Ein Hinweis von Christian Modehn. Zum 100. Geburtstag des Dichters. Und nun auch zum 50. Gedenktag der Übergabe des Literaturnobelpreises 1972.
Zwei Böll-Gedenktage also! Denken wir also wieder mit Böll, dem Dichter, dem politisch mutigen und immer demokratischen Zeitgeonossen. Am 21. Dezember 1907 wurde in Köln der Dichter Heinrich Böll geboren. Am 16. Juli 1985 ist er gestorben. Am 20.Dezember 1972 hat er den Literaturnobel-Preis erhalten.
Uns interessiert hier vor allem der Katholik Heinrich Böll, der er immer war, selbst wenn er heftigste Vorbehalte gegenüber der Institution hatte und 1972 aus der Kirche ausgetreten war.
1. Katholisch – aber kritisch.
Es ist klar, dass Religion und Kirche in den Werken Bölls beinahe allgegenwärtig sind. Böll war in der „mystischen Welt“ des Katholizismus tief verwurzelt. Er weiß, dass der Mensch sich auf dieser Erde nie ganz zu Hause fühlen kann. „Dass wir also noch woanders hingehören und von anders herkommen“. Böll will die Sakramente in neuer, menschenfreundlicher Bedeutung erleben. Er ist so tief in seinem Glauben, dass „ich mir einen Atheisten nicht vorstellen kann… Wir kommen von außerirdischen Kräften her“ (in: Karl – Josef Kuschel, Weil wir uns auf dieser Erde nicht ganz zu Hause fühlen“, Piper Verlag 1986, S. 65)
Nur aus dieser Bindung an die mystische Seite des Glaubens ist Bölls heftige Kritik an der Institution Kirche zu verstehen. Böll wollte die Kirche im Licht der Gestalt Jesu Christi bewerten. Darin kann man durchaus einen reformatorischen Impuls sehen, selbst wenn Böll vom Protestantismus wenig wusste.
Es ist keine Frage: Viele Aspekte von Bölls Kirchenkritik sind heute aktuell. Bölls Werke sind also in der Hinsicht überhaupt nicht „veraltet“. Die Debatten über die Zahlung der Kirchensteuer als Ausdruck der Mitgliedschaft in einer religiösen Gemeinschaft sind ja keinen Schritt vorangekommen…Und genau in den Zusammenhang passt gut die Verteidigung, die Böll leistete für den katholischen Dichter Reinhold Schneider (gestorben 1958). Auch Schneider ist aus religionsphilosophischen Interessen für uns sehr wichtig, vor allem wegen seiner offenkundigen und eingestandenen Gott-Ferne, wenn nicht Atheismus, was in dem Buch Schneiders “Winter in Wien” förmlich in die Augen springt. Böll schätzt den eigentlich einst eher konservativen Reinhold Schneider, weil er nun, nach dem Krieg, zum entschiedenen Pazifisten wurde. Und damit selbstverständlich in der militär-freundlichen Adenauer Kirche, also der katholischen, in Ungnade fiel. Man lese dazu in Heinrich Böll, “Die Fähigkeit zu trauern”, S. 67 f.
2. Erfahrungen mit der Institution Kirche.
Man sehnt sich förmlich nach mutigen Intellektuellen wie Böll, die noch mit dem Glauben an Jesus von Nazareth kritisch verbunden sind. Es gibt solche Menschen in den Kirchen nicht mehr. Die Kirchen in Deutschland sind intellektuell verödet, am Nullpunkt, es herrscht die Bürokratie, es gibt noch einige konservative, treu -römische, damit geistig unfreie, ideologische Autoren, aber an die denken wir gar nicht mehr. Die katholische Kirche in Deutschland ist materiell stinkend reich, aber intellektuell verarmt, es gibt nur noch ein paar gut bezahlte intellektuelle Funktionäre (oder Theologieprofessoren) der Kirche.
Hilfreich ist bei dem Thema das Interview, das der französische Journalist und Autor René Wintzen mit Heinrich Böll im Oktober 1976 führte, es ist zuerst in Paris erschienen, später auch Taschenbuch bei DTV unter dem Titel „Eine deutsche Erinnerung“ (1981). Das Buch ist nur noch antiquarisch zu haben.
Böll beschreibt darin zum Teil drastisch, immer aber der Wahrheit verpflichtet, Erfahrungen mit der Kirche in seiner Jugend: Er kritisiert etwa die Bauwut der Bischöfe nach dem Ersten Weltkrieg: Überall entstehen neogotische Kirche „von einer industriellen Kälte“, dort „fanden die Pflichtgottesdienste statt, es gab den Katechismus Unterricht, dieser ganze fürchterliche Wahnsinn des 19. Jahrhunderts würde über einem abgerollt“ (39).
Die Indoktrination, die Ideologisierung, des Glaubens war ihm zuwider. Auch „die religiöse Erziehung der Eltern war wahrscheinlich schlimm“. Er geht als Jugendlicher nicht zum Sonntagsgottesdienst, „ohne unreligiös zu werden“ (40). Böll weist auf lächerliche rechtliche Bestimmungen hin: Etwa das Kirchengebot, nur nüchtern, d.h. ohne Speisen gegessen zu haben, an der Kommunion teilnehmen zu dürfen. (42). Das „Nüchternheitsgebot“ wurde dann 1964 fast ganz abgeschafft. Ein Gebot, für das einst die Päpste kämpften, verschwand also, ohne dass man den Menschen sagte, „warum man es jahrhundertelang aufrechterhalten hat“ (42). Die plötzliche Zurücknahme unsinniger Kirchengebote und Gesetze ist natürlich eine Wohltat, sie kommt meist plötzlich von Rom. Und die Leute, die einst gegen die Feuerbestattung kämpften, werden nun plötzlich konfrontiert mit der Entscheidung, auch für Katholiken ist Feuerbestattung möglich. Es ist diese Herrscher Allüre, die Böll so aufregt, zurecht
Die Kirchenkritik Bölls ist motiviert von der intellektuellen Armut der Kirche: Er verwendet übrigens immer wieder für das Wort „Milieu“, das „katholische Milieu“. Manche glauben noch heute, es förmlich riechen zu können.
3. So viel katholischer Unsinn.
In diesem Milieu wird zu viel Unsinn gelehrt, etwa die Lehre von der heiligen Familie, bestehend aus Josef, Maria und dem Jesuskind. Wie kann dieses Zusammensein eine Familie sein, wenn in ihr Erotik und Sexualität der Eheleute überhaupt keine Bedeutung haben. Wie kann man solch eine Konstruktion den Katholiken gar als Familien-Vorbild, als heilig, einschärfen? (54 f.).
Sehr heftig wurde Böll, wenn er auf die Kirchensteuer zu sprechen kam. Er fand es skandalös, dass ein Katholik nur dann Kirchenmitglied sein darf, solange er die Kirchensteuer bezahlt. „Man verrechtlicht das Verhältnis zu einer Religion, man fiskalisiert es, materialisiert es, das ist klassischer Materialismus“ (57). Böll ist dann 1976 wegen dieses offiziellen kirchlichen Materialismus aus der Kirche ausgetreten. Seiner Entscheidung sind dann viele andere gefolgt. Böll nannte die leidenschaftliche Sucht der Hierarchie nach Kirchensteuern den „kirchliche Materialismus“. Er besteht bis heute. Die Kirchenführung nahm und nimmt Geld von Leuten, die nur aus Bequemlichkeit, Gedankenlosigkeit oder Tradition noch ihre Kirchensteuer zahlen, dann aber werden diese Menschen von den Herren der Kirche als „Kartei-Leichen“ abqualifiziert. Ein Wort aus dem Wörterbuch des Unmenschen… Das Geld dieser „Leichen“ stinkt aber gar nicht. Darum liebt die Kirchenfphrung diese Leichen.
Aktuell und wichtig ist Bölls tief greifende Kirchenkritik bis heute: Insgesamt herrscht in der katholischen Kirche ein administrativer Umgang mit den Sakramenten vor, man denke an die Debatten um Mischehen und Wiederverheiratet Geschiedene, diese Themen, die angesichts des Zustands dieser Welt heute geradezu absurd und lächerlich erscheinen. Darüber ereifern sich alte zölibatäre Bischöfe bis heute wochenlang, Jahre alt, immer dasselbe Argument vortragend, und viele Katholiken nehmen an dieser absurden Diskussion teil, ohne sich die Freiheit zu nehmen, einfach den eigenen Weg zu gehen…
Böll ist den eigenen Weg gegangen, auch in der Kirche. Er hat sich die richtige Frage gestellt: Warum ändern sich, verbessern sich, eigentlich die Katholiken nicht, die ständig an der Messe teilnehmen? Warum ist der Gottesdienstbesuch so wirkungslos? (62). Die Pflicht an der Sonntagsmesse teilnehmen zu müssen nannte Böll treffend „Druck, Magie, Terror“. Diese sitzen so tief, „dass sich die Menschen dem unterwerfen, gegen ihre Einsicht“ (ebd).
Noch viel zu wenig debattiert wird Bölls Vorschlag, anstelle der Sonntagsmesse lieber in kleinem Familienkreis einmal in aller Ruhe und stilvoll gemeinsam zu speisen, zu sprechen, sich auszutauschen, das Leiden und die Freude der Familienmitglieder zu teilen? (63).
Insgesamt beschreibt Böll die Kirchenführung mit den Worten „Unbarmherzigkeit, Hochmütigkeit und heuchlerische Frömmigkeit“, so die Germanistin Elisabeth Hurth in der „Herderkorrespondenz“ (2010).
4. Eigentlich gibt es eine Sehnsucht nach Heil und Befreiung. Nur: Die Kircheninstitution verwehrt das.
Dabei weiß Böll, dass die Gesellschaft heute religiöse Vollzüge, authentisch gelebt, mit dem Interesse an seelischer Heilung und Befreiung, dringend bräuchte. „Glaube und Religion geben dem Leben nicht nur Halt, sie geben ihm auch eine Form“, schreibt Elisabeth Hurth.
Am 9.9. 1983, also 2 Jahre vor Bölls Tod, veröffentlichte die Zeitschrift PUBLIK FORUM ein Interview mit Böll, das Karl-Josef Kuschel führte (auch als Buch der Serie Piper, „Weil wir uns auf dieser Erde nicht ganz zu Hause fühlen“, 1986, dort S. 64 ff. ). Dabei fällt wieder auf, dass Böll einerseits den mystischen, den inneren, den spirituellen Wert des katholischen Glaubens für sich wichtig findet, dabei aber betont: „Ich betrachte mich nicht als Kirchenhasser, nicht andeutungsweise“ (67). Andererseits ist aber seine Kritik an der CDU/CSU und der Liebe der Hierarchie zu diesen Parteien ungebrochen. Er fragt explizit, warum sich diese Parteiführer und Parteimitglieder mit dem „C“ nie auf Jesus Christus berufen. „Christliche Politiker sprechen ja nie von Jesus Christus… Wenn man nur die (alles Jesuanische neutralisierenden, CM) Worte christlich oder Christentum benutzt, dann sind diese Worte sozusagen Abschiedsbegriffe“ (68), solche also, die nur noch sehr ferne Erinnerungen an die radikale Gestalt Jesu von Nazareth wachrufen. Man stelle sich vor, in der Debatte über die Aufnahme von Flüchtlingen jetzt in Europa hätten sich die C Politiker an Jesus von Nazareth thematisch erinnert…
Ulrich Greiner hatte in „Die Zeit“ vom 27. Januar 2010 (anlässlich des Abschlusses der 27 Bände umfassenden -Kölner Ausgabe-) einen Beitrag über Böll verfasst mit dem Titel „Der Schriftsteller des Mitleids“. Das soll heißen: Böll war nie ein Liebhaber böser Ironie. Er sprach nicht distanziert lästerlich lächelnd über die Dinge: Er war in sie involviert, nahm daran teil. „Wir können diese Haltung als christliche Caritas beschreiben, als absichtslose, vom eigenen Nutzen absehende Zuwendung zu den Menschen. Das ist die Bedingung von Mitleid…Wer zum Mitleid imstande ist, der kennt auch den Zorn und die Empörung“ (Ulrich Greiner).
5. Der zornige Böll – der radikale Demokrat Böll.
Frömmigkeit und leidenschaftliches Eintreten für die Demokratie und die Menschenrechte FÜR ALLE gehörten für Heinricht Böll zusammen. “Böll, der von Natur aus ein sanfter, versöhnlich gestimmter Mann war, zerschnitt jedes Tischtuch, an dessen Ende jemand hockte, dem Rechtstaatlichkeit, Freiheit und Gerechtigkeit nur Dekoration war” (Hilmar Klute, SZ, 3./4. Dezember 2022, Seite 15.) Von daher Bölls Kampf gegen die Verleumdungen der Springer-Presse. Als hätte er die Wiederkehr bzw. die Zunahme des Faschismus und Antisemitismus in Deutschland schon gespürt, abgesehen von der Präsenz alter Nazis an der Spitze etlicher BRD – Institutionen, schrieb er 1960 (!) an die jüdische Dichterin Jenny Aloni: “Ich habe Angst um die jüdischen Kinder, die hier aufwachsen wie um meine eigenen. Man kann dem Boden hier nicht trauen.” (Zit .ebd.) Dem politischen Schriftsteller Böll machten die reaktionären Kräfte das Leben schwer: “Razzien in seinem Haus in der Eifel, nächtliche Anrufe, beinahe tägliche Hetze gegen ihn in der einschlägigen Presse…” schreibt Hilmar Klute (ebd.).
6. Eine Frage – Wäre Heirnich Böll heute bei der “Letzten Generation”?
Hilmar Klute stellt die richtige Frage: “Würde sich der alte Dichter, die Raucherbeine mit Krücken gestützt, vielleicht nicht doch zu den Klebenden auf die Autobahn setzen? In Mutlangen sah man ihn 1983 auch die Zufahrtswege der US-Army-Trucks blockieren….”
Eine persönliche Erinnerung an Begegnungen mit Heinrich Böll hat der Theologe und hervorragende Kenner deutscher Literatur, Prof. Karl-Josef Kuschel, in seinem neuen Buch “Magische Orte. Ein Leben mit der Literatur” veröffentlicht, Patmos Verlag, 2022, 660 Seiten, zu Heinrich Böll: S. 486-518.
Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.