Liberale Theologie als Befreiungstheologie: Aus dem Grundvertrauen handeln
Fragen an Prof. Wilhem Gräb, Theologe an der Humboldt Universität zu Berlin
Die Fragen stellte Christian Modehn. Publiziert am 29. Oktober 2012
In Ihrem Interview im September 2012 haben Sie sehr deutlich herausgestellt, dass das Grundvertrauen die Basis ist für sinnvolles und dann auch gelingendes, sagen wir „glückliches“ Leben. Welche Rolle spielt das Grundvertrauen, wenn es darum geht, wirksam und mit sehr großer Frustrationstoleranz für eine gerechtere Welt bei uns und in der „Ferne“, etwa für die Menschen südlich der Sahelzone, einzutreten?
Ich spreche davon, dass der christlich Glaube dort, wo er in einem Menschen wirksam ist, zu einem Lebensvollzug wird. Was den Lebensvollzug des Glaubens ausmacht, beschreibe ich mit der aus der Psychologie (Erik H. Erikson) stammenden Rede vom „Grundvertrauen“. Damit will ich zum Ausdruck bringen, dass der christliche Glaube eine verwegene Lebenszuversicht schafft. Er gibt den „Mut zum Sein“ (Paul Tillich). Er treibt also auch dazu an, sich für das als richtig Erkannte und Notwendige zu engagieren, auch dann, wenn alles unendlich mühsam erscheint. Ich würde fast sagen, jeder der, so wie die Dinge liegen, für eine gerechtere Welt eintritt, braucht die verwegene Zuversicht des Glaubens.
Der christliche Glaube vermittelt biblisch inspirierte Vorstellungen von bedürfnisorientierter Verteilungsgerechtigkeit. Denken wir nur an das „Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg“, in dem Jesus von einem Weinbergbesitzer erzählt, der allen Tagelöhnern, die er im Laufe des Tages angeheuert hat, gibt, was sie zum Leben brauchen, dem, der 9 Stunden gearbeitet hat ebenso wie dem, der nur eine Stunde gearbeitet hat. Doch die Verteilungsgerechtigkeit zu fordern, genügt nicht. Menschen müssen auch die Fähigkeit in sich empfinden, ihre Rechte durchsetzen zu können. Aus der Diskussion um den Universalitätsanspruch der Menschenrechte, zu denen ja auch das Recht auf Eigentum gehört, wissen wir: Gerechtigkeit zu fordern und sich für mehr Gerechtigkeit zu engagieren, ist das eine. Verhältnisse zu schaffen, die Menschen die Chance geben und sie dazu zu befähigen, dass sie selbst für mehr Gerechtigkeit kämpfen können, das andere. Ich denke, auf Letzteres, auf die Befähigungsgerechtigkeit kommt es heute ganz entscheidend an.
Wer sich heute für mehr Gerechtigkeit engagiert, muss an das Gute im Menschen glauben, an die Fähigkeiten, die jeder und jede hat, sein Leben zu meistern. Das wiederum setzt voraus, dass man auch an sich selbst glaubt, eben dieses Vertrauen ins Leben hat, auch dann noch, wenn letztlich alles so vergeblich erscheint.
Unsäglich viele haben keine Chance, weil sie in Ländern mit korrupten Regierungen leben, keinen Zugang zur Bildung haben, keine Arbeit finden, bloße Absatzmärkte sind für in Europa oder China billig produzierte Waren usw. Wer für Gerechtigkeit eintritt, den ungerechten Verhältnissen zum Trotz, tut dies, ob er es eingesteht oder nicht, im Grunde immer aus einem abgrundtiefen Vertrauen in eine verbesserungsfähige Welt.
Der einzelne kann als einzelner das zweifellos sichtbare und spürbar zunehmende Elend der Welt nicht heilen und „bewältigen“. Warum bleibt es aber für den einzelnen trotzdem sinnvoll, in kleinen Schritten und überschaubaren Projekten für eine gerechtere Welt einzutreten?
Der Glaube ist immer Sache des einzelnen, aber das darf uns nicht zu dem Schluss verleiten, er sei eine Privatangelegenheit und nur etwas fürs stille Kämmerlein. Das Grundvertrauen, das der Glaube stärkt und lebendig hält, ist zugleich immer auch ein Weltvertrauen, ein Vertrauen darauf, dass wir in die Welt passen und eine menschliche Welt schaffen können. Eine menschliche Welt muss eine gerechte Welt sein, eine Welt, in der alle gleichermaßen ihr Recht auf Leben, Eigentum und Sicherheit bekommen wie eben auch die reale Chance, dieses Recht für sich und andere durchsetzen zu können. Wir wissen, dass wir von dieser gerechten Welt unheimlich weit entfernt sind. Wir glauben aber ebenso und hoffen darauf, dass wir gerechteren Verhältnissen ein kleines Stück näher kommen können, durch unser eigenes Dasein in der Welt und das, was wir an unserem Platz in ihr tun können. Jeder einzelne Mensch ist unendlich wichtig und jeder einzelne noch so kleine Schritt, den dieser einzelne Mensch macht, jedes noch so kleine Projekt, das er in Angriff nimmt oder auch nur durch sein Interesse oder durch sein Geld unterstützt, ebenso.
In welcher Weise ist globale Gerechtigkeit ein Thema liberaler Theologie?
Die liberale Theologie glaubt an das Positive im Menschen, in jedem Menschen. Nicht weil sie den Menschen idealisiert, sondern weil sie ihn als einen solchen versteht, der den Bezug zu Gott, dem Schöpfer, immer schon in sich trägt. Dabei leugnet sie die Sünde, die Störung im Gottes- Selbst- und Weltverhältnis, nicht. Aber dem Menschen diese Störung vorzuhalten, darin sieht sie gerade nicht ihre Aufgabe. Sie spricht ihn vielmehr mit dem Evangelium an, der Botschaft von der göttlichen Gnade. Auf diese Weise festigt sie das letztlich in jedem Menschen lebendige, wenn auch immer wieder gefährdete Sinnvertrauen. Sie zielt auf die religiöse Grundierung der Selbstgewissheit, aus der wir unseren Lebensmut schöpfen.
Die globale Gerechtigkeit ist ein Thema liberaler Theologie. Aber sie setzt dort an, wo eine Theologie ansetzten muss, die die Diskurse der Politik und der Ökonomie oder auch der Ethik nicht lediglich verdoppeln will. Es geht ihr nicht darum, im erhöhten Ton die Appelle noch einmal zu verstärken, die allenthalten ausgegeben werden, angesichts der schreienden Ungerechtigkeit in der Welt. Die liberale Theologie setzt beim Menschen an und gibt ihm die Ermutigung, die er braucht. Sie spricht vom unendlichen Wert, den in Gottes Augen jeder Mensch hat und von der Kraft zur Solidarität, die wir zu allen, die Menschenantlitz tragen, empfinden. Die liberale Theologie denkt groß vom Menschen. Sie will nichts anderes, als Menschen über ihr Menschsein zu verständigen. Damit arbeitet sie der verbreiteten Resignation entgegen. Sie bestreitet, dass wir nichts tun können. Sie behauptet, dass es auf jeden einzelnen ankommt.
Jeder und jede ist von unendlichem Wert. In dieser Botschaft sah der liberale Theologe Adolf Harnack das Zentrum des Evangeliums. Aus dem Geist liberaler Theologie heraus hat Harnack 1890 den Evangelisch-Sozialen Kongress mitbegründet, eine Initiative im Kampf für die Befreiung von Ausbeutung, Unterdrückung und Verelendung, worunter aufgrund der forcierten Industrialisierung in Deutschland weite Teile der Arbeiterschaft damals zu leiden hatten.
Die europäisch – nordamerikanisch geprägte moderne liberale Theologie hat ja schon im Titel eine gewisse Verbindung zur teologia de la liberación, der ursprünglich lateinamerikanisch geprägten Befreiungs – Theologie. Sehen Sie gemeinsame Themen und vielleicht gemeinsame Projekte für die liberale Theologie und die Befreiungs – Theologie?
Der liberalen Theologie wird ja gern vorgeworfen, sie sei eine bürgerliche Theologie, die allenfalls für eine desengagierte Freiheit des Denkens eintritt. Im Gegenzug wird der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung gern der Vorwurf gemacht, sie stehe in der Regie ideologischer Agitation. Beides ist falsch. Ich meine, dass die beiden theologischen Formationen sich keineswegs gegensätzlich zueinander verhalten, sondern voneinander profitieren können, sobald sie die tiefe Gemeinsamkeit erkennen. Beiden geht es darum, dass der christliche Glaube zur Selbstbestimmung befähigt. Sie setzten jedoch die Akzente anders und können deshalb voneinander lernen.
Die Befreiungstheologie kann von der liberalen Theologie lernen, dass die Kraft zur Befreiung aus Unterdrückungsverhältnissen in den Menschen selbst wachsen muss. Und die liberale Theologie kann von der Befreiungstheologie lernen, dass die Freiheit immer die Befreiung aus realen und oft unmenschlichen Verhältnissen der Unfreiheit einschließt. Freiheit kann nie ohne den Einsatz für die globale Gerechtigkeit wirklich werden. Das wissen sie beide, die Befreiungstheologie und die Liberale Theologie. Sobald klar wird, dass die Befreiungstheologie nicht mit sozialistischen Ideologien verklammert ist und die Liberale Theologie keine Engführung aufs bloß freiheitliche Denken betreibt, können sie an einem Strang ziehen. Dann werden sie auch gemeinsame Projekte im realen Einsatz für gerechte Verhältnisse in der globalisierten Welt entwickeln.
Copyright: Prof. Wilhelm Gräb, Berlin
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