“Staat ohne Gott”: Über die Bedeutung der Religionen in der Demokratie

Inspirationen und Fragen zu einem neuen Buch von Horst Dreier

Ein Hinweis von Christian Modehn

Um alle Irritationen von vornherein zu vermeiden: Das neue Buch von Horst Dreier, Rechtsphilosoph, Staats – und Verwaltungsrechter an der Würzburger Universität, ist kein Plädoyer für eine gottlose Gesellschaft, auch keine Werbung für den Atheismus – aber auch keine Werbung für einen religiösen Glauben. Sondern eine umfassende Reflexion über die eigentlich selbstverständliche Tatsache, von der alle modernen Demokratien bestimmt sind: Dass sie als demokratische Staaten zur Begründung ihrer eigenen Autorität, Kraft und Macht sich gerade nicht auf einen Gott beziehen. Sie sind insofern „demokratische Staaten ohne Gott“. Sie sind nicht gegen Gott und auch nicht für „ihn“. Und das ist gut so fürs Leben der unterschiedlich Frommen und Nichtfrommen in einer pluralen Demokratie. Inzwischen wird diese Position, eigentlich wohl die Mehrheitsposition, allerdings bestritten: Etwa durch den Rechtswissenschaftler Ulrich Haltern, der behauptet, wie Dreier schreibt, „Souveränität sei unhintergehbar religiöser Natur“ ( S.152). Dreier hält hingegen daran fest: „Die Säkularität des modernen Staates besteht in dem Verzicht auf Transzendenz als Begründungsressource“ (59). Konkret heißt dies: Die säkulare Demokratie mischt sich nicht in die inneren Angelegenheiten der verschiedenen Glaubensrichtungen ein und verzichtet auf ein Votum in religiösen und weltanschaulichen Fragen (59). Dieser Staat räumt umfassende Religionsfreiheit ein, er distanziert sich von Religionen, ohne dabei in einer Art atheistischen Staatsideologie Religionen zu verfolgen oder minderwertig zu betrachten.

Der gott – lose Staat ist also selbst nicht mehr – wie einst – konfessionell geprägt, er lebt nicht (mehr) von Gottes oder damit zusammenhängend der Kirchen Gnaden, sondern aus den Bürgern, dem Volk, als dem Souverän. Nur der Staat, der sich selbst jeglicher Entscheidung zur Frage nach Gott enthält, kann ein friedliches Miteinander in der pluralistischen Gesellschaft gewährleisten. Soweit ein Hinweis auf die fundamentale Erkenntnis, die Horst Dreier leider nicht in aktuelle Bezüge zur Islam- Debatte stellt.

Und dieser demokratische Staat in Deutschland versteht sich „säkular“, eben nicht unter der Leitung einer Kirche. „Säkularisierung2 ist dabei der ständig verwendete Begriff in den privaten und öffentlichen Debatten. Schon im 1. Kapitel (von insgesamt 6 Kapiteln) erläutert Dreier in vorbildlicher Klarheit die vielfachen Bedeutungen des Wortes Säkularisierung, eines Topos, der „inflationär geworden ist“ (34). Der Autor verweist etwa auf die (historischen) Auseinandersetzungen, die mit der Durchsetzung dieses Begriffes und der gemeinten Realität verbunden waren und wohl noch sind. Wenn man daran denkt, dass die Weltlichkeit der Welt eben DAS Kennzeichen der Moderne ist, wird man sich um so mehr fragen: Ist diese neuzeitliche Moderne von einem kirchlichen Standpunkt aus betrachtet als solche wertvoll, bietet sie Neues im Laufe der Geschichte Europas? Diese Frage des Philosophen Hans Blumenberg (siehe „Die Legitimität der Neuzeit“) erörtert Dreier ausführlich: Die Säkularisierung in der europäischen Moderne zehrt nicht von Vorlagen des christlichen Mittelalters, „sie trägt ihre Legitimität in sich selbst“(41). Das heißt: Die Moderne, die Neuzeit, ist für Blumenberg auch ohne das Christentum verständlich (45), ohne den Rückgriff auf Heiliges und Mythos (46).

Unter den vielen Anregungen und Fragen, die das Buch bietet, nur ein weiterer Hinweis. Horst Dreier bezieht sich am Ende des 1. Kapitels auch auf sozialwissenschaftliche Dimensionen der Säkularisierung. Dass die Kirchen in Deutschland Mitglieder verlieren, ist bekannt. Interessant ist nur die vielfältige Interpretation dieser „Entkirchlichung“ in Religionssoziologie und Theologie: In welcher Weise sind die Christen, die aus der Kirche austreten, noch spirituell bewegt und interessiert? Sind sie etwa gottlos, sind sie zu Vertretern einer gottlosen, „säkularistischen“ Moderne geworden? Dreier diskutiert dieses Thema als Nicht – Theologe, wobei er meines Erachtens sehr stark den entsprechenden Deutungen des Religionssoziologen Detlef Pollack folgt: Und der hält nicht so viel von der Möglichkeit einer „unsichtbaren Religion“ (Thomas Luckmann und andere). Dabei wäre es doch gerade spannend, den Bezug auf (allgemein) Göttliches, also absolut Zentrales im Leben sogenannter Atheisten auch in Ostdeutschland zu untersuchen. Im Zusammenhang einer persönlich gelebten absoluten Vorliebe etwa für Sport…Schon Walter Benjamin sprach ja von „Kapitalismus als Religion“. An der Stelle hätte ich mir eine breitere Diskussion gewünscht, die vielleicht zu der Erkenntnis kommt: So total ist die Säkularisierung, etwa im Osten Deutschlands, doch nicht. Es ist auch Schuld der Kirchen, die in diesem Milieu einfach nur ihre alten Sprüche und Weisheiten und Gottesdienstformen unverändert nach der Wende 1989 fortsetzen. Die veraltete Sprache interessiert ja auch im Westen fast niemanden mehr… Jedenfalls gilt meiner Meinung nach inmitten der Säkularisierung: Der Bezug auf eine absolut wichtige Wirklichkeit hat sich nur geändert, es ist eben nicht mehr der „christliche dreieinige Gott“…sondern die Freizeit, der Sport, die Familie, die Liebe zur Natur, und dies sicher auch: die oft stillschweigende, sehr individuelle, gemeinschaftlich leider nicht geteilte Verehrung eines sehr persönlichen Geheimnisses im Leben usw. Dieser Gott hat viele sich wandelnde Gesichter… Dem geht die Theologie jedenfalls nicht nach, leider. Aber das ist ein anderes Thema…

Ein weiterer Mangel der insgesamt hoch interessanten, leicht lesbaren Studie von Horst Dreier: Er beschränkt seine Ausführungen sehr deutlich auf Deutschland, auch wenn am Rande immer mal kurz Frankreich erwähnt wird als ein Symbol für „laizistische Ansätze“ ( 61), die er dann als Tendenz versteht, „die Religion aus der Öffentlichkeit zu verdrängen“. Dreier kennt wohl einen „moderaten Laizismus“ etwa in Québec, der in seiner Sicht von dem offenbar heftigeren, abzulehnenden französischen Laizismus verschieden ist (Fußnote 100, Seite 118).

Es ist der in meiner Sicht oft übliche Fehler deutscher Autoren, dass sie die Kirche – Staat – Beziehung in Frankreich etwa seit 1905 (gesetzliche Trennung von Staat und Kirchen) als eher für die Religionen feindliche Haltung des Staates interpretieren. Wer hingegen die heutige Rechtslage betrachtet, muss feststellen: Die Religionen (Judentum, Buddhismus, Islam, Protestanten, Orthodoxe, Katholiken) werden alles andere als staatlich schikaniert und bedrängt. Nur eine kulturpolitische Realität im „laizistischen“ Frankreich: Im staatlichen Fernsehprogramm „FRANCE 2“ gibt es an jedem Sonntag von 8.30 bis 12.00 eigene, von den Religionen selbst bestimmte Sendeplätze mit Features und Gottesdienstübertragungen, alle Religionen haben da nacheinander ihren Platz. Der bekannte und allseits geschätzte Politologe Alfred Grosser (Paris) bedauert nur zurecht, dass bei diesem umfassenden TV Programm aller Religionen die „rationalistische, atheistische Philosophie nicht berücksichtigt wird“ (S. 179 in Grosser, “Wie anders ist Frankreich?“ C.H. Beck Verlag, 2005). Wenigstens das Kapitel dieses Grosser Buches sollte allmählich jeder Theologe usw. lesen, der immer noch von atheistischem „Laizismus“ in Frankreich schwadroniert. Die deutschen Kirchenoberen sind auch gegen diesen angeblichen Laizismus, weil in Frankreich ein katholischer Bischof ca. 1.200 Euro Monatsgehalt bekommt, aus Spenden, weil es keine Kirchensteer in Frankreich gibt; ein deutscher Bischof hingegen mindestens 10.000 Euro monatlich, aber das am Rande. Ist die Kirchensteuer in Deutschland wirklich etwas Heiliges? Es ist wohl so!

Für die französischen Bischöfe ist Kirchensteuer kein Ideal, sie unterstützten ausdrücklich die laicité der französischen Republik, diese laicité ist, noch einmal, nicht identisch mit dem bei deutschen Wissenschaftlern üblichen Kampfbegriff „Laizismus“. Man studiere nur, wie die zahlreichen katholischen Privatschulen vom Staat mit finanziert werden, wie es Militärseelsorge gibt, wie der Staat kleinere Tageszeitungen, wie die katholische Tageszeitung La Croix. Manchmal möchte man sogar meinen, der französische Staat überschreitet seine gsetzlichen Grenzen, wenn er unentwegt auch jetzt dafür sorgen will, dass die vielfältigen muslimischen Verbände eine einheitliche Organisation (nach dem Vorbild der Kirchen!) schaffen.

Die Inhalte der französischen laicité in Frankreich hätten auch weiter diskutiert werden können, wenn es um die Frage geht: Sollte die demokratische Republik angesichts der Gefahren, die ihr jetzt von Rechtsradikalen drohen (die diese Demokratie abschaffen wollen), nicht in aller Deutlichkeit ihre eigenen demokratischen, republikanischen Werte nach außen darstellen, vermitteln, ich möchte sagen: propagieren und verteidigen? Um Schlimmstes zu verhindern, nämlich die Abschaffung der Demokratie durch die Wählerstimmen einer Mehrheit? Ist die Demokratie wirklich schutzlos? Ich meine, zumindest am Ursprung der Trennung von Staat und Kirchen in Frankreich gab es die Idee mit konkreten Vorschlägen, diese Republik inhaltlich zu verteidigen, etwa in den Schulen des Staates usw. Angesichts der neuen Bedrohung des Demokratie durch rechtsradikale Kräfte, populistische Parteien usw., ist es dringend nötig, dass sich die Demokratie nicht darauf beschränkt, nur das freie Spiel aller Kräfte zu ermöglichen. Diese Frage wird auch nicht umfassend in dem Buch diskutiert, leider. Angedeutet wird das Problem: Was denn einen Staat „im Innersten zusammenhält“ (208). Das Thema „Zivilreligion“ wird nur kurz erwähnt und als Möglichkeit pauschal abgewiesen (209).

Damit wird das Thema von Ernst – Wolfgang Böckenförde relevant, dessen (rätselhafter, aphoristischer) Spruch (von 1964, publiziert 1967): „Der freiheitliche, demokratische Staat lebt von Voraussetzungen die er selbst nicht garantieren kann“ (zit. S. 189) allmählich fast formelhaft auch heute permanent zitiert wird. Horst Dreier bietet dazu eine umfassende Analyse, etwa, dass diesen Gedanken in ähnlicher Form der Philosoph Joachim Ritter schon vorher geäußert hat (S. 195). Interessant ist, dass Dreier zeigt: Böckenförde hat selbst auch später kaum präzise sagen können, wie denn diese (geistigen) Voraussetzungen aktiviert werden können, um den demokratischen Staat in seinem (Über)Leben zu stützen…Auch Rawl und Habermas haben sich mit dem Thema „herumgeschlagen“. Dreier selbst betont am Schluss: „Ohne die Grundrechtsaktivität der Bürger, ohne anhaltendes politisches und gesellschaftliches Engagement, ohne die Fähigkeit zum friedlichen Austrag von Konfliten wird eine freiheitliche demokratische Ordnung auf Dauer nicht bestehen könne, das scheint mir sicher“ (214). Dreier vertraut auf die geistige Kraft der Diskussion, des wohlgeordneten Dissens, wie er schreibt. Bloß was tun, wenn der Dissens so groß geworden ist, dass viele Akteure etwa in der AFD, bei le Pen etc. nicht mehr erreichbar sind? Da wäre weiter zu forschen und aller praktische Nachdruck eben auf die „Grundrechtsaktivität der Bürger“ zu setzen als Überlebenshilfe der Demokratie.

Sehr erhellend sind die Ausführungen zur viel diskutierten Frage nach dem Gottesbezug in der Präambel der bundesdeutschen Verfassung. Da ist von einem „Gott“ die Rede, nicht von dem konfessionell geprägten christlichen dreifaltigen Gott wie etwa in Irland. Für Historiker ist interessant das Kapitel über die Verfassungsgeschichte der Religionsfreiheit in Deutschland….

Bedauerlich bleibt, wie schon gesagt, die hohe abstrakte Distanz zu aktuellen und dringendsten Fragen, etwa zum Islam, zur Zunahme des Rassismus und Antisemitismus. Der Umgang mit dem abstrakten Begriff „der Staat“ bei Dreier ist auch problematisch: Denn der Staat das sind immer historisch –kulturell bestimmte Bürger. Aber welche Bürger prägen den Staat, machen die Gesetze. Da hätte ein Bezug gerade jetzt im Jahr des Gedenkens an Karl Marx sehr gut getan, dass es eben doch die führenden Klassen sind, also auch die Eigentümer, die den Staat und seine Gesetze bestimmen! Ob Deutschland ein Klassenstaat ist, wäre doch die Frage, die manche Forscher zurecht mit einem großen „leider“ Ja, positiv, beantworten müssen. Man denke nur an aktuelle Beispiele, an den staatlichen Umgang mit Autoproduzenten, der ständigen staatlich verfügten Reduzierung der Hartz IV Leistungen, der Abschreckung von Flüchtlingen durch entsprechende Aufnahme-Heime, der förmlichen „Heiligsprechung“ „des“ Eigentums usw. Dieser Staat ist er noch ein Sozialstaat? Das wäre doch eine Frage für Horst Dreier, die er leider überhaupt nicht berühren will. Aber sie muss diskutiert werden.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Horst Dreier, Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne. C.H.Beck Verlag, München, 2018, 256 Seiten, 26,95 EURO