Jürgen Habermas wird 90. Sein Thema: Welche Religionen können heute noch hilfreich sein für die säkulare Gesellschaft und den Staat?

Hinweise zu Habermas Vorschlägen zu Religion und Philosophie
Von Christian Modehn

Mein Hinweis zum 85. Geburtstag von Jürgen Habermas, publiziert am 15. Juni 2014, ist nach wie vor als eine Art Einführung interessant.

Dennoch: Zum 90. Geburtstag des Soziologen und Philosophen noch einmal einige weiter führende Hinweise und Fragen. Es werden die Grenzen der auf Religion bezogenen Äußerungen herausgestellt.

Seit der „Spätphase“ seines Denkens, also ab 2001, setzt sich Jürgen Habermas mit der Bedeutung der Religionen für das säkulare Bewusstsein, die säkulare Gesellschaft und den bleibend säkularen Staat auseinander. Er nennt die heutige westliche Gesellschaft „postsäkular“. So, als wäre die Definition mit dem bislang üblichen Prädikat „säkular“ nicht mehr gültig angesichts der unerwarteten Präsenz der Religionen in den Staaten und Gesellschaften. Ob damit auch eine neue Praxis des Glaubens/der Glaubenden geschieht, ist eine andere, von Habermas nicht beantwortete Frage.

Habermas empfindet es als ungewiss, dass angesichts der globalen Herausforderungen der Gegenwart „die Ressourcen einer unverlierbaren (!), aber nur schwach motivierenden Vernunftmoral … ausreichen“ ( „Politik und Religion“, hg. Friedrich Wilhelm Graf und Heinrich Meier, München 2013, s. 299). Er spricht sogar davon, dass „in der (modernen Aufklärungs-) Philosophie selbst ein Defätismus der Vernunft brütet“ (S. 300). Ist die säkulare Vernunft vielleicht stark angekränkelt? Das sagen ja auch andere, gar nicht so progressiv Gesinnte.
Es ist also für Habermas die Schwäche der Vernunft und damit der Demokratie, die nach einem Dialog mit den Religionen förmlich ruft. Habermas befürchtet ohne die vernünftige Anwesenheit der Religionen ein „Entgleisen der Gesellschaften“. Ein Grund dafür: Die neuzeitlichen Rationalisierungsprozesse sind gar nicht so rational und menschenfreundlich, wie man ursprünglich hoffte.

So kommen in seiner Sicht den Religionen heute konstruktive Beiträge zum Überleben der Demokratien zu, indem sie die Philosophie und den säkularen Staat an religiöse Ressourcen erinnern, die weder die neuzeitliche Philosophie noch der säkulare Staat zur Verfügung haben. Gemeint sind religiöse Lehren, Mythen, Weisheiten.
Aber diese können selbstverständlich nicht unmittelbar geltend gemacht werden als Gestaltungsprinzipien innerhalb der säkularen Staaten. Habermas sagt klipp und klar: “Der liberale Staat ist mit religiösem Fundamentalismus unvereinbar“ (ebd., S. 291) Vielmehr müssen die religiösen Inhalte, so Habermas, in säkulare Sprache übersetzt werden. An welche religiös relevanten Inhalte er dabei denkt, wird von ihm meines Wissens nicht erörtert. Es wird also nicht gesagt, welche bestimmten religiösen Weisheiten auch universal gültige Wahrheiten sein können oder gar sind oder welche der liberale Staat etwa tolerieren sollte
Habermas denkt sozusagen nur an eine offene Einladung zum Dialog. Bei dem aber eigentlich die religiösen Menschen in ihren Glaubenshaltungen auch lernen sollten: Auch da werden meines Erachtens keine Beispiel genannt. Er spricht lediglich davon, dass religiöse Bürger sich an die universal geltenden, also säkularen Gesetze der Demokratie zu halten haben. Man denke aber etwa an die Debatte um Beschneidung von Knaben im Judentum und Islam: Diese Beschneidung wird von etlichen demokratischen Menschen als unerlaubter Übergriff wegen der Geltung der Menschenrechte und der Selbstbestimmung eines jeden abgewiesen. Die Gerichte in Deutschland haben aber dann letztlich zugunsten der Religionen (Judentum, Islam) entschieden. Wer diese Entscheidung falsch fand, wurde schnell als laizistisch oder atheistisch abgefertigt, was so pauschal nicht stimmt.

Zusammenfassend: Habermas mutet dem religiösen Bürger zu, seine religiösen Lehren, wenn sie denn politisch relevant sein sollen, in säkulare Sprache zu „übersetzen“.
Und: Er mutet den säkularen, religionsdistanzierten Bürgern zu, „in der artikulierten Sprache religiöser Stellungnahmen und Äußerungen gegebenenfalls Resonanzen eigener verdrängter Intuitionen wieder zu erkennen, darin also potentielle Wahrheitsgehalte zu entdecken, die in eine öffentliche, religiös ungebundene Argumentation eingebracht werden können“ (ebd. S 293).

Zum Islam in seiner ganzen Vielfalt, die von eher kleinen, demokratisch orientierten reformbereiten Gemeinden reicht bis zu Fundamentalismen äußert sich Habermas nicht; genauso wenig äußert er sich konkret zu den vielen extrem konservativen katholischen Gruppen (Opus Dei, Legionäre Christi, Neokatechumenale) bzw. den starken evangelikalen/pfingstlerischen evangelischen Glaubensgemeinschaften, von den reaktionären orthodoxen Kirchen ist keine Rede. Insofern sind die Vorschläge von Habermas abstrakt, allgemein und nicht mehr auf der Höhe der aktuellen Debatten von 2019. Die zerstörerische politische Kraft etwa evangelikaler Gruppen sieht man heute in Brasilien oder in Nigeria: Dort herrschen entsprechend fundamentalistische Politiker, wie Bolsonaro in Brasilien. Welche Bedeutung könnte dort die Religions“theorie“ von Habermas haben? Man hat eher den Eindruck, global gesehen, dass die religiösen Fundamentalismen in allen Religionen immer stärker werden und sich auch politisch als solche durchsetzen können. Insofern ist Religionskritik eine der obersten philosophischen Beschäftigungen – um der Menschenrechte und der Demokratie willen. Man denke auch an die scharfen Abtreibungsverbote in vielen lateinamerikanischen (katholischen!) Staaten oder in einigen Bundesstaaten der USA sowie in Polen usw. Überall, wo der politische katholische Klerikalismus die Macht hat, setzt er sich mit seinem absoluten ersten aller Gebote durch: Keine Freiheit für Frauen hinsichtlich der Abtreibung.
Diese Themen berührt Habermas nicht. Und seine Schriften wurden zu einer Zeit geschrieben, als das Vertrauen in die religiöse und grundsätzlich humane Kraft der Kirchen noch relativ ungebrochen war. Seit den vielen Missbrauchsskandalen in der römischen Kirche weltweit ist es schwer, mit Habermas noch von den “konstruktiven Ressourcen der Kirchen” für die Gestaltung Europas zu sprechen. Die Kirchen sind ja selbst hilflos, auch wenn es etwa um das Massensterben der Flüchtlinge im Mittelmeer geht; sie sind hilflos, wenn in den Großstädten die Mieten explodieren und immer mehr Arme „erzeugt“ werden; die Kirchen sind hilflos, wenn die reiche und satte Welt auf die arm gemachten Millionen Menschen des Südens schaut und dabei seit Jahrhunderten keine anderen Ideen hat, als “bitte schön” zu spenden.
Mit anderen Worten: Die religiösen Ressourcen, und das sind im Sinne Jesu von Nazareth humane Ressourcen, mit einer prophetischen Dringlichkeit, scheinen aufgebraucht zu sein. Vielleicht sind sie in mystischen Traditionen noch vorhanden, aber welcher Mystiker wird schon politisch? Oder sie sind in kleinen vernünftigen, also liberal-theologischen protestantischen Kirchen noch lebendig! Und manche Beobachter haben den Eindruck, die Gesellschaft mag zwar mit allerhand Folklore , Kirchentagen, Heilig-Abend-Gottesdiensten etc. noch religiös erscheinen. Vom biblisch- prophetischen Glauben der Gerechtigkeit für alle und des nicht bloß verbalen Kampfes für diese Gerechtigkeit, sind die Kirchen weithin weit entfernt.
Insofern sind die Äußerungen von Jürgen Habermas zu Religion noch interessant für weitere Diskussionen. Aber, sie sind leider bis jetzt nicht relevant geworden. Nicht praktisch geworden.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Lesenswert ist der Beitrag von Michael Kühnlein über Jürgen Habermas in dem Buch „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie und Religionskritik“, Suhrkamp, 2018, S. 862 ff.