderung, Atombomben etc.) das Ende dieser Welt bewirken können.
Ganz entscheidend – auch philosophisch interessant – ist der paulinische Gottesbegriff: „Gott ist Geist“, sagt Paulus deutlich mehrfach. Und wo dieser göttliche Geist IM Menschen lebt, ist auch der Geist der Freiheit lebendig: Denn der Geist weiß sich selbst und will in dem anderen, der Natur, der Gesellschaft, den Menschen, ebenfalls den Geist spüren, als auch dort „bei sich“ sein, also frei, nicht abhängig und fremdbestimmt sein. Und das ist elementar Freiheit. Denn Gott ist, wie Werner sagt, „göttliche Schöpfermacht als Geist“ (S. 89). Es ist also in der Schöpfung der Welt Geist, Gottes Geist, immer schon anwesend. Der Mensch befindet sich also mit seinem Geist nicht in einer fremden, sondern in einer geistvollen Welt.
Ich finde es gut und treffend, dass klassische „orthodoxe“ und kirchenamtlich beinahe übliche „Topoi“ wie das Sühneopfer Christi oder Rechtfertigung des Sünders durch Christi Blut usw. von Martin Werner gar nicht erwähnt werden. Bei ihm herrscht ein anderes Denken, das sich mit den genannten mythologischen Bildern besser gar nicht erst befasst. „Liberale Theologie“ zeichnet sich dadurch aus, dass sie noch so häufig zitierte Topoi der sich orthodox nennenden Kirche und ihrer Theologie eben auch guten Gewissens beiseite lässt! Das ist eine Befreiung.
Der Herausgeber des Buches, Jochen Streiter, hat im Anhang eine biographische Skizze zu Martin Werner geschrieben, er zeichnet dessen theologischen Schwerpunkt nach und bietet eine Liste der zahlreichen anderen Veröffentlichungen.
Dies ist ein lesenswertes, auch für den Dialog in Gruppen, geeignetes Buch!
Martin Werner, „Wer war der Apostel Paulus?“, Verlag Traugott Bautz, 2018, 102 Seiten, broschiert, 10 EURO.
Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin