Warum ist es gut, gut zu sein? Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb, Berlin

Die Fragen stellte Christian Modehn

Angesichts von Hass, Gewalt und Krieg heute drängen sich elementare Fragen nach dem unaufgebbaren Humanum wie von selbst auf, diese Fragen müssen wohl um der Menschlichkeit willen viel stärker „bearbeitet“ werden. Zum Beispiel: Warum ist es für den einzelnen Menschen gut, selbst gut zu sein? Ist es denn wirklich so schwer, das Gute zu erkennen, das ja doch mehr sein muss als nur das gute Leben für mich allein?

Im Grunde meines Herzens weigere ich mich, schlecht vom Menschen zu denken. Ich habe es selbst immer wieder erlebt, ich kenne so viele Beispiele dafür, dass Menschen gut zueinander sind, bereit einander zu helfen und in schwierigen Situationen beizustehen. Das alles geschieht permanent, sobald Menschen einander wahrnehmen, als ihresgleichen, als Menschen, die Bedürfnisse haben, die aufeinander angewiesen sind, denen einen freundlicher Umgang mit einander guttut. Natürlich weiß auch ich, wozu der Mensch fähig ist. Auch mir stehen die Gräueltaten vor Augen, mit denen der Mensch seinesgleichen in die Folter- und Gaskammern getrieben hat, die Ströme von Blut, die die Menschheitsgeschichte durchziehen. Auch ich nehme die zunehmende Verrohung wahr, die die öffentliche Medienkommunikation durchzieht und bin erschrocken über den Hass, der aus den Kommentaren im Internet spricht. Ich muss aber auch zugeben, dass ich selbst zunehmend teilnahmslos reagiere auf die Nachrichten über Bombenterror und Kriegstote in Syrien, im Irak, im Jemen, an vielen Orten, ganz in der Nähe, auch in Europa. Ich bin entsetzt. Ich finde das furchtbar. Und ich empfinde die Hilflosigkeit angesichts der offensichtlichen Übermacht des Bösen.

Dennoch widerstrebt es mir zutiefst, zu sagen, so ist er eben, der Mensch, böse von Jugend auf. Als Theologe weiß ich zwar, dass bestimmte christliche Lehrtraditionen dieser Auffassung von der abgrundtiefen Sündhaftigkeit des Menschen Ausdruck gegeben haben. Aber in keiner christlichen Theologie ist die Behauptung von des Menschen Unverbesserlichkeit das letzte Wort über ihn. Christliche Theologie sieht ihn letztlich als einen solchen, der dazu bestimmt ist, jene Güte zu erlangen, die zu verwirklichen ursprünglich Gottes Absicht mit ihm war.

Vielleicht fehlt uns tatsächlich nichts mehr, als dass wir – wie Martin Luther es einmal ausgedrückt hat – nie eine Kreatur recht angesehen haben. Sobald wir das nämlich tun, sehen wir unser aller Bedürftigkeit, unsere Angewiesenheit aufeinander, dann kann es sogar geschehen, dass wir Liebe zueinander empfinden, ein Wohlwollen dem anderen gegenüber. Das ist es, was wir zur Rettung des Menschlichen brauchen, dass wir zu dem stehen, was uns als Menschen miteinander verbindet. Es ist so etwas wie eine gefühlsbasierte Einsicht in die conditio humana: dass wir endliche, begrenzte, aufeinander angewiesene Lebewesen sind. Ja, wir wissen, was gut ist. Wir wissen, dass dazu in erster Linie die Achtung voreinander und die Rücksichtnahme füreinander gehören, was Kritik, Auseinandersetzung, Streit überhaupt nicht ausschließt.

Wer die Frage stellt: Warum ist es gut, gut zu sein? erwartet als Belohnung fürs Gutsein irgendwie eine Art Glücksgefühl, eine innere Befriedigung. Aber lässt sich Gutsein durch diesen „Nützlichkeitsaspekt“ wirklich fördern?

Ich glaube wirklich, dass fast alle Menschen gut sein wollen, da fast jeder Mensch genau die eigene Bedürftigkeit und Angewiesenheit von früh auf erfährt. Insofern läuft vermutlich, wenn wir selbst Gutes tun, die Erwartung immer mit, dass wir, sofern wir selbst in Not geraten, von anderen Gutes erwarten können. Ich würde diese Erwartung von Gegenseitigkeit aber nicht als bloßes Nützlichkeitsdenken abwerten. Damit wir an unserem guten Willen festhalten und angesichts der vielen inneren und äußeren Widerstände nicht zu schnell resignieren, müssen wir den Sinn unseres Handelns unterstellen und auch auf Gegenseitigkeit rechnen können. Kein Mensch hält seinen Willen zum Guten durch, wenn er permanent die Erfahrung machen muss, dass sein Gutsein von anderen ausgenutzt wird, er selbst letztlich sogar den Schaden davon hat. Unsere Bereitschaft, anderen mit Wohlwollen und Hilfsbereitschaft zu begegnen, erlischt, wenn wir den Eindruck gewinnen müssen, dass wir in einer Welt leben, in der es total ungerecht zugeht.

 

Niemand wird rundum gut sein können oder auch nur für andere gut leben wollen. Das Misslingen des Guten, auch das Falsche und Böse, muss als Teil des menschlichen Lebens anerkannt werden. Aber das zu sehen setzt Nachdenklichkeit, Reflexion, voraus. Könnte man nicht im Anschluss an Hannah Arendt sagen: Wer gut sein will und gut leben will, muss vor allem eins leisten: nämlich nachdenken?

Wir kennen die eher verächtlich gemeinte Rede vom „Gutmenschentum“. Ich mag sie eigentlich nicht, weil sie suggeriert, es mache sich jemand, der gut sein und Gutes tun will, unlauterer Absichten verdächtig. Aber diese Redensart entspringt vermutlich der Beobachtung, dass Menschen, obwohl sie durch ihr Tun aktuell Gutes bewirken, zugleich gesellschaftliche Strukturen und Machtverhältnisse verfestigen helfen, die auf lange Sicht den betroffenen Menschen überhaupt nicht gut tun. Denken wir nur an die kritische Sicht, die wir inzwischen auf das Werk Albert Schweitzers in Lambarene oder das von Mutter Theresa in Kalkutta werfen. Dies eben deshalb, weil sie Menschen in Not zwar geholfen haben, aber gegen die kolonialen Machtstrukturen und imperialen Ausbeutungsverhältnisse, die die Mehrheit der Menschen dort weiterhin in der Armut belassen haben, in gar keiner Weise vorgegangen sind.

Unser Wille zum Tun des Guten lebt von unserem Zutrauen in die Kraft des guten Willens, die in uns ist. Aber das Vertrauen auf diese Kraft darf nicht mit politischer Blauäugigkeit einhergehen. Gerade ungerechte gesellschaftliche Strukturen und verzerrte Machtverhältnisse bringen immer auch Menschen hervor, die zur Erhaltung ihrer Macht vor nichts zurückschrecken. Umgekehrt ist es so, dass die, die aufgrund der ungerechten Strukturen und des so ungleich verteilten Reichtum ausgeschlossen und benachteiligt werden, (verständlicherweise) in Hass, Gewalt und Krieg ihre letzte Zuflucht sehen.

Die Lage ist unübersichtlich und die Verhältnisse sind kompliziert. Unser guter Wille braucht immer auch die politische Analyse, ja, das „Nachdenken“, die Abschätzung der Folgen unseres Handelns. Doch wo keine guter Wille ist und kein Zutrauen, dass es auf alle Fälle gut ist, gut sein und Gutes tun zu wollen, ist alles andere vergeblich und letztlich zu gar nichts nütze.

Copyright: Prof. Wilhelm Gräb

dia de los muertos: Das Fest der Toten in Mexiko. Ein Hinweis

Es ist heute problematisch, die Toten in Mexiko zu feiern. Tausende werden pro Jahr ermordet in einem brutalen Krieg der Banden, der Drogenbosse und der unfähigen Polizei. Journalisten sind oft die bevorzugten Opfer dieser bestialischen Mörder. Selbst katholische Priester werden erschossen, und das in einem angeblich katholischen Land. Nun wird deutlich, wie oberflächlich die religiöse Bildung ist, wenn es sie denn für die weitesten Kreise überhaupt gibt, in Mexiko, und nicht nur dort. Ein gewisser spiritueller Rettungsanker in diesem Land des Mordens ist der traditionelle Totenkult, der “Dia de los Muertos” am 1. und 2. November. Indigene Bräuche werden mit Volksritualen des Katholizismus verbunden. Diese volkstümlichen Feiern finden immer noch viel Anklang. Es ist den Religionspsychologen überlassen, das Ausmaß des “Aberglaubens” in diesen Volksfesten zu beschreiben. Der Theologe Alfons Vietmeier aus Mexiko-Stadt hat in einer Beitragsreihe über Mexiko für diese website auch über den “dia de los muertos” publiziert. Wir erinnern noch mal, wegen vielfältiger Nachfragen, an das Thema … lesen Sie diesen Beitrag und klicken hier.

Hannah Arendt – eine Propagandistin von Martin Heideggers “braunem Denken” ?

Ist Hannah Arendt gebunden an Heideggers eher braunen Denkweg?

Ein Hinweis auf ein verstörendes und inspirierende Buch von Emmanuel Faye, verfasst 2016

Ergänzung am 12.5.2020:
Es ist interessant zu beobachten, dass manche Bücher, die sich auch sehr kritisch mit dem politischen Denken Hannah Arends befassen, in Deutschland kaum wahrgenommen werden. Das gilt etwa für das in Frankreich viel beachtete, sehr umfangreiche Buch von Emmanuel Faye, “Arendt et Heidegger”. Es hat in Frankreich seit seinem Erscheinen 2016 viele Debatten gefunden. Vor allem auch einige, zum Teil polemische Ablehnungen von Philosophen und Autoren, die sich “ihre” in jeder Hinsicht vorbildliche Hanna Arendt nicht nehmen lassen wollten.
Faye will nur darauf hinweisen: Dass Hannah Arendt stark an bestimmte Denkmuster von Martin Heidegger gebunden bleibt. Und dass sich deswegen konsequenterweise fragwürdige, problematische Äußerungen finden in ihren Büchern “Über die Revolution” oder “Vita activa”. In beiden Büchern legt Emmanuel Faye Aussagen, Tendenzen, frei, die mit einem demokratischen Denken und mit einer vorbehaltlosen Anerkennung und Verteidigung der Demokratie nicht so viel zu tun haben.
In einer Stellungnahme zu einer Rezension seines Buches in der Zeitschrift “La Vie des Idées” (Paris) macht Faye auf verschiedene Erkenntnisse aufmerksam: Heidegger ist für Hannah Arendt immer eine Art “Paradigma” des Denkens. Dabei betont Faye: “Ich kritisiere nicht die Person Arendt”. Aber von ihr wurde Heidegger zu einem Meisterdenker erklärt, “aufgrund ihrer Lobeshymnen auf ihn”. Wichtiger sind noch die Hinweise Fayes zu Arendts Buch “Vita activa”, in dem sie in gewisser Weise ihre Sehnsucht äußert nach einer “aristokratischen Politik”, verbunden mit einer Kritik an “egalitären Gesellschaften”. Eine Vorliebe für den Begriff des Aristokratischen bei Hannah Arendt steht im Mittelpunkt der Kritik Fayes.

Ich war einer der ersten in Deutschland, der auf die Veröffentlichung des Buches von Emmanuel Faye reagiert hat. Als Hinweis verstanden! Hier noch einmal dieser Text, kurz nach Erscheinen von Fayes Buch. Und ich betone noch einmal: Dieser erste Hinweis sollte ein erster Anstoß zur Debatte auch in Deutschland sein. Diese kritische Debatte hat meines Wissens in Deutschland kaum stattgefunden.
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In Frankreich spricht man in diesen Tagen von einem „livre choc“ und einem „séisme intellectuel“, also einem „intellektuellen Erdbeben“: Ausgelöst hat dieses der französische Philosoph Prof. Emmanuel Faye: Er ist weltweit bekannt geworden durch seine Studien über die Verstrickungen Martin Heideggers in die Nazi-Ideologie. Dieses erste, von ihm in gewisser Weise unterstützte Erdbeben, wird in vollem Umfang nun auch bestätigt durch die Publikation der „Schwarzen Hefte“ Heideggers.
Jetzt aber steht ein zweites “Faye-Erdbeben”, womöglich noch größerer Art, bevor: Falls sich nicht ein noch Kompetenterer durch die 560 Seiten umfassende Studie Fayes so durcharbeitet, dass man zum Schluss herauskommt: Der Heidegger-Kritiker Faye hat geirrt. Es geht in der neuen „minutiös“ genannten Studie Fayes um eine globale und radikale Dekonstruktion, im Sinne von Entzauberung, wenn nicht Zerstörung, der international doch eigentlich hoch geschätzten, und kann man wohl sagen viel gelesenen und “beliebten” Philosophin und Politik-Denkerin Hannah Arendt. Sie wird jetzt in der französischen Presse (Le Monde, 7. Octobre 2016, S. 7) als „maitresse“ Heideggers tituliert. Selbst nach 1945 sei sie ihm gewogen geblieben, und zwar auch in ihrer Philosophie! Und das ist das Ergebnis der Studie von Faye. “Le Monde”-Autor Nicolas Weill nennt das umfassende Faye Buch (erschienen im Herbst 2016 bei Albin Michel, Paris) eine „unerbitterliche Anklagerede“ gegen Hannah Arendt. Die Rezensenten betonen, Faye haben alle greifbaren Ausgaben und Ausführungen Arendts gelesen, und er sei zu dem Schluss gekommen: Sie habe in zahlreichen Werken, in Andeutungen, Ausführungen und Thesen letztlich die Nazi-geprägte Philosophie Heideggers nach 1945 unterstützt. Wenn sie etwa von den umstrittenen Judenräten in den KZs spreche, dann wolle sie damit die Juden mitverantwortlich machen für ihr eigenes „Schicksal“, eine These, die Heideggers sympathisch gefunden haben soll. Eine andere These Fayes, über die “Le Monde” berichtet: Wenn Arendt Adolf Eichmann als Beispiel für die “Banalität des Bösen” wählt, dann sei ihr positives Gegenbild der „penseur par excellence Heidegger“, also Heidegger als der herausragende Denker. Eine These, mehr nicht, denke ich. Nicolas Weill schließt seinen Bericht über dieses insgesamt verstörende und beunruhigende Buch: “Es fehlen vielleicht die Nuancen, damit dieses Bild (von Hannah Arendt) vollständig sei“. Eine kurze Besprechung im „Philosophie Magazine“, Paris, (Oktober 2016) berichtet: Faye halte das Denken Hannah Arendts für „fascisante“, also faschistoid. Eine ungeheuerliche Behauptung, die jeder, der Hannah Arendts Werke liest, wohl zurückweisen wird. Ist Hannah Arendt nicht immer dem Denken des Aufklärers Kants verpflichtet gewesen? Wie aber passen etwas Kants “Kategorischer Imperativ” mit Heideggers (willkürlich wirkenden) “Seins-Geschicken” zusammen? Wie mit einem Heidegger, der sich weigerte, überhaupt eine Ethik zu denken und zu schreiben, weil eben alles “geschicklich” sei…Und überhaupt: Hannah Arendts Erkenntnis zur absoluten Notwendigkeit des Sich-selbst-Reflektierens ist ein Kontrast zu Heidegger, der offenbar ein weites Stück seines langen Lebens in der Nähe zum antisemitischem Denken sich eben NICHT selbst kritisch reflektierte!

Die Diskussion über dieses Buch Fayes hat in Deutschland meines Wissens noch nicht begonnen. Diese verstörende Studie wird hoffentlich nicht davon ablenken, nun auch noch die nazi-freundlichen Briefe Martin Heideggers an seinen Bruder Fritz gründlich zu lesen und allmählich ein Heidegger-Bild zu entwerfen, das sich der Frage stellt: Was brauchen wir von Heideggers Denken heute wirklich noch? Wie durchsetzt ist seine Philosophie von der Nazi-Ideologie und dem Antisemitismus? Dass dies überhaupt der Fall ist, wird immer deutlicher. Nun aber auch Hannah Arendt in das offenbar braune Denken Heideggers einzubeziehen und nun auch ihre aufklärerische Philosophie für faschistoid zu halten, das ist, einem ersten Eindruck der Rezensenten in Frankreich nach, wirklich schwierig, wenn nicht perfide. Der total antisemitisch “verdorbene” Heidegger soll wohl dadurch als solcher weiter etabliert werden, dass er mit seinem Denken selbst seine „maitresse“ Hannah, beeinflusste, die Jüdin, die vor dem Holocaust flüchten musste! Ein “Erdbeben”, wie Le Monde” schreibt, ist dieses Buch? Oder bloß – wieder einmal – eine französische “Intellektuellen Erregung”?

„Arendt et Heidegger. Extermination Nazi und Déstruction de la pensée“. Autor: Emmanuel Faye. Verlag: Albin Michel, Paris, 560 Seiten. 29 €.

Copyright: Christian Modehn

Den eigenen Visionen folgen – zur Inspiration für die anderen. Interview mit der Künstlerin Ursula Sax, Berlin

Die Fragen stellte Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Ursula Sax, geb. 1935 in Backnang, ist Bildende Künstlerin und Bildhauerin mit einem umfangreichen und vielgestaltigen Werk, das nicht nur Skulpturen, Abstraktes und Konstruktives umfasst, sondern etwa auch Grafiken. Sie war u.a. auch Professorin an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig wie danach, von 1993 bis 2000, an der entsprechenden Hochschule in Dresden. Heute lebt sie als freie Künstlerin wieder in Berlin. Über ihr Werk, auch mit Fotos, erschien kürzlich in der Zeitschrift „Weltkunst“ ein Beitrag, der sich als Einführung in ihr Werk gut eignet. Zur Lektüre klicken Sie bitte hier. Im Oktober 2016 stellte sich Ursula Sax einigen weiteren, grundlegenden Fragen. CM.

In einer philosophischen Gesprächsrunde diskutierten wir kürzlich mit Ihnen die Frage, wie es denn Menschen gelingen kann, an den Werten von Gerechtigkeit und Frieden unbedingt festzuhalten. Da meinten Sie, entscheidend sei für die Qualität des menschlichen Lebens, auch für KünstlerInnen, eine Vision zu haben und dieser Vision in der Lebenspraxis zu folgen. Wie beschreiben Sie Ihre Vision, also diese geschenkte Einsicht, die für ihr Schaffen als Bildhauerin inspirierend ist?

Die großen Menschen der Geschichte, die herausragenden Männer und Frauen, hatten alle eine Vision, z.B. Gandhi, die Jeanne d´Arc, Martin Luther King und viele viele andere. Sie folgten diesen ihnen vorschwebenden Ideen bedingungslos, meist zum Unverständnis ihrer Umgebung, weil sie etwas sahen und für realisierbar hielten oder wussten, einer inneren Gewissheit folgten, die die Umwelt für unmöglich hielt und die sie, gegen alle Widerstände, Stück für Stück in der äußeren Welt sichtbar umsetzten. Schiller hat in etwa gesagt, wenn man im Leben die Richtung verloren hätte, solle man sich an die Träume seiner Jugend erinnern.

Als ich mit 15 Jahren an der Kunstakademie Stuttgart anfing zu studieren, zufällig in der Bildhauervorklasse, (eigentlich wollte ich in eine Malklasse), öffnete sich für ein kurze Zeit „der Himmel“. Ich war wie neu geboren, wie der Fisch im Wasser, ich war in meinem Element, das ich bisher nicht gekannt, nicht gewusst hatte. Ich hatte unerhörte Ahnungen von der Größe des Geistes, meines Geistes.

Das war ein Quantensprung. Plötzlich war ich kompetent in vielen Dingen – wurde zu einer Autorität in der Familie. Dann verdunkelte sich das Leben allmählich wieder. Vor kurzem fiel mir diese Erfahrung wieder ein. Es war eine Initialzündung. Doch ich habe diesen Zugang wieder verloren.

Ich bin heute 81 Jahre alt und habe mir den Weg dahin in vielen Jahren neu erarbeitet, über viele Stationen und Umwege und das Erwerben von Wissen. In der Jugend konnte ich diese Dinge nicht benennen, nicht überblicken, nicht einordnen. Noch einmal Schiller: „Der gute Mensch in seinem dunklen Drange, ist sich des rechten Weges wohl bewusst.“ Die große Vision war mir nicht vergönnt, aber Ahnungen, immer wieder – immer wieder abhanden gekommen. Visionen situationsbedingt. Schillers „dunkler Drang“ ist auch etwas wie eine Vision, man muss etwas tun, ohne zu wissen, wohin es führt.

Es gibt im Künstlerberuf Gelegenheiten eine Vision zu erfahren, bezogen auf ein Projekt, hier ein Beispiel: Meine Arbeit für das Albertinum in Dresden.

Ich war aufgefordert, mir für diesen Raum etwas einfallen zu lassen. Der Direktor der Skulpturenabteilung, der mich das fragte, sagte dazu: Sie können das! (Er kennt und schätzt meine Looping-Skulptur). Das war eine Herausforderung, das wollte ich beweisen.

Die Umstände waren so unmöglich, dass mich das reizte. Als dann nach vielen Monaten mein Entwurf da war, sagten zwei meiner engsten Freunde und Berater: Das geht nicht!!!! Wenn Du meine Studentin wärst, würde ich sagen: Mädel, lass Dir etwas anderes einfallen – dieses hier geht nicht. (Beide sind Professoren). Ich habe mir das angehört und ich wusste: Das geht. „Bis zu dem Moment wo es sichtbar wird, scheint es unmöglich“. Hat einer der Visionäre gesagt.

Das war eine Vision, ich hatte das im Geiste hängen sehen. Das gab es des Öfteren – am Anfang nicht – dass ich eine Skulptur fix und fertig vor mir sah und sie nur noch ausführen musste. Früher dachte ich: Das kann doch nichts Rechtes sein, es ist doch nicht erarbeitet. Mein Verstand war kleiner und unerfahrener als mein visionärer Geist.

Ideen, Impulse, Inspirationen, Visionen, Einsichten im Kleineren, sind Wegweiser, denen wir viel zu selten nachgehen, einerlei auf welchem Gebiet. Etwas taucht auf, wir verwerfen oder ignorieren es.

Jeder Mensch ist einmalig und besitzt eine einmalige Fähigkeit, die kein anderer hat.

Wären wir nicht so unbewusst, so wüssten wir was unsere Bestimmung ist und was wir beizutragen im Stande sind. Wären wir bewusster, selbst-bewusster, so könnten wir unsere Bestimmung klar erkennen: das wäre eine Vision.

Ich habe meinen Lebenssinn – eine Künstlerin zu sein – erkannt und ihn dennoch viele Lebensstrecken lang von mir werfen wollen, weil die Verstrickung in die eigene Geschichte meine Sicht verunklarte. Der Eigensinn, das Ego, verhindern den klaren Blick.

Wir verwechseln unser reines Sein mit der Person, die wir bemüht sind der Welt vorzustellen, weil wir denken nicht gut genug zu sein, weil wir nicht glauben und wissen, dass das Höchste das uns gegeben ist unsere Einmaligkeit ist.

Wir glauben diese ursprüngliche Person sei nicht gut genug und wir vergleichen uns mit Anderen.

Gerechtigkeit und Frieden kann es auf der Menschenwelt nur geben, wenn jeder einzelne selbstbewusst zu sich selber steht und sein eigenes Potential realisiert. Seinen eigenen Visionen folgt und die Resultate dem Ganzen zur Verfügung stellt.

So entsteht der Fortschritt auf allen Gebieten. Unzählige Wissenschaftler sind Visionen gefolgt und haben Dinge erkannt, die andere nicht sehen konnten und haben so zur Entwicklung des Ganzen beigetragen.

Diese Visionen haben sich in Ihrem Werk offenbar vielfach ausgestaltet. In einem Interview mit der Zeitschrift „Weltkunst“ sagten Sie, Veränderung sei für Sie wichtig, dieses Nicht-Stehen-Bleiben: Wie sind Sie zu dieser Vielfalt in Ihrem Werk (Sandstein, Bronze, Papierarbeiten) gekommen?

Kürzlich sagte ein prominenter Kollege zu mir :“Du hast es Dir nicht leicht gemacht“. Weil ich im Gegensatz zu den meisten Kollegen immer wieder das Metier wechselte, vielmehr das Material, in dem ich gerade noch gearbeitet hatte und das die Umwelt jeweils bereit war, für mein endgültiges Medium zu halten. Das brauchte jedes Mal wieder eine Anlaufzeit, bis ich die neuen Möglichkeiten verstanden hatte. Das galt als unprofessionell. Ich hatte keine Wahl. Ich habe mir das nicht ausgedacht. Es gibt einen Zug in meinem Wesen, der mich nach einer Zeit der Kontinuität weitertreibt. Genug – was nun ? Wie ich zu der Vielfalt gekommen bin? Es ging nicht weiter. Ich musste mir eine neue Straße suchen.

Hinter diesem Ja zur Veränderung steht gewiss auch eine philosophische Haltung zum Leben insgesamt?

Das JA zur Veränderung war kein Plan von mir, es stellte sich im Lauf der Zeit heraus, dass ich so bin, dass ich dem folgen muss, auch auf anderen Gebieten. Damit konnte man nicht sehr erfolgreich sein. Galeristen und Kunsthistoriker erwarteten ein Markenprodukt, kein „Sammelsurium“.

Dass das im Abstand betrachtet ein ganz lebendiges Prinzip ist mit einer philosophischen Dimension, habe ich damals nicht übersehen.

Es bedeutete viele Krisen, Selbstzweifel, Verzweiflung.

Sie sind viel gereist, etwa auch nach Asien. Waren die Begegnungen in diesen Kulturen für Sie auch spirituell von Bedeutung? Hat sich Ihre eigene Spiritualität verändert?

Ich war immer interessiert an der Welt, am Reisen, Kennenlernen von Neuem. Ich bin keine „Wieder-Kommerin“ – selten. In den ersten Jahrzehnten waren es Neugier- und Bildungsreisen, später war ich viele Male in Indien – Rundreisen auch, aber auch regelmäßig war ich in einem Ashram in Rischikesh, bei einem powervollen Yogi, auf der  Suche nach spiritueller Unterrichtung. Da ich in meinem Elternhaus täglich die Lektüre der Bibel erlebte, interessierte ich mich, als ich mein eigenes Leben in die Hand nahm, für die anderen Religionen: Wie kann man die Dinge noch sehen, was sind die Gewissheiten der anderen Glaubenssysteme, die Ziele, die Versprechungen und wo ist der Konsens, das Verbindende, das allen Gemeinsame? Mein Fazit: Alle haben recht – im Grunde. Einmal bin ich ganz spontan von Rom aus – wo ich mich längere Zeit aufhielt – mit einer Gruppe von Pilgern zur Madonna von Medjugorie nach Bosnien gefahren. Ich bin nicht katholisch.

Wie ist Ihr Interesse gewachsen, andere Menschen zu begegnen, hörend und helfend und therapeutisch?

Mein Interesse an Psychotherapie habe ich früh entdeckt.

Ein Medizinstudent, den ich kannte, hat mir Bücher geliehen, in denen ein Psychiater Fallstudien mitteilte. Ich war fasziniert, „wie Krimis“, dachte ich. Ich war 15 Jahre alt und hatte gerade mein Studium an der Kunstakademie Stuttgart begonnen. Später habe ich verschiedenste Psychotherapien und Psychotherapeuten in Anspruch genommen, war fasziniert von der Technik Psychodrama und habe eine Ausbildung gemacht, auch noch ein paar andere Techniken hinzugenommen.

Damit habe ich dann begonnen mit Menschen zu arbeiten, was mir sehr große Freude machte. Das ist auch eine meiner Begabungen.

Wäre dies jetzt auch der Ort, vom Wert des Schwebens, des Freiseins, zu sprechen. Eine Ihrer Skulpturen in Dresden war ja ein eindringliches Zeugnis vom Schweben hoch oben im Raum. Kunst und Schweben, Kunst und Leichtigkeit, passt das gut zusammen auch für eine Bildhauerin?

Der Wert des Schwebens……….

Ich habe besonders gern immer wieder hängende Skulpturen gemacht, in Holz und in Eisen.

Hängen und Schweben sind nahe beieinander und doch nicht dasselbe. Es hat mich beglückt, dass die Dinge von oben kommen. Die einzigen Hängeobjekte, die wir im Alltag kennen, sind Lampen, Kronleuchter – Licht von oben, das ist pragmatisch, aber auch tiefsinnig. Da die Bildhauerei sonst mit Gewicht und Standfestigkeit arbeitet und eher erdverbunden ist, gefällt mir dieser Gegensatz. „Doch der Segen kommt von oben“, um noch einmal Schiller zu zitieren.

Von Ernst Barlach gibt es eine hängende oder schwebende Engelsfigur im Dom zu Güstrow. Die einzige Skulptur „in der Luft“, die ich kenne, doch sie ist nicht leicht, wie Barlach nie leicht ist.

Das Hängen gefiel mir, als ich die vor Jahrzehnten kennen lernte.

Ihre großen Skulpturen, etwa Looping in Berlin an der Avus, sind eine monumentale Raumgestaltung. Sie wollen offenbar positiven Einfluss nehmen auf den (oft so hässlichen) öffentlichen Raum?

Kunst im öffentlichen Raum hat die Aufgabe die vorgefundene Situation, die in der Regel innerstädtisch ist, zu bereichern, manchmal sogar zu retten. Sie muss ein neues Element beitragen.

Ich betrachte den Standort vom städtebaulichen Gesichtspunkt aus. Was braucht der Platz ? Welche Maße tun ihm gut ?

Beim Standort meiner Skulptur LOOPING handelt es sich um einen Unort. Es war dort für den neu gebauten (und später nie geöffneten) Messeeingang ein kleineres Kunstwerk am Aufgang ausgeschrieben.

Ich habe mir den Ort gründlich angesehen und kam zu der Überzeugung, dass diese unstädtische Gegend etwas Größeres braucht. Das ist keine Wohn- und keine Einkaufsgegend. Da sind kaum Passanten, aber viele viele Autos, die da ununterbrochen vorbei jagen. Das musste vom Auto aus erlebbar sein, also ein bestimmtes Format, eine bestimmte Ausdehnung haben.

 Was bedeutet es für Sie, wenn heute in Städten wie Berlin in rasantem Tempo Häuser hochgezogen werden und die Angst berechtigt ist, es werde eine neue Form der hässlichen, zugestellten Stadt entstehen?

Man kann und soll sich nicht gegen die Zeit stellen. Es gibt Entwicklungen, die wir bedauern, doch nicht aufhalten können. Das, was sich zeigt, ist die Wirklichkeit und die Wirklichkeit hat zunächst einmal recht. Das ist ja eine weltweite Entwicklung, überall werden in rasantem Tempo Häuser hochgezogen.

Städte verändern sich, oder verschwinden – teilweise.

In meinem Leben habe ich gesehen, wie Städte zerbombt wurden und wieder auferstanden.

In den 6oer Jahren gab es hier in Berlin eine Reihe erfolgreicher junger Architekten, die große Aufträge bekamen und ich hatte das Glück für verschiedene dieser Häuser die Kunst machen zu dürfen. Ich dachte das bleibt nun so. Inzwischen sind viele dieser Bauten wieder abgerissen, mitsamt meiner Kunst. Ohne Krieg.

Ich erfahre im Lauf meines Lebens, dass nichts von Dauer ist.

Eine ewige Bewegung – Tod und Auferstehung.

Meine Antworten sind mehr autobiografisch, weil sich lebend ergibt, was und wie es werden wird. Man hat nicht erst ein philosophisches Konzept und füllt es dann mit Leben, vielmehr ist im Nachhinein, im Abstand die philosophische Haltung sichtbar und anschaulich vor Augen.

Berlin, Oktober 2016

Copyright: Ursula Sax, Berlin.

Zu den Arbeiten von Ursula Sax über Christus: “Christus ist kein nur christliches Phänomen” klicken Sie bitte hier.

Wichtig auch:  www.werksax.de

Buchmesse und Niederlande: Religion und Literatur in Holland. Ein Beitrag von Prof. Johan Goud

Die Buchmesse in Frankfurt am Main hat in diesem Jahr die Literatur in den Niederlanden und in Flandern gewissermaßen zum Schwerpunkt gewählt. Was Religionen und Kirchen betrifft, haben die Niederlande nicht gerade den Ruf, ausgesprochen kirchengebunden und gläubig zu sein. Statistisch gesehen gilt Holland als eines der am meisten säkularisierten Länder Europas, wenn man das denn statistisch überhaupt erfassen kann. Wer schaut schon die Seele der Menschen?  Die religiöse Frage hat sich aber in ihrer ganzen Vielfalt nur verlagert, etwa auch in die Literatur und die Poesie. Ein Beitrag der Zeitschrift PUBLIK-FORUM bietet eine gute Übersicht zur Pluralität des Religiösen in der heutigen niederländischen Literatur. Autor ist Prof. em. Johan Goud, Den Haag, Theologe, Philosoph und Pastor der Remonstranten-Kirche. Den Beitrag können Sie in PUBLIK-FORUM lesen, wenn Sie hier klicken.

Zu Publik-Forum: www.publik-forum.de

Erfindet euch neu! Ein Interview zu Michel Serres.

Fragen an Dr. Hans Blersch, Mathematiker und praktischer Philosoph.

Die Fragen stellte Christian Modehn.

In unserem Salon-Gespräch im September 2016 haben Sie deutlich Ihre Sympathien für den französischen Philosophen Michel Serres geäußert. Was schätzen Sie an seinem Werk besonders? Ist es vielleicht die gelegentliche Leichtigkeit des Stils und/oder die Verbindungen, die er zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und philosophischer Reflexion vor Augen führt?

Ja, in Michel Serres Werk und vor allem in den Internet-Filmen mit ihm begegnet man dieser„gelegentlichen Leichtigkeit“ seines Stils, von der Sie sprechen. Sie ist dort überall zu spüren. Mit Leichtigkeit meine ich Einfachheit und unprätentiös vorgetragene Ideen. Nicht Seichtigkeit. Das Buch „Erfindet Euch neu!“ habe ich erst einigermaßen verstanden, als ich Serres darüber sprechen sah. Das ist ja gar nicht so schwer, was er uns in seinem Buch sagen will, dachte ich plötzlich. In den Filmen ist sein Witz, seine Freundlichkeit, seine Aufmerksamkeit, seine Freude am Denken, sein Wunsch, seine Gesprächspartner zum Denken zu verführen, ganz unübersehbar. Und was mich persönlich am meisten beruhigte, war Serres frohe Botschaft: Leute, freut Euch! Ihr braucht Euer Gehirn nicht mehr länger mit dummem Wissen vollzustopfen, denn das dumme Wissen findet Ihr heute leicht und schnell bei Google und Konsorten. Das heißt nichts anderes als: ihr könnt fast alles vergessen, was in der Schule zu lernen war. Euer Gehirn, sagt Serres, ist zum Lernen von Fakten zu schade. Benutzt es lieber zum Denken.

Wir haben uns in dem Gespräch besonders auf das Buch von Michel Serres „Petite Pucette“ konzentriert, es ist auf Deutsch mit dem Titel „Erfindet euch neu“ 2013 erschienen. Serres sieht enthusiastisch und optimistisch die Entwicklung der neuen digitalen Technologien, etwa von iPhones, facebook und Internet. Die Gefahren der Kontrolle durch die offenkundige Allmacht von Google usw. hingegen sieht er offenbar nicht. Warum ist es berechtigt, bei aller Kritik an facebook usw. dennoch die großen „Errungenschaften“ dieser neuen Medien positiv einzuschätzen?

Ganz sicher sind Serres diese Gefahren sehr wohl bewusst. Aber dieser Aspekt wurde und wird seit Orwell schon lang und breit behandelt. Warum also noch ein weiteres Lamento hinzufügen? Eine unaufhaltsame Entwicklung kann (wie z.B. der Regen) nicht wegdiskutiert werden, denn ersten brauchen wir ihn (den Regen) und zweitens kann man auch Regenschirme bauen. Den negativen Aspekten von Google, facebook und Cie. sind deren positive Aspekte entgegen zu setzen, schon allein deshalb, weil – siehe oben – das menschliche Gehirn als reiner Faktenspeicher zu schade ist.

Ist die Kritik, wenn nicht die Angst vor Google und facebook heute wirklich vergleichbar der alten Angst früher vor Erfindungen, etwa der Eisenbahn im 19. Jahrhundert? Oder ist den Bürgern (und den Politikern) die Beeinflussung von Google und facebook längst entglitten?

Zweimal ja: Angst vor Veränderungen gab es schon immer. Immer denken wir, dass sich alles zum Schlimmen hin verändert. Aber sehen Sie heute noch einen Grund etwa weiterhin zu Pferd oder mit der Postkutsche zu reisen? Statt mit der Bahn? Neue Entwicklungen erkennen wir erst dann, wenn sie sich durchgesetzt haben und schon längst nicht mehr vermeidbar sind. Als mein Sohn mir vor zwanzig Jahren ganz stolz sein erstes Handy vorführte, dachte ich im Stillen „dieser Unsinn wird schnell wieder vergehen“. Was dachten wohl die Erzähler der Odyssee, als die Schrift erfunden worden war? Was die katholische Kirche, als klar wurde, dass zusammen mit dem Buchdruck die Möglichkeit eröffnet wurde, den Mönchen die Bibeln aus der Hand zu nehmen und jedem einzelnen Gläubigen zum Studium zu überlassen? (Luther soll angeblich gesagt haben: „Mit der Bibel in der Hand, kann jeder Mensch Papst sein“.)

Das Buch „Erfindet euch neu“ hat den Untertitel „Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation“. Serres will als ein Alter (jetzt 86 Jahre) offenbar die jungen Menschen ermuntern, neu mit den neuen Medien umzugehen, um anders zu leben. Was müsste da geschehen?

Ich weiß nicht, ob die vernetzten jungen Menschen eine Liebeserklärung benötigen. Denken sie nicht eher: lasst uns unseren Weg finden, auch wenn er noch nicht klar zu sehen ist? Sicher ist nur, dass wir auf den alten Wegen nicht weiter kommen werden. In der französischen Fassung übrigens steht als Untertitel: „Die Welt hat sich so sehr verändert, dass die Jungen alles neu erfinden müssen: Neue Weisen des Zusammenlebens,neue Einrichtungen, neue Arten des Seins, des Erkennens“. Das heißt, jetzt geht es um Patchworkfamilien, Globalisierung, Kampf um Ressourcen, Erderwärmung, Hunger und Gentechnik. „Umdenken Mister – Umdenken Mister“, sang F.J. Degenhardt schon vor 50 Jahren.

„Erfindet euch neu“ könnte ja auch als Aufforderung an die „Alten“ gemeint sein, sich neu zu erfinden. Was müsste da geschehen?

Woran erkennt man die Alten, wenn nicht an ihren Schwierigkeiten, sich neu zu erfinden? Die Alten müssten zunächst ein Verständnis finden für die Neuerungen, die es im Laufe ihres eigenen Lebens gegeben hat und auf welche Weise sich die Neuerungen damals durchgesetzt haben. Plötzlich gab es in den 60er Jahren in allen Familien Telefon und Fernseher, obwohl sich das zehn Jahre vorher niemand vorstellen konnte. Die Alten können ihre Lebenserfahrungen einbringen und sollten – wie früher – weiterhin für eine bessere Welt kämpfen und dabei offen und neugierig bleiben. Egal aber, wie wir Alten uns verhalten: die Zeit ist schon im Begriff, uns sachte und unaufhaltsam aus dem Weg zu räumen, das wenigstens ändert sich nicht. Eines Tages wird auch ein Herr Zuckerberg die Welt nicht mehr verstehen. Facebook? werden dann die jungen Leute lachen, wer von euch weiß, was das mal war?

Die Vielfalt der Publikationen von Serres (bis 2015 mehr als 60 Buch-Titel!) zeigt nicht nur die Universalität seines Denkens, sondern eben neue essayistische Formen des Philosophierens. Inwiefern macht Serres Mut, sich selbst auf den Weg des Philosophierens zu begeben?

Immer mehr denke ich, dass Poesie und Musik die eigentlichen Medien der Philosophie sind, viel mehr jedenfalls, als streng logische Ableitungen. Obwohl Serres Mathematik studiert hat, tauchen sehr lyrische und unerwartete Bilder bei ihm auf. Wenn ich mir die 60 Titel seiner Bücher ansehe, staune ich: das alles soll Philosophie sein? Serres fordert uns mit dieser Vielfalt auf, das zu überdenken, was uns unmittelbar berührt und zu Fragen anregt. Etiketten, sagt er, sind für Leute, die zu faul sind zum Denken. Unsere Geschichtschreibung hatte und hat immer noch nur einen Mittelpunkt, sagt Serres: den oder die Menschen. Ist das nicht ein schrecklicher Narzissmus? Müssten nicht auch Tiere, Pflanzen, Organismen in geschichtliche Studien einbezogen werden?

In einem gerade erschienen Buch – Hergé mon ami – beschäftigt Serres sich mit Tintin (Tim und Struppi) und den in diesen Kindergeschichten enthaltenen Metaphern und Archetypen: dem cholerischen Säufer Haddock und seinem moralisch einwandfreien Freund, dem Musterknaben Tintin, dem zerstreuten Professor Tournesol, dem Spießer Seraphin Lampion, der sich durch keine Beleidigung aus der Fassung bringen lässt, den Polizeizwillingen Dupond und Dupont, die so redundant sind, dass einer von ihnen genügt hätte, und die aus purem Pflichtbewusstsein nicht davor zurückschrecken, auch Freunde zu verhaften, der exzentrischen Operndiva Castafiore usw. In Wirklichkeit, so Serres, haben wir es in diesen Comics mit einer klassischen „Comédie humaine“ zu tun.

Hergé mon ami offenbart meine kindliche Verzauberung, meine Jugendträume und meine Altersmeditationen“. Also sprach Michel Serres.

copyright: Hans Blersch, Berlin.

Leibniz – ein Denker für die Gegenwart? Ein religionsphilosophischer SALON zum Welttag der Philosophie

Im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin im November 2016 wollen wir uns auf einige wichtige Aspekte des universal gebildeten Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz kritisch einlassen. Die Veranstaltung findet am FREITAG, 18. November 2916 um 19 Uhr in der Galerie Fantom, Hektorstr. 9 in Wilmersdorf statt. Herzliche Einladung. Weitere Infos folgen.