Annie Ernaux: Ihre Spiritualität, ihr Glaube und ihr Unglaube…

… Annie Ernaux und der Katholizismus.
Ein Hinweis von Christian Modehn.

1.
Annie Ernaux hat den Literaturnobelpreis 2022 erhalten. In Frankreich werden ihre Arbeiten schon seit längerer Zeit nicht nur gelesen, sondern auch vielfach kritisch untersucht. Ihre Werke erscheinen bei Gallimard, eine Auszeichnung! Zur Geschichte von Annie Ernaux gehört auch zweifelsfrei, wie sie selbst schreibt, ihre Verbindung mit der katholischen Kirche seit der Kindheit. Ihre Ausbildung erhielt sie bei Nonnen in Yvetot; als sie in Rouen an der Universität studierte, wohnte sie in einem Wohnheim der Nonnen. Ihre Verbundenheit mit Kirche, Religion und Spiritualität ist also kein Nebenthema im Werk der Autorin. Ein Mittelpunkt ihrer Bücher bleibt die Darstellung der französischen Gesellschaft radikal aus der Sicht einer Frau, die aus „einfachen Verhältnissen“ kommt, für die Rechte der Frauen kämpft, die beruflichen Erfolg hat… und den totalen Konsum heute heftig attackiert.

2.
Es ist für deutsche Verhältnisse schon erstaunlich: Als bekannt wurde, dass Annie Ernaux den Literaturnobelpreis erhält, nahm sogar ein ziemlich prominenter katholischer Erzbischof, Pascal Wintzer von Poitiers, Stellung: In der katholischen Tageszeitung „La Croix“ (Paris) am 6.10.2022 sowie auch zuvor in der Presse des Bistums Poitiers. Nun ausgerechnet einen Bischof als einen Literaturkritiker zu erwähnen, soll hier nur bedeuten, dass der hohe Klerus in Frankreich sich offenbar nicht nur permanent mit sich selbst beschäftigen muss, vor allem wegen des sexuellen Missbrauchs auch in den eigenen bischöflichen Reihen. Pascal Wintzer, Jahrgang 1959, wurde wie Ernaux in der Normandie geboren, als bischöflichen Wahlspruch wählte er: „Löscht den Geist nicht aus“. Wintzer schreibt in dem genannten Artikel: „In ihren Büchern gebraucht Annie Ernaux eine direkte Sprache, oft roh, geradeheraus („cru“). Es geht ihr darum, eine Sprache abzuwehren, die von dem Realen, Wirklichen, distanziert oder die (nur) den sozialen Abstieg betont. Sondern Ernaux bevorzugt eine „écriture plate“, eine flache Schreibweise, also einfache Worte aus dem Alltag und von jedermann, diese Worte verlangen keine abstrakte Hermeneutik“.
Dann erinnert der Bischof weiter an das Buch „L` Evénement“ (veröffentlicht 2000), in dem Annie Ernaux auch von einer Beichte spricht, in der sie ihre Abtreibung dem Priester bekennt. “Ich fühlte mich im Licht, in der Wahrheit („dans la lumière“), für den Priester war ich eine Verbrecherin. Als ich die Kirche verließ, wusste ich, dass die Zeit der Religion für mich vorbei war“. (Übers. C.M.) Der katholische Bischof beendet seine Würdigung des Werkes Annie Ernaux`: „Sie ist eine kämpferische Schriftstellerin, sie kann Ablehnung hervorrufen, sie hat Verleumder; mir scheint indessen, dass sie eine der großen französischen Autoren der Gegenwart ist – damit drücke ich meine normannische Solidarität vielleicht auch aus – … Sie spricht zu den Frauen; sie kann die Männer über die Frauen aufklären (éclairer à leur propos“)“. Nebenbei: Erzbischof Wintzer hatte schon wohlwollend kritisch das Werk des Schriftstellers Michel Houellebecq gewürdigt. LINK

3.
Annie Ernaux beschreibt nicht nur ihren individuellen Abschied von der Religion., d.h von der katholischen Kirche in ihrem „Hauptwerk“ genannten Buch „Les années“. Erschienen ist dieses Buch 2008 in Frankreich, seit 2017 liegt eine deutsche Übersetzung vor. Ernaux` Erinnerungen und Einschätzungen des Katholizismus Anfang und Mitte der neunzehnhundertachtziger Jahre sind etwas ausführlicher (in der Suhrkamp Ausgabe S. 161 f.) Annie Ernaux beginnt mit dem klaren und soziologisch treffenden Urteil: „Der Katholizismus verschwand aus dem Alltag. In den Familien wurden Bibelkenntnisse und die religiösen Bräuche nicht mehr überliefert. Man benötigte die Religion nicht mehr, um die eigene Rechtschaffenheit unter Beweis zu stellen und so blieb außer ein paar Ritualen nichts von ihr übrig… Außerhalb des Philosophieunterrichts konnte man nicht mehr ernsthaft über Gott und den Glauben diskutieren“. Wenn Ernaux von Religion/Katholizismus spricht, tritt sie, so sagt sie, „ins Museum unserer Kindheit“ ein (S. 223). Geblieben ist ihr trotz allem „eine Vorliebe für Bach und Kirchenmusik“ (S. 186).
Und Annie Ernaux fügt als gute Beobachterin und Gesellschaftskritikerin hinzu: Es gab 1984 bekanntlich große, man möchte sagen, gewaltige Demonstrationen für den Erhalt der katholischen Privatschulen. Ernaux kommentiert sehr zutreffend … und ihre Worte gelten auch für die Verteidiger der konfessionellen Privatschulen in Deutschland und anderswo: „Nicht der Glaube trieb die Eltern auf die Straße, sondern die weltliche Überzeugung, sie hätten ein Produkt (katholische Privatschule) erworben, das den Erfolg ihrer Kinder garantierte“ (S. 162).
Annie Ernaux kennt die katholische Kirche genau: Sie wurde von ihrer Familie, besonders der Mutter, kirchlich unterwiesen, die werktags zur Abendmesse geht (S. 104). „Der Kirchenkodex stand über allem“ (S. 46), sie erwähnt Wallfahrten (S. 25), sie spricht von der Erstkommunion (S. 46), nennt einen in Frankreich durchaus zurecht berühmten Jesuiten, Père Michel Riquet, (S. 38), sie beklagt die eher rassistisch gefärbten Unterweisung zum Islam (S. 46).
Schon in der Einführung zum Buch „Les Années“ betont sie, dass der Verlust der Religion für den einzelnen wie für die Gesellschaft nicht umstandslos Ausdruck eines „Fortschritts“ sein kann. Sie schreibt ganz Anfang, in dieser „Einleitung“: „Der Welt fehlt es am Glauben an eine transzendentale Wahrheit“ (S. 17). Wahrscheinlich könnte eine lebendige, z.B. nicht-frauenfeindliche Religion wie der Katholizismus, einen Beitrag leisten, die totale Konsumwelt einzuschränken, die Ernaux in „Les Années“ heftigst beklagt.
Man lese nur ihre Einschätzung des kommerzialisierten Weihnachten und die dabei sichtbare völlige Hilflosigkeit der Kirche, Weihnachen prägend spirituell zu gestalten: „Weihnachten war ein Fest voller Verlangen auf Dinge und Hass auf Dinge, „der jährliche Höhepunkt des Konsums … als wäre man zum Geldausgeben verpflichtet, als müsse man irgendeinem Gott ein Opfer bringen und am Ende ließ man sich doch darauf ein, Weihnachten zu feiern…“ (S. 240). Es war unmöglich „dem Würgegriff durch den höchsten Feiertag Weihnachten, zu entkommen. Wenn man daran dachte, hatte man Lust, im November einzuschlafen und Anfang des nächsten Jahres wieder aufzuwachen“ (ebd.)
Etwas kryptisch bleiben ihre Worte, wenn sie an die Auseinandersetzungen mit dem Islamismus denkt: „Die Religion war zurück, aber es war nicht mehr unsere, nicht die, an die man nicht mehr glaubte, die man nicht weitergegeben hatte und die letztlich die einzig richtige war, oder wenn man so wollte die beste…“ (S. 223).

4.
Ihre eigene Geschichte, auch ihren Abschied vom Katholizismus, deutet Ernaux als typisch für die heutigen Menschen, die Frauen zumal. Entscheidend ist für Ernaux: Die Kirche bestimmt nicht mehr das Denken über die Sexualität, sie bestimmt nicht mehr die Praxis der Sexualität, „der Bauch der Frauen ist von der Herrschaft der Kirche befreit. Die Kirche hat ihr wichtigstes Aktionsfeld, die Herrschaft über die Sexualität, verloren. Dadurch hat sie alles verloren“ (Gallimard, Quarto, P. 1025). Das weiß Rom, und deswegen führt der Vatikan den sinnlosen Kampf, irgendwie noch die allerletzte Bastion, die Vorherrschaft über die Sexualität zu behalten, etwa im Verbot der Ehe für Homosexuelle oder wenigstens der Segnung von homosexuellen Paaren. Sehr gern segnet der katholische Klerus seit Jahrzehnten hingegen Autos, Pferde, Handys, natürlich auch Waffen, darauf hat der religionsphilosophische Salon schon vor Jahren hingewiesen, Erzbischof Heße aus Hamburg hat sogar ein Walross im Zoo gesegnet. Zu Erzbischof Heße: LINK.

5.
Ihre bleibende Spiritualität – außerhalb der Kirchen – deutet Annie Ernaux an: Sie wollte mit dem Buch („Les Années) „ihren Beitrag zur Revolte leisten. Von diesem Vorhaben ist sie zwar nicht abgerückt, aber mittlerweile ist es ihr wichtiger, das Licht einzufangen, das jetzt auf unsichtbare Gesichter fällt…ein Licht, das schon in den Erzählungen ihrer Kindheit da gewesen war…“(S. 254).
Das Licht“ einfangen“, es bewahren, sich an das Licht halten…la lumière, dieses große französische Wort, das nicht nur (philosophische) Aufklärung und philosophische Kritik bedeutet, sondern eben hier auch „Licht, das bleibt“, „Licht, in dem wir stehen und leben“. Als Gabe (vom wem?) sozusagen.

6.
Aber es wäre natürlich viel zu einschränkend, die Spiritualität von Annie Ernaux nur in einem explizit religiösen oder gar dogmatischen Zusammenhang zu bedenken. Man muss sagen: Ihre Spiritualität ist ihr Eintreten als Schriftstellerin für die Rechte und die Würde der Frauen vor allem. Und ihr Kampf gegen die bornierte Männer-Welt IST geistvoll, also spirituell. Und darin zeigt sich Ernaux` umfassender sozialer Humanismus: Als trotzige geistige Haltung, die sich als letztlich dann doch hilflose Kritik des Konsumismus äußert, aber auch in ihrer Sehnsucht nach den gelungenen Feiern im Kreis der Familie, dem gemeinsamen Essen, dem Sprechen und Reden und Streite und eben auch der vielen banalen Worte, auch der Langeweile, die bei solchen Familienfeiern bekanntlich nahezu üblich sind.

7.
Zum Schluss ein politischer Hinweis: Anders als viele führende PolitikerInnen, auch in Deutschland, erkannte Annie Ernaux schon beim Schreiben von „Les Années“ (also in den Jahren 2006, 2007, veröffentlicht wurde das Buch 2008) den wahren Charakter von Wladimir Putin. Sie nennt ihn (S. 219) einen „kleinen, eiskalten Mann mit undurchschaubaren Ehrgeiz“, „sie blickt jetzt nur noch mit Verzweiflung auf Russland“. Eine kluge vorausschauende Einschätzung, die man sich von angeblich kompetenten Politikerinnen Europas gewünscht hätte, sie haben aus ökonomischen Gründen Putins Sprüchen geglaubt… und preisen ihn gar im Zustand geistiger Verwirrung als einen „lupenreinen Demokraten“ bis heute. Und diese „Verwirrten“ werden dafür nicht bestraft…

Annie Ernaux, “Die Jahre”. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp Verlag, 2022 (7.Auflage), 256 Seiten, 11€

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.