Warum nur, Sophia?
Oliver spinnt schon wieder, oder: Wie eine Beziehung das Leben verändert
Von Christian Modehn
Oft haben sie mich ausgelacht«, erzählt Oliver. »Sie sagten: Ach, der spinnt schon wieder. Dabei saß ich manchmal nur während der Pausen in mich versunken auf dem Schulhof, und keiner wusste so genau: Schläft der jetzt oder ist er irgendwie entrückt? Meistens habe ich schlicht und einfach nachgedacht. Und dazu braucht man ja bekanntlich etwas Ruhe und Abstand. Oder? Es passierte auch, dass ich auf einen herumtobenden Typen zuging und ihn fragte: Weißt du eigentlich, was Leben ist? Und als mein bester Freund immer wieder eine Mitschülerin belästigte, rief ich ihm zu: Hallo, Frederick, was ist eigentlich Freundschaft, was ist Liebe? Manchmal haben wir dann einen halben Nachmittag mit diesen Fragen verbracht.« Oliver erzählt von den letzten beiden Jahren seiner Schulzeit.
»Irgendwann hat es damals bei mir geklickt. Ich erlebte in Gesprächen, wie mehrdeutig unsere Begriffe sind, und das gab mir zu denken: Das Wort aufheben zum Beispiel. Das heißt doch so viel wie beseitigen, verschwinden lassen, aber auch so viel wie bewahren, retten. Wo bin ich selbst eigentlich gut aufgehoben? Wird vielleicht von mir etwas erst dann bewahrt, wenn auch etwas verschwindet? Na klar, dachte ich, meine Naivität muss verschwinden, dann erst bin ich voll da.«
Wir sitzen im »Café Steiner« in Berlin-Schöneberg. Oliver nimmt noch mal einen kräftigen Schluck Kaffee. »Irgendwie hören wir in dem alltäglichen Gerede so vieles Falsche, aber auch so vieles Denkwürdige. Wer dafür sensibel ist, und das kann man lernen, der ist einfach erschüttert, wenn jemand zu ihm sagt: Mit dir ist nichts los. Kann ein solcher Satz wahr sein? Kann mit einem Menschen tatsächlich nichts los sein, im Sinne von wertlos sein? Hat nicht jeder Mensch immer einen Wert? Ich habe im Laufe der Zeit gelernt, das Selbstverständliche ungewöhnlich zu finden, es infrage zu stellen: Was sind die Konsequenzen einer Aussage? Meine liebste Frage ist immer wieder: WARUM? Warum sind wir nie zufrieden, wenn wir etwas erreicht haben? Warum wollen wir immer mehr wissen, wenn wir forschen? Warum ahnen wir, dass mit einem sicheren Job noch längst nicht der Sinn unseres Lebens sicher gefunden ist? Ist unser Geist nicht unendlich, weil wir immer über alle Schranken und Grenzen hinausdenken?«
Jetzt hatte ich die Chance zu fragen: »Warum findest du denn deine Art nachzubohren und nachzufragen so wichtig?« Oliver guckte mich an, als käme ich von einem anderen Stern. Nach einer kurzen Pause hatte er die Fassung wiedergefunden: »Weil wir ohne diese Fragen oberflächlich dahindämmern. Wir brauchen diese Achtsamkeit auf Worte, Handlungen, Reden, Aktionen, wenn wir nicht in Alltag versinken wollen. Willst du es mal in Bildern wissen? Nachdenken erzeugt Hintergrundmusik, lässt Farben sehen, die sich hinter dem Grauton des Lebens verstecken. Nachdenken ist eine Lust, die ich empfinde, wenn ich der Wahrheit ein Stück näherkomme. So bleibe ich immer unterwegs, mache mich nie vorschnell an einer Meinung fest. Ein gewisser Stolz entwickelt sich, wenn ich weiß: Diese Leuten kann man durch Nachfragen vom Unsinn befreien. Kürzlich sagte mir Eva nach einer zerbrochenen Beziehung: Ach, das ist alles so sinnlos. Aber wenn alles sinnlos ist, ist ja auch dieser Satz sinnlos, irgendwas ist da also falsch an dieser Aussage. Vernunft kann auch therapeutisch wirken.«
Oliver braucht noch einen Kaffee. Dann setzt er wieder ein: »Die größte Überraschung war allerdings, dass die Leute in meiner Schule anfingen, über mich zu plaudern: ›Du, der liebt jetzt Sophia‹, hörte ich immer wieder. Und ich fragte mich, wo ist denn bloß diese Sophia? Denn ein Mädchen mit diesem Namen gab es gar nicht auf der Schule, einmal ganz abgesehen davon, dass alle wussten, dass ich schwul bin und mit einer Sophia nicht so viel am Hut haben konnte. Aber dann dämmerte mir, dass die Leute doch recht klug sind: Sie meinten tatsächlich das griechische Wort »philo – sophia«, und darin steckt ja die Freundschaft, die Liebe, eben die Liebe zu Sophia, zur Weisheit. Klar, so sehe ich das jetzt, bin ich in diese Sophie verliebt.«
Oliver lacht dermaßen laut und herzhaft, dass einige Männer nebenan irritiert von ihren Zeitungen aufgucten. »Also, im Klartext«, Oliver schlürft seinen Kaffee, »ich studiere jetzt Philosophie im Hauptfach und kann mir eigentlich nichts Schöneres vorstellen. So bin ich also ständig mit Sophie zusammen, obwohl sie mir manchmal wie die berühmte ›Kalte Sophie‹ vorkommt, die einem auch arrogant die kalte Schulter zeigt, weil sie komplizierte philosophische Texte produziert hat.«
Genau da wollte ich noch mal einsteigen: Philosophie sei doch oft so schwierig, so abstrakt, so abgehoben vom Alltag. »Genau«, sagte Oliver, »aber bedenke: Philosophie gibt es mindestens schon seit 3000 Jahren, begonnen hat alles in Griechenland, vielleicht schon vorher in Ägypten. Heute wissen wir, Philosophie ist ein weltweites Phänomen, weil eben alle Menschen denken. Denke nur an die wunderbaren Texte des chinesischen Weisen Laotse. Aber Philosophie als Universitätsfach gibt es erst seit 300 Jahren. Ursprünglich ist die Liebe zur Weisheit ein aktives Philosophieren, eben dieses ewige WARUM-Fragen, von dem ich sprach.« Tatsächlich: Die zahlreichen Philosophen in Griechenland zwischen 300 vor und 400 nach Christus hatten eigene Schulen, das waren Lebensgemeinschaften, in denen jeder mitmachen konnte. Dort erlebten die Menschen im Nachdenken ein erfülltes Dasein. Denken wir nur an Epikur, Pyrrhon, den Skeptiker, an Epiktet und die vielen anderen. Oder nehmen wir Montaigne oder später Schopenhauer und Nietzsche: Sie waren eher freie Philosophen, ohne allzu große Bindungen an die Universitäten. Die wichtigen Texte von Kant, Hegel oder Heidegger sind oft nur abstrakt formulierte Resultate ihres eigenen Philosophierens, also des lebendigen Nachdenkens. Genauso wie eine Sinfonie sozusagen das Resultat des praktischen Musizierens ist. Aber das Schöne am Philosophieren ist eben, dass jeder Mensch jederzeit ins Philosophieren hineinkommt. Wie lange brauchen hingegen die Leute, ehe sie sich halbwegs korrekt in einer Fremdsprache verständigen können? Wie viele Kenntnisse sind erforderlich, um die Grundlagen der Physik zu begreifen? Anders beim Philosophieren: Man gerät unversehens immer wieder hinein. Immer wenn wir konsequent Warum fragen, sind wir schon mitten in der Philosophie drin, immer, wenn wir achtsam und mit offenem Auge unsere Welt und uns selbst kritisch betrachten.
Ich habe diese Begegnung mit Oliver nicht vergessen. Hatte ich da nicht mit einem wahrhaften Philosophen gesprochen? Hatte er mir nicht noch erklärt, dass philosophisches Fragen gar nicht die naturwissenschaftliche Erkenntnis der Welt und der Menschen berührt? Wer philosophiert, will etwas anderes wissen, zum Beispiel: Was ist eigentlich die Welt, was ist der Mensch, was ist die Liebe, was ist der Sinn des Lebens? Und die Antworten auf diese Fragen lassen sich mit einer Methode finden: »Distanziere doch von dir selbst (oder nimm Abstand von dir selbst), schau auf dich, frage, wer bin ich eigentlich?«
»Und wer bist du?«, will ich wissen. Olivers Redefluss ist für einen Augenblick unterbrochen. »Wahrscheinlich bin ich vor allem ein Fragender. Sicherheit gibt mir nur das Fragen. Dort finde ich die Energie, die es mich im Fragwürdigen aushalten lässt. Aber immer und überall ist ja meine berühmte Sophie dabei«, sagte Oliver schmunzelnd über seine Freundin. »Sie ist in meinem Geist, will nur angesprochen werden, dann hilft sie mir schon beim Nachdenken.«
Oliver hat sich erhoben und sagt schmunzelnd. »Wir haben gute Gründe, auf unsere Vernunft zu vertrauen und selber zu denken, nicht andere für uns denken zu lassen.« Oliver hatte sich verabschiedet. Ich bezahlte und fühlte mich auf der Straße inmitten so vieler Menschen allein. Aber vielleicht war dies der beste Ausgangspunkt, ins Philosophieren zu kommen.
Ich fragte mich: Was mache ich nun aus dem angebrochenen Nachmittag? Ich bin dann einfach ohne Ziel durch die Straßen gelaufen. Irgendwie hatte mich ein großes Gefühl der Freiheit erfasst, ich lebte wie in einem offenen Raum, in dem es nur den Augenblick gibt, sozusagen nur die Gegenwart. Ich blieb damals ziemlich erstaunt und verwundert vor zwei Bäumen stehen. Der eine war noch in der vollen Pracht der grünen Blätter, der andere, direkt daneben, hatte schon herbstliche Farben. Natürlich lässt sich das alles naturwissenschaftlich erklären. Aber wer philosophiert, gerät sofort in andere Fragen: Was heißt es, in der Blüte zu stehen, wenn das Vergehen und Verschwinden so eng beieinander sind? Gilt dieses Werden und Vergehen nicht auch für uns Menschen? Wo kommen wir denn her, und wo gehen wir hin, wenn wir einmal definitiv ans Ende kommen? Die Naturwissenschaft kann diese Fragen nicht beantworten. Sie hat auch gar keine Möglichkeit, die Frage nach dem letzten Grund von allem zu beantworten. Dieser letzte Grund ist unanschaulich, er ist kein Ding, er ist nicht greifbar, so, wie man den Geist nicht packen und greifen kann.
Kürzlich habe ich Oliver wieder getroffen. Er wollte mir unbedingt von der Weisheit, der Sophia, berichten. »Sie ist ja mehr als Wissen, mehr als technische Kenntnis. Sie ist der Versuch, in den Grenzen der eigenen Welt ein wenig den Überblick zu bewahren. Sie ist der Versuch zu unterscheiden, was wichtig und was unwichtig ist.« Und damit ist es Oliver ernst. Er erzählte mir ganz offen, dass er jetzt schon seit zwei Jahren mit André fest befreundet ist und mit ihm zusammenlebt. »Ich kann doch nicht ewig nach dem besseren und noch attraktiveren Typen suchen: Mit uns stimmt es, wir lieben uns, auch wenn es tausend andere um uns herum gibt, die für mich auch infrage kämen.«
Vielleicht hat seine Freundin Sophie ihm diese Erkenntnis zugeflüstert: Entscheide dich. Wenn du ewig wartest und dich nicht entscheidest, hast du dich ja auch wieder entschieden: Du hast dich nämlich fürs ewige Warten entschieden. Aber das Leben ist doch kein Wartesaal.
Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin!