Jesus der Mensch: Der Weisheitslehrer.

Die Alternative zu der üblichen Behauptung: „Jesus ist Gott“
Ein Hinweis von Christian Modehn am 12.7.2025

1.
Dieser Beitrag macht einen ziemlich provozierenden Vorschlag: Jesus von Nazareth sollte wieder als ein Lehrer der Weisheit wahrgenommen werden und nicht als ein Gott, wie dies jetzt – angesichts des Jubiläums des Konzils von Nizäa („1.700 Jahre Konzil von Nizäa) – laut und breit von allen Kirchenführern behauptet wird.
Damit wird in unserem Beitrag zugleich betont: Jesus von Nazareth ist ein Lehrer einer Weisheit, die universell, für alle Menschen wichtig, hilfreich und orientierend sein kann. Und dieser Jesus von Nazareth ist aus den Gesetzen und Regeln seiner ursprünglichen jüdischen Religion, seiner „Volksreligion“, hinausgewachsen. Deswegen konnte er universell geltende Einsichten und Lebensweisheiten formulieren.

2.
Unser Thema kann also vielleicht ein angeblich ewig gültiges dogmatisches Gerüste ins Wanken bringen. Denn es ist ein Unterschied, ob Jesus als Gott liturgisch verehrt, in Bittgebeten angefleht, als Wundertäter erwartet wird… oder ob er als Weisheitslehrer dringend dazu ermuntert, für Gerechtigkeit, Solidarität, Frieden, Nächstenliebe praktisch, im Handeln, einzutreten, in diesen ver – rückten politischen Verhältnissen. Denn um Menschlichkeit geht es Jesus von Nazareth, nicht um Religion, die oft genug nur als Opium des Volkes oder als Vitamin für die Herrschenden missbrauch wird.
Wie alle Beiträge des “Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin” ist auch dieser Essay ein Hinweis… der in überschaubarer Länge zum Nachdenken und Weiterfragen ermuntert.

3.
Jesus von Nazareth „nur“ als Menschen wahrzunehmen, widerspricht der offiziellen, sich selbst rechtgläubig nennenden Kirchen – Dogmatik der großen christlichen Konfessionen. „Jesus als Gott“ und dann auch als „Person“ der Trinität zu bewerten ist eine, auch von politischen Herrschern durchgesetzte Konstruktion des 4. Jahrhunderts. Und die war schon damals hoch umstritten, sie ist überholt, das wissen Theologen, zumal, wenn sie heute an das faktische Glaubensbewusstsein der noch „praktizierenden“ Christen denken. Jesus als Gott: Diese Vorstellung hat zudem zu Kampf und Ausrottung anderer Religionen (vor allem der Juden und der Muslime und der kolonisierten „Heiden“ und vieler Skeptiker und Humanisten) geführt.

4.
Die ersten Zeichnungen und Bilder Jesu von Nazareth sind in den Priscilla-Katakomben in Rom zu finden, sie wurden in der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts dort gemalt. Sie zeigen Jesus in der Gestalt eines Hirten, eines jungen Mannes, der ein Schäfchen auf seinen Schultern trägt. Bezeichnenderweise malten die ersten Christen Jesus in seiner Passion am Kreuz erst im 5. Jahrhundert. Wenn Jesus also zuallererst als „der gute Hirte“ dargestellt und verehrt wurde, dann wird damit auch die Bedeutung des Gleichnisses Jesu im Lukas-Evangelium (15,3-7) vom „guten Hirten“ anschaulich. Und dieses Bild eines menschenfreundlichen Jesus wird als Lebensorientierung empfohlen, auch angesichts des Todes, denn die Katakomben waren unterirdische Friedhöfe. (Fußnote 1)

5.
Diese Wandmalerei erinnert daran, dass Jesus von Nazareth seine Lehre, seine Weisheit und Botschaft in vielen schlichten Gleichnissen verbreitet hat. Bezeichnenderweise sind es ausschließlich weltliche Ereignisse und Erfahrungen, die Jesus dabei (in der Überlieferung der Evangelisten) in den Mittelpunkt stellt. Der international bekannte protestantische Bibelwissenschaftler Prof. Daniel Marguerat (Universität Lausanne) betont in seiner Studie „Vie et destin de Jesus de Nazareth“ (Fußnote 2): „Das Alte Testament präsentiert sehr wenige Gleichnisse. Und auch die von Rabbinen erzählten Gleichnisse sind nicht vor 70 n.Chr. entstanden. Was aber bei Jesus überrascht: Nicht weniger als 43 Gleichnisse werden Jesus in den Evangelien zugeschrieben. Das ist enorm.“ (S. 135). Ein Gleichnis, wie es Jesus erzählt, „schafft einen neuen Blick auf die Realität“ (S. 139). Mehr noch: „Das Gleichnis macht das Reich Gottes sichtbar“ (S. 143), das Reich Gottes als Ideal der Gerechtigkeit und des Friedens ist Mittelpunkt der Lehre Jesu: „Das Gleichnis Jesu gestaltet förmlich das Reich Gottes, das nicht in einem Jenseits oder in einer Zukunft sich befindet, sondern es entwickelt sich wie eine Übertreibung in der Ordnung des Alltags.“ (S. 148).

6.
Wenn die zentralen Gleichnisse Jesu so weltlich, so allgemein – menschlich sind: Wie interpretiert der Jude Jesus dann die Thora? Was unterscheidet seine Interpretation von der offiziellen jüdischen Lehre?
Der Historiker und Exeget Daniel Marguerat nennt treffende Beispiele, sie machen die Distanz Jesu von Nazareth zum Judentum seiner Zeit deutlich. (S. 162 ff.):
Jesus heilt am Sabbat, und er stützt sich dabei auf übliche, alltägliche Lebenserfahrungen seiner Zuhörer: Etwa: Als Jesus einen Mann mit einer verdorrten Hand heilt, begründet er sein Verhalten: „Wer von euch wird, wenn ihm am Sabbat sein Schaf in eine Grube fällt, es nicht sofort wieder herausziehen? Um wieviel mehr ist ein Mensch wert als ein Schaf?“ Maguerat schreibt: „Also heilt Jesus den Kranken auch am Sabbat.“ (Matthäus, 12,12.)
Die Liebe zum Nächsten und die Liebe zu Gott sind gleich viel wert (Markus, 12, 28 f.) „Es gibt keine Hierarchie zwischen den beiden Weisungen, den Nächsten und Gott zu lieben.“Und weiter: „Die Nächstenliebe ohne jede Einschränkung ist der Liebe Gott gegenüber gleichwertig, und das kann man nirgendwo anders lesen als in den Lehren Jesu“ (S. 163).
Jesu Lehre über das Reine und Unreine verändert die üblichen Vorstellungen im Judentum: Nicht der Kontakt mit einem für unrein gehaltenen Menschen ist unrein und religiös verboten, sondern das falsche Bewusstsein der sich für rein haltenden religiösen Menschen, wenn sie „Unreine“ ausgrenzen. Es geht Jesus um eine neue, eine inklusive, weite Gemeinschaft über die religiösen Gesetze hinaus „(S. 172). Zusammenfassend sagt Daniel Marguerat: „Ich zeige evident die Originalität der von Jesus praktizierten Positionen: Ebenso in seinem Verstehen des Reiches Gottes wie in seiner Interpretation der Thora.“ ( S. 174). „Das unergründliche göttliche Mitgefühl für die Menschen duldet in Jesu Augen keinen Kompromiss, besonders dann, wenn man sich auf das jüdische Gesetz stützt, um sich von den Bedürfnissen des anderen Menschen zu distanzieren. Weder der Sabbat, noch die Sorge um kultische Reinheit, noch die Heiligkeit Israels dürfen in Jesu Lehre dem Kommen des Reiches Gottes widerstehen.“ (S. 178).

7.
Im Unterschied zu den Gebeten seiner Zeitgenossen, ist das Gebet Jesu einfach und nüchtern: Selbst wenn Jesus vom Reich Gottes spricht, nennt er Gott niemals „König“. Jesus gebraucht nur einen Titel für Gott: Er ist „Vater“, auf Aramäisch nannte Jesus ihn „Abba“, „Papa“. Gott ist nicht der ferne Herrscher und Richter, sondern nur erfüllt von Mitleid und Güte und Großzügigkeit. Diesem Gott, dem Vater, „Papa“, gilt es radikal Vertrauen zu schenken. Im „Vater Unser“, DEM Gebet Jesu, fordert Jesus die Frommen auf, in ihren Bitten vor allem um eine Verbesserung des Lebens in der Welt zu beten. Von religiösen Kult und seinen Gesetzen ist keine Rede.

8.
In welcher Weise war Jesus also Jude? Diese provozierende Frage wird unseres Erachtens eher selten in christlich – theologischen Kreisen gestellt… Ausgangspunkt für diese Frage muss sein: „Jesus hat in Galiläa gelebt, vor allem dort gewirkt und gepredigt. Und erst am Ende seines Lebens ist er nach Judäa, nach Jerusalem, gezogen, „das geistige wie religiös-politische Zentrum des Judentums“, betont der katholische Theologe Prof. em. Hermann Baum (Uni Köln) in seinem Buch „Die Verfremdung Jesu und die Begründung kirchlicher Macht“ (Fußnote 3).
Galiläa ist anders als Judäa! Das ist entscheidend, um das besondere Profil Jesu von Nazareth zu verstehen: Zu Galiläa gehörten weite Teile des Sees von Genezareth. „Ein für die damalige Zeit gut ausgebautes Straßennetz erlaubte rege Handelsbeziehungen und führte damit auch zu einer offeneren Geisteshaltung der Bevölkerung.“ (S. 23). „Die Galiläer hatten den Ruf, rebellisch zu sein und zu aufrührerischen Ideen zu neigen. Hier traten in besonders auffälliger Zahl weise Männer (Chassidim) auf, die als Wanderprediger und Wunderheiler wirkten, Jesus war einer von ihnen“ (ebd.). Hermann Baum erwähnt dann das besondere Sendungsbewusstsein Jesu: Er war „aggressiv gegen die religiöse Führungsschicht (Pharisäer und Schriftgelehrte)“, er hatte „ein ambivalentes Verhalten gegenüber dem jüdischen Gesetz“ (S. 34).

9.
Als Jesus in Jerusalem ankam, besuchte er den Tempel … und distanzierte sich aufs heftigste vom Tempelkult. (Markus 11,15-18). Dabei steht gar nicht die viel besprochene Vertreibung der gierigen Händler aus dem Tempel im Mittelpunkt. Wichtiger ist, dass Jesus den Vorhof des Tempels als solchen kritisiert  – über seine Verurteilung der Händler dort hinaus – und damit die Struktur des Tempels überhaupt: im Vorhof hielten sich die Händler auf, und nur bis dorthin durften auch die Heiden den Tempel betreten: Dieser Bereich war wie eine Art Schleuse, betont Daniel Marguerat (S. 246): Weiter in den Tempel eintreten durften nur die Juden. Wer als Nicht – Jude diesen reservierten jüdischen Bezirke betrat, sollte mit dem Tode bestraft werden, so war es auf speziellen Schildern, Tafeln, vermerkt. „Die Aktion Jesu im Tempel versuchte tatsächlich, sicher symbolisch, diese Prozedur zu blockieren mit der sich die gläubigen Juden von der unreinen Welt der Heiden abgrenzten“ ( S. 247). Jesus lehrt hingegen: „Gott ist erreichbar für alle, ohne Diskriminierung.“ (Ebd.) Dieses Handeln Jesu empörte die hohen Priester und Schriftgelehrten … und sie beschlossen, Jesus, den Rebellen und Gesetzesbrecher, den Römern zu übergeben.

10.
In theologischen Publikationen der letzten Jahre wird die besondere Form des Judentums Jesu von Nazareth, durchaus mutig und zugespitzt formuliert, von Religionswissenschaftlern und Theologen, die dabei eher einen Essay, einen Denkanstoß, vorlegen, so etwa Alfons Rosenberg: Der Autor, Künstler und Religionswissenschaftler (1902-1985), hat kurz vor seinem Tod den Essay „Jesus der Mensch. Ein Fragment“ verfasst( Fußnote 4). Er will darin den „originalen Jesus“ in seiner Sicht vorstellen (S. 8). Alfons Rosenberg ist vom Judentum zum Christentum konvertiert. Seitdem ist für ihn die Erkenntnis entscheidend: Jesus ist zwar in Galiläa als Jude großgeworden, er ist also ein „Jude von Herkunft“ (S. 30). Jesus hat aber wie alle religiös authentischen Menschen auch eine religiöse und theologische „Entwicklung“ (S. 26) erlebt und ist dabei, so wörtlich, „über das Judentum hinausgewachsen“ (S.36 )und aus dem Judentum „hinausgeschritten“ (ebd.). Unter dieser Voraussetzung kann Rosenberg betonen: Jesus ist „eine Verkörperung der Fülle des Menschseins“ (S. 17). Er ist nicht mehr an seine Volksreligion und ihre Vorschriften gebunden, sondern an universeller menschlicher Weisheit interessiert. Alfons Rosenberg schreibt sehr pointiert, Jesus habe mit der „Zwangsherrschaft der Thora gebrochen“ (S. 34).
Die Frage bleibt: Aber warum haben die Autoren des Neuen Testamentes so viele Zitate aus der hebräischen Bibel auf Jesus bezogen? Die Antwort von Alfons Rosenberg: Die Evangelisten standen förmlich nach Jesu grausamen Tod unter Schock und wollten das Unerhörte der für sie wichtigen Jesusbotschaft abmildern, indem sie „diese Botschaft mit den Schriften des AT versöhnen wollten“. Sie haben Jesu Verkündigung deswegen als eine Fortsetzung der Thora propagiert. Und Alfons Rosenberg meint: Dadurch haben „die Jünger und danach die Evangelisten die freie und unabhängige Verkündigung Jesu gleichsam rejudaisiert.“ (S. 47).

11.
In seinem Essay „Quo vadis? – Das Christentum am Scheideweg zur Moderne“ entdeckt der Theologe im Dominikanerorden Dr. Richard Glöckner, Jesus von Nazareth als Weisheitslehrer. Er will die aus neuplatonischen Zeiten stammende Verehrung Jesu als des Gottes-Sohnes zurückzustellen. Und Jesus als `den` Juden einfach und undifferenziert zu bekennen, findet auch Richard Glöckner zu oberflächlich. Glöckner schreibt: Jesus lebte im Kulturraum Galiläas, „in einer religiösen Atmosphäre, die insgesamt eher heidnisch – hellenistischem und jüdisch – heterodoxem Habitus entspricht“, also anders als die orthodoxe religiöse Welt in Jerusalem. „Jesu Sprache ist durchsetzt mit Bezügen auf die Natur seiner galileischen Umwelt.“ ( S. 140)… „Gottes Fürsorge für die Menschen belegt Jesus mit Hinweisen auf den überfließenden Reichtum des Lebens in der Natur… Jesus spricht hier außerhalb der üblichen jüdisch – heilgeschichtlichen Traditionen und Vorstellungen“ (S. 144). Für ihn sind in seiner Ethik (und seinem Lebensstil) nicht „irgendwelche religiösen (jüdischen) Gebote“ zentral. Sondern: „Was für Jesus allein zählt, ist ein Handeln gemäß allgemein gültiger, menschlicher Anforderungen“ (S. 147). Deswegen betont auch Richard Glöckner: Jesus von Nazareth ist über „das“ Judentum seiner Volksreligion  „hinausgewachsen“.
Und das hat Konsequenzen: „Die Umkehr (also die Bekehrung des Menschen) im Sinne Jesu erweist sich in der Befolgung allgemein gültiger Regeln menschlichen Zusammenlebens: Hilfsbereitschaft, Ehrlichkeit und Gewaltlosigkeit“ (S. 142).
Glöckner muss eingestehen: „Diese Ansätze sind von der Kirche nicht aufgenommen und weiterentwickelt worden“ (S. 144). Denn: Jesus wurde zum Gott erklärt…Siehe die Konzilien von Nizäa und Konstantinopel im 4. Jahrhundert, LINK .

12.

Unser Thema führt weiter die Frage zu vertiefen: Welche Bedeutung hat das Judentum für Jesus von Nazareth? Und: Welche Bedeutung hat das Alte Testament – auch heute – für die Kirchen? An diese schwierigen Fragen hat sich der protestantische Theologe Professor Notger Slenczka von der Humboldt Universität Berlin gewagt. Sein Forschungs-Thema hat im Hintergrund die Arbeiten des großen protestantischen Theologen Adolph von Harnack in dem Buch „Das Wesen des Christentums“, 1899.
Notger Slenczka hat also 2013 den Aufsatz (36 Seiten) über „Die Kirche und das Kalte Testament“ veröffentlicht. (Fußnote 6). Die entscheidende Erkenntnis: Das „Alte Testament“ ist ein Zeugnis der Religion des Jüdischen Volkes, sozusagen Ausdruck der jüdischen Volksreligion. Slenczka schreibt: „Das Alte Testament ist also die Identität stiftende Urkunde einer anderen (gegenüber dem Christentum anderen) Religionsgemeinschaft. Dieses Bewusstsein der Unterscheidung von Kirche und Judentum als zweier Religionsgemeinschaften hat sich – jedenfalls in der abendländischen Christenheit – durchgesetzt und auch in der Deutung des Verhältnisses der Urchristenheit zum zeitgenössischen Judentum niedergeschlagen. Damit wird aber das Alte Testament zu einem Dokument einer Religionsgemeinschaft, die mit der Kirche nicht identisch ist.“ Und weiter: „Im Alten Testament wird es für den Christen schwierig, das alttestamentliche Gottesverhältnis als Ausdruck des Gottesverhältnisses zu lesen und zu verstehen, das ein christlich-religiöses Bewusstsein ausspricht und das der Christ in den Texten des NT wieder erkennen und begründet sehen kann.“
Wir deuten den Beitrag Slenczkas so: Damit wird das Alte Testament nicht etwa degradiert, es wird nur als eigenständiges Buch der jüdischen Volksreligion anerkannt, das als solches ja auch Impulse für ein humanes Leben der Menschheit bietet. Aber die universell gedachten Lehren des Weisheitslehrers Jesus von Nazareth sind insgesamt von weiter reichendem Anspruch. Und es ist problematisch, wenn nicht sogar übergriffig vonseiten der Christen, wenn sie bis heute die Kirche als „das NEUE VOLK GOTTES“ definieren und damit sagen: das “Alte Volk Gottes” (fast das einstige, ehemalige Volk Gottes) sind die Juden. Das Neue Volk Gottes wurde lange Zeit als das wahre Volk Gottes (die christliche Rede: „Das wahre Israel“) definiert, und das durchaus mit antisemitischem Unterton. Wenn die Kirchen die jüdische Religion als eine wertvolle, aber andere Religion anerkennen, kann vielleicht etwas mehr Friede eintreten im Umgang der Christen mit den Juden. Christen und Kirchen können Juden förmlich „in Ruhe lassen“ und als die „anderen“ respektieren und achten, weil Christen und Kirchen nicht mehr religiös mit dem Judentum absolut verklammert sind und als „Besserwisser“ des Alten Testaments auftreten müssen. Und dabei die Juden als die „störrischen“ Interpreten ihrer Bibel verachten müssen.

13.
Aber wie zu erwarten: Vom dem durchaus konstruktiven Aufsatz Notger Slenczkas haben sich etliche seiner Kollegen an der Fakultät der Humboldt – Universität am 15.4.2015 öffentlich (!) distanziert, genauso wie es auch die „Gesellschaft für christliche jüdische Zusammenarbeit“ pflichtbewusst tun musste. Diese Damen und Herren wollen offenbar nicht sehen, dass nichts Antisemitisches in den Erkenntnissen Slenczkas enthalten ist: Im Gegenteil: Seine Gedanken können, wie gesagt, die Kirchen befreien, von allen übergriffigen und anmaßenden kirchlichen Interpretationen des Alten Testaments, die ja bekanntlich jüdische Theologen sehr stören. Es interessant, dass die jüdische Theologin Prof. Hanna Liss (Heidelberg) in dem Zusammenhang betonte: „Ich finde es verwunderlich, dass die These von Slenczka eine solche Aufregung unter den Christen verursacht haben“ (Fußnote 7).

14.
Es zeigt die Bedeutung unseres Themas zu zeigen, dass selbstverständlich einige Philosophen Jesus als Weisheitslehrer gewürdigt haben und würdigen. Immanuel Kant etwa. Vor allem seine Schrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ von 1793, ist wichtig. (Fußnote 8). Wenn Kant vom Ursprung des Christentums spricht (B 190), dann bezeichnet er das Christentum „als eine völlige Verlassung“, also als einen Austritt aus dem Judentum. Kant sieht das Christentum auf einem neuen Prinzip gegründet, es bewirkt, so betont er, eine gänzliche Revolution in Glaubensdingen“ (B 190). Jesus als „der Lehrer des Evangeliums“ (B 191) setzt sich vom jüdischen Gesetzes-Glauben ab, Kant nennt ihn„Fronglauben“ (ebd., also „unterdrückenden Glauben). Jesus der Weisheitslehrer lehrt aber eine Religion, „die sich in jedem Menschen in seiner Vernunft offenbaren kann.“ (B 193 und B 255).
Jesu Weisheitslehre ist “allen Menschen durch ihre eigene Vernunft fasslich und überzeugend“. Dieser universelle Aspekt ist für Kant entscheidend. Jesus lehrt keine Religion, in der äußerlich zu erfüllende Gesetze wichtig sind, sondern eine Religion, die einzig ein moralisch gutes Leben (also in der Praxis!) fordert. (B 254). Der Hintergrund ist: Jesus ist der Lehrer der Bergpredigt: Kant betont: Jesus verwandelt dort Rache in Duldsamkeit, Haß auf Feinde in Wohltätigkeit (B 241). Und das absolute Zentrum seiner Weisheitslehre ist die Ermahnung: „Liebe Gott als den Gesetzgeber aller Pflichten (B 242), und: „Liebe jeden Menschen wie dich selbst.“ Sehr viel mehr muss eine allgemeine Vernunftreligion nicht herausstellen. Selbstverständlich haben die Kirchen diese Einsicht Kants bekämpft…

15.
Der polnische Philosoph Leszek Kolakowski hat noch als Sozialist in Polen, also vor seinem Exil in London und seinem dann starken Interesse am Christentum, Jesus von Nazareth als Weisheitslehrer vorgestellt, Kolakowski hielt 1965 den Vortrag mit dem Titel „Jesus Christus – Prophet und Reformator“. (Fußnote 9). Es ist nicht zu übersehen, dass außerhalb der dogmatischen Kirchen, im unabhängigen Denken von Philosophen, Jesus als Weisheitslehrer und „nur“ als Mensch viel Beachtung und Respekt findet. Jesus „nur“ als Weisheitslehrer oder als „Prophet und Reformator“ zu deuten: So können Menschen Orientierung, Trost und Zuversicht finden. Und zwar mit reflektierten Gründen, nicht mit Behauptungen etwa aus der Mythologie. Menschen können also in dem Menschen Jesus von Nazareth genau das wahrnehmen, was die dogmatischen Kirchen immer als “Effekt“ der Erlösung durch den Gott Jesus Christus hinstellen. Nämlich Befreiung von Egoismus, Eintreten für Gerechtigkeit, Nächstenliebe…

16.
Der aus Israel stammende Philosoph Omri Boehm ist deutlich von Kant inspiriert. Er folgt dessen Spuren und weist nachdrücklich darauf hin: Nicht die Religion mit ihren Gesetzen, auch nicht der religiös verehrte Gott, stehen für die Menschen der monotheistischen Religionen an der obersten Spitze des Respekts, sondern die universell geltende Idee der Gerechtigkeit. In seinem grundlegenden Buch „Radikaler Universalismus“ (Fußnote 10) bezieht sich Omri Boehm auf das eigenständige Verhalten Abrahams seinem fordernden und offenbar zerstörerischen Gott gegenüber: Im Mythos von Sodom und Gomorrah tritt Abraham für die Rettung einiger gerechter Menschen dort ein, um der „Gerechtigkeit Gottes willen“, der auch ER, Gott, unterstellt ist!
Und auch der Mythos, als Gott Abraham die Tötung seines Sohnes Isaac befiehlt, wird von Boehm ungewöhnlich interpretiert: Denn nicht wegen des in letzter Minute eingreifenden Engels wird die Ermordung Isaacs verhindert, sondern durch Abrahams eigene freie Entscheidung, er entdeckt nämlich das Lamm als Alternative zur Opferung seines Sohnes. Abraham handelt frei, aber ungehorsam Gott gegenüber. Gott steht unter dem universellen Prinzip der Gerechtigkeit. Gott muss sogar gerecht sein, um dem Anspruch, Gott zu sein, zu entsprechen (S. 54): „Abrahams Punkt ist, dass eine universalistische Moral nur über der Gottheit stehen kann“ (ebd). Aufgrund der universellen Gerechtigkeit (die ausnahmslos ALLEN Menschen immer gilt) ist es richtig „Gottes Autorität zu widersprechen“ (ebd.). Hier wird sozusagen die Kritik Jesu an der etablierten jüdischen Religion, ihrer Gesetze und Gebote, schon in der Abrahamas-Geschichte entdeckt.

17.
Ich erwähne nur noch den aus heutiger Sicht etwas unholfenen, aber beim Publikum damals äußerst erfolgreichen Essay des Religionswissenschaftlers Ernest Renan mit dem Titel „Vie de Jesus“ von 1863. Darin wird Jesus „entsakralisiert“, von seiner Gottheit befreit und auf eher romantische und geradezu leidenschaftliche Weise als großartiger Mensch den Menschen nahegebracht.
Ich erwähne weiter, viele werden es nicht für möglich halten, ausgerechnet Friedrich Nietzsche in dem Zusammenhang! Nietzsche, zweifellos ein äußerst heftiger Kritiker des Christentums, hielt allerdings viel von Jesus von Nazareth: Für Nietzsche „gab es nur einen Christen, und der starb am Kreuz“, so im „Antichrist“ §39. Nietzsche meint, man muss „Jesus als das wärmste Herz denken“, so in “Menschliches -Allzumenschliches“ §475. „ Jesus war ein freier Geist, denn er machte sich aus allem Festen nichts“, „Antichrist“ § 32. Jesu Botschaft lautet für Nietzsche: „Das wahre Leben, das ewige Leben, ist gefunden – es wird nicht verheißen, es ist da, es ist in euch: Das Leben in der Liebe, in der Liebe ohne Abzug und Ausschluss, ohne Distanz.“ ( Antichrist, § 29).
Das Interesse an Jesus von Nazareth „nur“ als Menschen bei kirchenkritischen Philosophen, Literaten und Künstlern wäre eine ausgebreitete Studie wert, sie könnte zeigen: Trotz der dogmatischen kirchlichen Verherrlichung Jesu als eines Gottes gibt es einen breiten Strom von Menschen, die Jesus „nur“ als Menschen einer universell interessanten Weisheitslehre verstehen. Auch die Vielfalt der Weisheitslehrer und die Bedeutung Jesu unter ihnen wäre ein eigenes Thema.

18.
Zu einigen heutige Theologen, die sich mit Mühe und oft auch auch mutig für Jesus als den Menschen und Weisheitslehrer einsetzen: Sie haben also vor allem ihre Mühe, in Jesus von Nazareth den Jesus Christus als den Gott bzw. Gottessohn bzw. als die zweite Person der göttlichen Dreifaltigkeit öffentlich zu verteidigen. Es ist also keine Frage, dass sich etwa prominente katholische Theologen als von der Kirche abhängige und von der Kirchenleitung kontrollierte Professoren der kirchlichen Dogmatik schwertun, heute den Menschen zu erklären, wie und warum denn Jesus von Nazareth nun Gott sein soll. An den prominenten katholischen Theologen Karl Rahner ist in dem Zusammenhang zu erinnern: In einem seiner vielen Beiträge zur Lehre von Jesus Christus („Christologie“ genannt) unter dem Titel „Ich glaube an Jesus Christus“ (Fußnote 11) bemüht sich Rahner in höchsten Sphären der Reflexion und Spekulation um eine schwierige Nuancierung, wenn er schreibt: „Jesus IST Gott: Diese Aussage `IST` hat einen Sinn, wie er sonst nirgends (!) in der Sprache vorkommt… Im normalen Sprachgebrauch setzt ein solches IST eine Identität.“ Und dann bemüht sich Rahner weiter, das Besondere dieser exklusiven Identität verständlich zu machen: Wir zitieren die ersten Sätze: „Hier aber ist das IST nur Einheit in bleibender Unterschiedenheit der geeinten Wirklichkeiten Gottes und der Menschen“ …usw. Nach einer langen und hoch komplizierten weiteren Reflexion muss Rahner dann aber zum Schluss zugestehen: „Vielleicht ist dies alles sehr abstrakt und mühsam…nur schwer in Begriffe zu übersetzen, zumal dies mit der Tiefe der Unsagbarkeit Gottes erfüllt ist.“ (S. 47.) Die „Tiefe der Unsagbarkeit Gottes“ trotzdem genau aussagen zu wollen, erscheint dann doch gewagt… Aber so muss nun die klassische katholische Dogmatik ablaufen, mit dem Ergebnis: Sie weiß zu viel Gott (siehe etwa das Trinitätsdogma oder da Erbsündendogma!) Und die Theologen und dogmatischen Prediger wissen auch,, dass ihre Gläubigen das Hochspekulative auch nicht verstehen, aber immer treu beteuern: „Ja ja, das glauben wir auch…“
In anderen Aufsätzen zeigt sich Rahner hingegen grundlegend nachvollziehbarer: Da ist er ganz der „anthropologische Theologe“, der in alltäglichen Lebenserfahrungen die Anwesenheit Gottes wahrnimmt, also dabei den aus dem Alltag stammenden Lehren des Weisheitslehrers Jesus von Nazareth sehr nahe kommt. Das ethisch gute Leben also ist für Rahner – Jesus folgend – der wahre Dienst an Gott: Nächstenliebe und Gottesliebe als Einheit zu verstehen ist das Zentrum des Glaubens. Rahner schreibt: „Es geht im Leben nur darum, das eine zu tun: Gott und den Nächsten zu lieben, und wir können Gott nicht anders lieben, als dass wir ihn in unserem Nächsten lieben. Dort, wo wir das tun, haben wir dann wirklich das Gesetz erfüllt (!) … Nur wenn wir begreifen, dass es eine wirklich letzte Einheit zwischen Gottes – und Nächstenliebe gibt, verstehen wir eigentlich, was das Christentum ist, und welche göttlich EINFACHE SACHE DAS CHRISTENTUM IST.“ (Hervorhebungen von C.M., Fußnote 12).

19.
Jesus als Lehrer der Weisheit – dieser Hinweis berührt nicht etwa ein bloß marginales Thema im ganzen der Theologien und der Kirchen. Nur wenn Jesus als Mensch und als universell inspirierender Lehrer von Weisheit wahrgenommen wird, als Mensch und nicht als Gott, können sich die Kirchen befreien z.B. von ihrer erstarrten Sprache ihrer Liturgien und Gottesdienste, sie können sich vor allem befreien von der bis heute üblichen, aber geradezu pervers erscheinenden Erlösungslehre: Sie behauptet: Gott hebt das durch die Erbsünde entstandene Unheil der Menschen und der Welt dadurch auf, dass er seinen eigenen Sohn (Christus, den Logos) in die Welt sendet: Und dieser Christus muss sich aufopfern, so will es Gott -„Vater“, und Jesus stirbt qualvoll am Kreuz, den „Erlösungstod“, wie es im offiziellen Katechismus der „Katholischen Kirche“ § 571, vor allem § 601 heißt…
Und dann, so muss man angesichts dieser mittelalterlichen, aber bis heute gültigen Erlösungslehre (man lese nur einmal die üblichen Kirchen-Lieder zum Karfreitag!) fragen: Ist denn die Welt und sind sie Menschen nach dieser grausamen „Theologie“ erlöst, ist nach dem qualvollen Tod von Gottes Sohn Christus alles wieder heil auf dieser Welt? Eine Antwort darauf verschweigen die Kirchen gern, die Antwort kann aber nur heißen: Nein, natürlich nicht! Denn nur die irgendwie unsichtbare, aber bloß behauptete Macht der Erbsünde ist irgendwie vernichtet, aber nur unter der Voraussetzung, die Menschen lassen sich taufen. Dann ist also – nicht spürbar, nicht wahrnehmbar – das Erbsünden – Unheil verschwunden, nicht aber die Fähigkeit der Menschen, weiterhin wie immer Böses zu tun, also zu sündigen. Der qualvolle Tod des Gottessohnes hat also nur eine nicht wahrnehmbare, nur behauptete, daher geredete Wirkung. Die mit Christus als Gottes – Sohn operierende Theologie erscheint nur wie ein ideologisches Konstrukt.
Darum noch einmal: Wird hingegen Jesus als Weisheitslehrer, „nur“ als Mensch wahrgenommen, kann er als inspirierende Person, als Vorbild vielleicht, für eine humane Lebensgestaltung respektiert und anerkannt werden: Dabei zählen dann Argumente und Einsichten, und nicht eher mysteriöse Behauptungen.

20.
Unser Thema beschäftigt selbstverständlich auch Menschen, die sich außerhalb Europas, etwa in Lateinamerika und seiner Befreiungstheologie, mit Jesus befassen. Von der Befreiungstheologie inspiriert hat der schweizerische katholische Theologe Dr. Urs Eigenmann einen ausführlichen Essay publiziert mit dem Titel „Das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit als himmlischer Kern des Irdischen“ (Fußnote 13).
Die Jesus Gemeinde der ersten zwei Jahrhunderte war in der Sicht Eigenmanns eine „nicht-religiöse Reich-Gottes-Bewegung“ (S. 154), sie war ein besonderer Humanismus, den Eigenmann etwas kompliziert einen „pauperozentrischer Humanismus“ nennt, d.h. einen Humanismus, in dem die Entwicklung der Menschenwürde der Armen und Unterdrückten vorrangig im Mittelpunkt steht. Diese Einsicht sollte sich heute durchsetzen: Jesus von Nazareth als der Initiator dieser humanistischen Bewegung: .„Jesus bezeugte also das Reich Gottes als säkular-universale, egalitär-solidarische Vision gesellschaftlichen Zusammenlebens“ (S.143). „Das letzte Kriterium zur Beurteilung eines menschlichen Lebens ist für Jesus nicht etwa das religiöse Bekenntnis dieser Person, auch nicht ihr liturgischer Vollzug …Vielmehr ist das einzige Kriterium eine solidarisch-heilend-befreiende Praxis“ (S. 145-146). Dieser Humanismus zugunsten der Armen „kann als himmlischer Kern des Irdischen bezeichnet werden.“ ( S. 150). Das Christentum als eine humanistisch fundierte religiöse Bewegung: Das ist ein weitreiches Thema. Ob es in den Kirchen noch wahrgenommen wird in ihrer dogmatischen Erstarrung? Sehr zweifelhaft, eher aussichtslos. Trotzdem kann man das Thema ja mal formulieren…

21.

Das große, seit Jahrhunderten bestehende Problem der Verkündigung der kirchlichen Dogmen in außereuropäischen Kulturen kann in diesem Beitrag  gar nicht angesprochen werden! Es geht um die Frage: Welche Bedeutung hat die Kenntnis und Übernahme des Alten Testaments und seiner durchaus objektiv vorhandenen verstörenden Ideologien (Gewalt, Rache, Umgang mit Heiden usw…) für Menschen etwa am Amazonas oder in Indien oder in Japan: Müssen Menschen, die dort Christen werden wollen, die Bücher des Alten Testaments kennen und an deren Inhalt auch als Teil ihres Glaubens annehmen? Die vernünftige Antwort kann unseren Überlegungen folgend nur Nein heißen. Die “Inkulturation” des Christentums in nicht-europäische Kulturen (“Mission” genannt, auch ein höchst problematischer Begriff im Blick auf die Kolonialismuskritik) ist ohnehin schon schwierig genug. Angesichts der heutigen Situation der Welt und aller ihrer vielfältigen Katastrophen ist es auch für Menschen im globalen Süden einzig hilfreich, Jesus als Lehrer einer humanen Weisheit vorzustellen oder seine Weisheit ins Gespräch der dortigen Kulturen zu bringen. Aber TheologInnen, für die die Bindung der Kirche an das ganze Alte Testament ungebrochen wesentlich und als unaufgebbar betrachtet wird, ist die genannte Großzügigkeit des Beiseitelegens vieler alttestamentlicher Bücher für Menschen am Amazonas etc. eher skandalös. Die Judaistin und evangelisch – reformierte Theologin Kathy Ehrensperger sagt in dem genannten Beitrag in der Herder Korrespondenz lapidar: “Die jüdische Komponente halte ich allerdings für so relevant, dass wir sie auch beim Transfer (“kirchliche Mission” ist gemeint, CM) in andere kulturelle Kontexte nicht vernachlässigen dürfen” (a.a.O, siehe Fußnote 6A). Na dann müssen Christen am Amazonas z.B. oder in Neu Delhi zunächst doch erst einmal mit der jüdischen Religionsgeschichte (Altes Testament) vertraut gemacht werden, bevor sie etwas Hilfreiches und sehr Elementares und Menschenliches vom Weisheitslehrer Jesus von Nazareth hören…Es wurde in der “Missionswissenschaft” meines Wissens nie empirisch untersucht, was denn Menschen außereuropäischer Kulturen vom Alten Testament tatsächlich verstanden haben und wichtig – hilfreich fanden? Natürlich werden Missioanre sagen, die Mythen der Hebräischen Bibel regen doch auch die mythologische Phantasie der Völker in Ghana oder Kongo an… Der große protestantische Theologe Adolph von Harnack hat schon recht, wenn er sagte: Wichtig und interessant für Christen sind Psalmen und prophetische Reden im Alten Testament.

22.
Wir plädieren für eine radikale Wende zum Menschlichen, zum Humanen, zum Menschen in den Kirchen und damit für die Zurückstellung der klerikalen, nur religiösen , nur liturgischen Kirchenwelt. Um die allseitige Förderung der Menschen, der Armen zumal, geht es, weil ihre Würde überall in Gefahr ist und die Politik in die Hände der Diktatoren gerät.
Und dieses humane Projekt wird nur gelingen, wenn das Zentrum der Kirchenlehre, und dies ist „Jesus ist Gott“, korrigiert wird, aufgehoben wird, zugunsten von: Jesus ist „nur“ Mensch und als Mensch ein Lehrer der Weisheit. Dass mit dieser begründeten, immer wieder geäußerten Forderung  fast das ganze Gebäude der Kirchenlehren umgestaltet, wenn nicht abgerissen werden muss, ist zweifelsfrei. Die Kirchen in Europa nehmen zwar Abschied von der „alten Volkskirche“, zu einer schrumpfenden Minderheitenkirche. Will die Kirche nicht zur Sekte werden, muss sie auch entschieden Abschied nehmen von der überzogenen, falschen Formel „Jesus ist Gott“.  Nein: Jesus ist ein Mensch. Und deswegen ist seine Weisheit inspirierend für Menschen, auch für Christenmenschen, die, wenn sie wollen, wie Jesus seinen Gott auch ihren Gott als ihren „Vater” bekennen und hoffentlich als solchen auch erleben.

23.
Uns hat bei unserer Reflexion ein Wort des katholischen niederländischen Theologen Edward Schillebeeckx inspiriert: „Wir müssen vernünftig Glaubende sein! Der Fundamentalismus in den Religionen, auch im Christentum, führt zum Obskurantismus, also zur geistigen Verwirrung“. (Fussnote 14).

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FUßNOTEN:

1: Johann Hinrich Claussen, „Gottesbilder. Eine Geschichte der christlichen Kunst.“ C.H.Beck Verlag, München, 2024, S. 36 ff.

2. Daniel Marguerat, „Vie et destin de Jesus de Nazareth“, Editions du Seuil, Paris, 2019. Die Übersetzungen sind von Christian Modehn, die Seitenangaben beziehen sich auf dieses Buch. Das Buch ist auch auf Deutsch erreichbar:

3. Hermann Baum, „Die Verfremdung Jesu und die Begründung kirchlicher Macht“, Düsseldorf 2006, zit. S. 36.

4. Alfons Rosenberg „Jesus der Mensch. Ein Fragment“ (Kösel -Verlag, 1986). Dass Alfons Rosenberg nicht mit Alfred Rosenberg verwechselt werden darf, bedarf eigentlich keines Hinweises.

5. Richard Glöckner, „Quo vadis? – Das Christentum am Scheideweg zur Moderne“ Lit Verlag, Münster 2023, 170 Seiten.

6. Notger Slenczka: „Die Kirche und das Alte Testament“. In: Elisabeth Gräb-Schmidt (Hrsg.): Das Alte Testament in der Theologie. Leipzig 2013, S. 83–119.

6 A: Kathy Ehrensperger, Judaistin und Ev. reformierte Theologin  an der Uni Basel,  sagt in der “Herder – Korrespondenz spezial” mit dem Titel “Jesus gegen Christus”,2025, S. 7:” Ein goßes Hindernis war der Anspruch der Kirche, Israel zu sein. Damit wurde Israel als das Volk Gottes in seiner unangetasteten Würde und Identität nicht wahrgenimmen. Das Christentum hat versucht, die Identität des Judentums zu übernehmen und dann so getan, als hätten die Juden ihre Identität damit verloren. Dieser Identitätsklau wurde erst in den letzten Jahrzehnten überhaupt wahrgenommen”:

7. Quelle: https://www.evangelisch.de/inhalte/122863/13-07-2015/die-debatte-slenczka-disputation-konstruktiv-bis-heiter

8. Immanuel Kant, „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, Hamburg 2003.
Zitiert wird nach der 2. Auflage zur Zeit von Kant, den Seitenzahlen ist deswegen ein B vorangestellt.

9. Leszek Kolakowski, „Jesus Christus – Prophet und Reformer“ in: “Marxisten und die Sache Jesu“, München 1974, dort S. 67- 84.

10. Omri Boehm, „Radikaler Universalismus“, Berlin 2022. dort S. 54.

11. Das Buch Karl Rainers ist im Benziger Verlag, 1968, erschienen dort Seite 40.

12.Karl Rahner, „Die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe“, In: „Karl Rahner Lesebuch“ hg. von Albert Raffelt, Freiburg, 2014, dort S. 408 ff.

13. Urs Eigenmann, „Das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit als himmlischer Kern des Irdischen. Das Christentum als pauperzentrischer Humanismus der Praxis“ in: „Der himmlische Kern des Irdischen“, Exodus Verlag, 2. Aufl. 2025, S. 117 – 230.

14. Zit. in „Edward Schillebeeckx im Gespräch“, Edition Exodus, Luzern, 1994, Seite 149.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

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