Gehört Religion auf die Bühne? Und Kirchenkritik?
Fragen an Ulrich Khuon, den Intendanten des Thalia-Theaters Hamburg
Von Christian Modehn
Publik-Forum: Herr Khuon, Sie sind nicht nur Intendant, sondern auch katholischer Theologe. War Ihr Weg zum Theater für Sie so etwas wie der Übergang in eine völlig andere Welt?
Ulrich Khuon: Im Grunde nicht. Denn ich habe schon ganz früh Theater gemacht. Neben der Juristerei hörte ich theologische Vorlesungen vor allem bei dem Religionsphilosophen Bernhard Welte in Freiburg und hatte dort auch Kontakt zur Katholischen Hochschulgemeinde, wo ich eine studentische Theatergruppe gründete. Die Welt der Kirche und die des Theaters sind allerdings recht unterschiedlich. Die Hochschulgemeinde war eine eigene Welt innerhalb der Universität. Und das Theater war es in anderer Weise auch. Aber Künstler treten mit einem anderen Anspruch auf, mit einer anderen Wildheit einerseits, aber auch mit einer anderen Sicherheit. Die Kirche ist ein Schutzraum. Theater und Kunst sind dagegen eher eine Art explosive Mischung. Beide so unterschiedliche Welten haben aber denselben Gegenstand: Sie wollen die Erfahrungen der Menschen erweitern helfen.
Publik-Forum: Das Theater sollte also eigentlich keine Sonderwelt sein?
Khuon: Am Thalia-Theater wollen wir den Zuschauern zeigen: Wir verhandeln euer Leben, uns interessiert euer Leben, wir müssen es kennenlernen, um darüber miteinander zu reden. Künstler glauben manchmal, über alle Bereiche des Lebens etwas aussagen zu können, ohne sie wirklich zu kennen. Wir verhandeln auf der Bühne Geschichten von Mördern, von Müttern, die ihre Kinder verhungern lassen. Wir erzählen oft radikale und extreme Geschichten. Wir müssen als Theater in die Welt hinein! Das heißt: Wir müssen sie immer tiefer kennenlernen.
Publik-Forum: Wollen Sie mit der Arbeit am Theater auch politische Veränderungen anstoßen?
Khuon: Im Thalia-Theater in der Gaußstraße, einer Art Theater-Labor, versuchen wir das ganz konkrete Zusammenleben in unserer Stadt theatralisch zu erkunden. Da läuft das Stück »Einer von uns« von Nuran David Calis, in dem auch fünf Jugendliche aus Altona mitspielen, zusammen mit drei Schauspielern. Calis hat das Stück zum Teil zusammen mit den Jugendlichen geschrieben. Es geht um einen Migranten, der hier aufgewachsen ist, sich aber in Hamburg irgendwie verloren fühlt; er hat mit Drogen zu tun, seine Mutter hat ihn streng erzogen, sein Vater ist unbekannt. Da geht es um die Frage: Wo sind meine Wurzeln angesichts des Lebens zwischen zwei Welten? Wir wollen uns als Theater auch vernetzen mit anderen Initiativen. Für mich ist es wichtig, dass unser Theater ein Stadttheater ist. Es muss in die Stadt hinein wirken. Es muss die Tendenz aufbrechen, dass sich unterschiedliche Menschen gegenseitig nicht wahrnehmen und anerkennen. Das Theater kann einladen, die ganze Wirklichkeit – spielerisch – wahrzunehmen.
Publik-Forum: Zur ganzen Wirklichkeit gehört für viele Menschen auch die spirituelle oder religiöse Dimension. Ist für Sie Theater auch eine spirituelle Veranstaltung? Gibt es auf der Bühne auch einen Bezug zur göttlichen Wirklichkeit?
Khuon: Diese Frage ist sehr schwer zu beantworten. In »Unschuld«, einem Stück von Dea Loher, das wir uraufgeführt haben, findet ein Mann eine Tüte voller Geld. Er erzählt: »Ich sage Ihnen, was ich glaube: Gott ist in dieser Tüte.« Mit dem Geld bezahlt der Mann dann einem blinden Mädchen die Augenoperation. Da bewirkt eine Kraft etwas Gutes im Menschen, vielleicht ist das Gott. Aber meist können wir ihn nicht so direkt benennen. Für uns Künstler ist klar, dass nicht alle im Menschen wirkenden Kräfte ausdiskutierbar sind, dass nicht alles exakt greifbar ist. Es gibt Kräfte, die über uns hinausweisen. Nur wenige Künstler haben zu Gott, wie ihn die Kirche predigt, Zugang. Noch im 17. Jahrhundert hatte das Theater die Aufgabe, den Menschen zu Gott zu führen. Aber während der Aufklärung hat sich das umgedreht: Jetzt ermächtigt sich der Mensch selbst, entdeckt er seine eigene Wirkkraft, seine eigene Vernünftigkeit und emanzipiert sich. Aber in dieser Emanzipation erfährt er immer neue Kränkungen. Innerweltliche Fortschrittsprojekte scheitern immer wieder. Die Grundfragen des Lebens werden im Theater weiterhin gestellt, ohne dabei direkt zum Glauben aufzufordern. Aber das Theater kann sich von der Suche nach Transzendenz nicht abkoppeln, wenn diese die heutige Gesellschaft bewegt.
Publik-Forum: Könnte das Theater auch auf dem Feld der Spiritualität etwas bewegen?
Khuon: Da bin ich zurückhaltend. Ich bin schon froh, wenn Menschen, die in mein Theater gehen, überhaupt wieder Interesse aneinander entwickeln, wenn dieser egomanische »Homo clausus«, der nur in sich selber und um sich selber kreist, spürt: Ich bin eigentlich arm. Dies ist die Grunderschütterung, die ich vermitteln möchte: dass der Mensch, der nur sich selbst wahrnimmt, unglaublich viel von einem möglichen Reichtum an Lebensmöglichkeiten verschenkt.
Publik-Forum: Stellen Sie sich auch kirchlich anmutenden Themen?
Khuon: Wir haben das Stück »Brand« von Armin Petras nach Henrik Ibsen in unserem Programm. Brand ist der Name eines protestantischen Pfarrers in Norwegen, das Stück hat den Untertitel: »Mein Gott ist Sturm«. Für mich ist »Brand« ein sehr wichtiges Stück, weil es die gegenwärtige Sehnsucht auch vieler Intellektueller nach »dem Ganzen« aufgreift. Manch einer schaut vielleicht doch neidisch auf den Islam, weil viele Muslime eben radikal und »ganz« ihren Glauben leben. Aber ich halte Zweifel auch für eine Qualität! Das Bewusstsein seiner Schwäche macht den Menschen poröser, durchgängiger, da ist der Zweifel möglich, werden Fragen gestellt.
Publik-Forum: Aber Pfarrer Brand lebt doch das Gegenteil.
Khuon: Brand kann keine Kompromisse eingehen, darf keine Schwäche zeigen. »Wir leben nur halb«, sagt Brand, und genau das will er nicht. Wenn man sich das Stück ansieht, denkt man: Hat er nicht recht, wenn es um die Nachfolge Christi geht? Aber seine religiöse Unnachgiebigkeit ist doch sehr verstiegen. Als sein Sohn schwer erkrankt, könnte er sein Kind mit einem Umzug in ein wärmeres Klima retten. Aber der Pfarrer bleibt bei seiner Gemeinde, sie ist ihm wichtiger als sein Kind. Es stirbt, und seine Frau überlebt den Verlust nicht. Der Glaube von Brand ist ein diktatorischer Glaube. Und seine Mutter bekommt den Sterbesegen nicht, wenn sie nicht allem Reichtum abschwört. Diese Radikalität ist eine merkwürdige Interpretation des Neuen Testaments. Jesus zwingt doch niemanden, er zwingt auch den reichen Jüngling nicht. »Folge den Geboten«, empfiehlt Jesus ihm; nötigen will er ihn nicht, noch mehr Gottgefälliges zu tun. Die Fragen, die »Brand« aufwirft, sind sehr aktuell.
Publik-Forum: Sie wehren sich gegen moralische Verkrampfung und theologische Verhärtungen. Wie wichtig ist Ihnen Kirchenkritik?
Khuon: Kritik ist wichtig. Zum Beispiel erlebe ich innerhalb der katholischen Kirche diese Vereinfachungen. Noch immer möchte man den Gläubigen bestimmte Dinge aufzwingen. Wenn man die Sexualmoral nimmt, so ist es hanebüchen, wie da von einer bestimmten theologischen Position aus das Leiden von Menschen in Kauf genommen wird, etwa bei der kirchlichen Ausgrenzung von Geschiedenen, die wieder heiraten. Oder noch viel mehr bei der Aids-Problematik, konkret: dem päpstlichen Verbot, Kondome zu benutzen. Da gibt es keinen Blick für das Leid der anderen. Der Theologe Johann Baptist Metz weist doch gerade darauf hin, dass das Christentum wesentlich eine leidempfindliche Religion ist.
Publik-Forum: Kann die Teilnahme an einer Theateraufführung eine spirituelle Erfahrung sein?
Khuon: Der Aktionskünstler Hermann Nitsch macht das mit seinen Ritualen, auch Christoph Schlingensief macht Ähnliches. Der Mensch lernt nur aus Erfahrungen, aber er kann nicht alle Erfahrungen selber machen. Insofern kann Kunst Erfahrungen erschließen. Durchs Theater kann man einen anderen Blick auf sich selbst gewinnen. Das Rituelle und Pathetische liebe ich nicht vorbehaltlos. In der Kirche zum Beispiel sind mir die stillen Momente lieber als die pathetischen. Jetzt führt ja die katholische Kirche ihre Riten wieder mächtig auf. Latein wird propagiert. Aber dadurch wird eine Empfindungskraft entwickelt, die das Mitdenken an den Rand rückt. Das finde ich nicht gut. Man überlässt sich dem puren Klang des Lateinischen. Ich aber finde das Bitten und Danken in meiner eigenen Sprache so angebracht und naheliegend, dass es mir ein Rätsel ist, warum man es anders machen sollte.
Von intellektueller Seite hat das Plädoyer fürs Lateinische etwas Geschmäcklerisches, es hat mit einem gewissen Feeling zu tun, weil man den angeblichen »Geheimnisraum« auf diese Weise schützen will. Diese Entwicklung finde ich falsch. Geheimnis muss doch nichts »Fremdsprachiges« sein.
Publik-Forum: Fühlen Sie sich als Theologe eher einsam in der Theaterwelt?
Khuon: Nein. Die Tatsache, dass ich Theologe bin, spielt im Theater keine große Rolle. Ich versuche natürlich, niemals zu missionieren. Wichtig ist mir eher das Bibelwort, in dem es von den ersten Christen heißt: »Seht, wie sie einander lieben.« Die Liebe muss praktisch gespürt werden. Man darf sie nicht verkünden. Entweder wird die christliche Liebe spürbar in der Praxis oder nicht. Nächstenliebe ist Umsetzung der Religion. Wer sich anderen zuwendet, ist leichter, dem geht es besser, wenn er sich nicht im Engagement überfordert. Natürlich gibt es auch die Gottesliebe, sie führt uns weg von unserer Ich-Fixierung. Gott verlangt nicht viel: nur Nächstenliebe und Gebet.
Bildunterschriften, Marginalien, Zitate:
Ulrich Khuon geboren 1951, hat Jura, Germanistik und katholische Theologie studiert. Seit 2001 ist er Intendant des Thalia-Theaters in Hamburg, das mit 273 000 Besuchern im Jahr 2006 laut »Focus« die meisten Zuschauer aller deutschen Bühnen aufwies. Von der Saison 2009/2010 an wird Khuon das Deutsche Theater Berlin leiten.