Hinweise zum „Marquis de Sade“
Von Christian Modehn
Haben die grausamen und bösen Herrscher heute, die sich Politiker nennen und als solche auch in der internationalen Gemeinschaft behandelt werden, haben diese Herren also de Sade gelesen? Wahrscheinlich nicht. Aber sie handeln wie der Marquis aus dem 18. Jahrhundert: Er hat offenbar in seinen Texten seelische Dimensionen freigelegt, die nicht nur ihn allein betreffen, sondern eben auch andere Menschen, Herrscher, Übermenschen, Halbgötter. Angesichts der bestialischen Brutalität so vieler, etwa in Syrien jetzt, in Yemen, im Südsudan oder am Kongo usw., von der indirekten Grausamkeit der Waffenproduzenten usw. ganz zu schweigen, ist eine Reflexion auf die (viel beachtete) Schriftstellerei des Marquis de Sade vielleicht hilfreich. Denn Hintergrund seiner grausamen Lebenspraxis und “Philosophie” ist die Erfahrung der total bösen Welt bzw. Natur und dem entsprechend: die Erfahrung eines Gottes, der selbst grausam ist. Und was tun solche Menschen, die solches erleben und meinen erkannt zu haben, etwa als Herrscher und Dikatoren: Sie folgen eben dieser bösen Natur, diesem bösen Gott, diesem göttlichen Bösen … und gerieren sich selbst grausam. Wie Diktatoren und gewalttätige Herrscher das göttlich empfundene Böse verehren, wäre ein eigenes Thema.
Aufgrund zahlreicher Diskussionen im Religionsphilosophischen Salon Berlin wird hier noch einmal ein Text über de Sade vorgestellt und zur Diskussion empfohlen, verfasst Ende 2014.
Vor 200 Jahren, am 2. Dezember 1814, ist der Marquis Donatien Alphonse François de Sade im Alter von 74 Jahren im Hospiz zu Charenton gestorben.
Für den „Religionsphilosophischen Salon Berlin“ ein Anlass, an den sich Philosophen nennenden Schriftsteller und sein umfangreiches Werk zu erinnern: „Sein Angriff auf Gott übertrifft an Unerbittlichkeit alles Dagewesene“, so die Philosophin Susan Neiman in ihrem Buch „Das Böse denken“ (Suhrkamp Verlag, 2006, Seite 286). De Sades Werk (und sein Leben) können – wenn man denn sehr starke Nerven hat – Einsichten gewähren in die widerwärtigsten Aspekte und Abgründe der menschlichen Existenz. „Sade wollte, dass seine Leser (durch die geschilderte Flut von Schreckensbildern,CM) leiden“ (S. 259). „Für diesen Philosophen haben sogar deskriptive Schilderungen normative Kraft“ (S. 262). Und diese Beschreibungen sind fast immer ausführliche Darstellungen von Qualen und Leiden, die Herrenmenschen, Männer, gelegentlich auch Frauen (Juliette usw) unschuldigen Opfern der eigenen Lust wegen antun. De Sade kennt absolut kein Mitleid, keine Empathie; die Protagonisten seiner umfangreichen Texte töten und zerfleischen z.B. ihre eigenen Kinder, aus dem einzigen Grund, „ihre Orgasmen zu steigern“, betont Susan Neiman (ebd.).
Interessant und weiter zu diskutieren ist ein Hinweis zur aktuellen Bedeutung des „Philosophen“, den jetzt der de Sade Biograph, der Historiker Prof. Volker Reinhardt mitteilt: „Mit dem Grauen der nationalsozialistischen Konzentrationslager und der stalinistischen Gulags … gewannen die de Sadeschen Visionen einer entmenschlichten Welt unheilvolle Aktualität. Ähnlichkeiten zwischen den Folterschlössern seiner Romane und den Vernichtungslagern der SS traten im Licht der historischen Erfahrung gespenstisch hervor. In Auschwitz wie in Silling (einem der Lust-Folterorte de Sades, CM) galt das Töten wehrloser Opfer als verdienstvolle Tat, der ein höherer Befehl zugrunde lag. Für die „Libertins“ (also jene sich absolut frei=unverantwortlich fühlenden „Philosophen“ des 18. Jahrhunderts CM) in den Werken de Sades war es der Wille der Natur, der die Schwachen ausgelöscht sehen wollte“ (Volker Reinhardt, De Sade. C.H. Beck Verlag München 2014, S 414f).
„Die Natur“ deutet de Sade als System allgemeiner Unordnung, Brutalität und Ungerechtigkeit. Es gibt für ihn keinen göttlichen Plan im Ganzen der Welt. Die einst religiös verklärte „Vorsehung“ (also das Gelenktsein der Welt durch einen guten Gott auch in allen Schicksalsschlägen) wird nun „barbarisch“ (siehe S. Neiman, S. 275) genannt. In einer solchen sinnlosen wie grausamen Welt/Natur, meint de Sade, sei es für den gebildeten Menschen nur konsequent, dieser Natur eben zu entsprechen und also seinerseits grausam zu leben und zu handeln. Brutalsein heißt also nur Natürlichsein in dieser oberflächlichen „Philosophie“. In einer eigentlich bösen Schöpfung ist es sozusagen das Beste, wenn der Mensch böse handelt. Dass dabei nur die Wahnvorstellungen einer kleinen Clique von absoluten Herrschern und Herrenmenschen bedient werden, kann de Sade nicht wahrnehmen. Mir scheint, er kann seinen eigenen hermeneutischen Standpunkt nicht reflektieren; das ist ein entscheidender Mangel für einen, der sich Philosoph nennt.
Georges Minois fasst in seiner umfangreichen Studie “Geschichte des Atheismus” (Weimar 2000, S. 443) dieses besondere Profil des Schriftstellers de Sade zusammen: “Das Abgleiten zur Moral des Übermenschen ist hier offenkundig, jedoch mit jenem =sadistischen= Akzent, bei dem das individuelle Glück im Unglück der anderen besteht. Der Mensch, der mit der Natur im Einlang lebt, ist der böse Mensch. Es ist die Natur, die die Verbrecher hervorbringt”.
Wenn man aber noch –traditionsbedingt – die Natur/Welt für eine Schöpfung Gottes hält, dann muss man – so de Sade – selbst Gott für eine „ungebrochen bösartige Macht“ (so die Interpretation von Susan Neiman) halten. De Sade schreibt: Ein solches göttliches Wesen muss „äußerst rachsüchtig, barbarisch, ungerecht und grausam sein … grausamer noch als jeder Sterbliche (Zit. von Susan Neimann, S. 283). Der Gott de Sades ist ein grausamer Gott. De Sade lässt über seinen Protagonisten Saint Fonds den Gott sagen: „Hat euch das immer wiederkehrende Unheil, mit dem Ich das Universum überflute, nicht davon überzeugt, dass ich einzig Aufruhr und Chaos liebe und ihr mir nacheifern müsst, um mir zu gefallen“ (zit in S. Neiman, S. 285).
Der „Philosoph“ de Sade lehnt Gott total ab, ist aber doch bereit, diesem grausamen sozusagen „atheistisch fromm“ zu entsprechen: Indem er – in seiner Praxis und schlimmer noch in seinen unerträglichen Texten – selbst grausam wird.
Wenn sich die Frage nach der Geltung von Tugenden und ethisch gutem Leben stellt, so bietet de Sade eine – es sei erlaubt dies zu sagen – eine postmoderne Antwort: „Tugend und Laster sind einzig eine Frage der Sitten und Gebräuche eines Landes, nichts anderes“ (interpretiert Susan Neiman diese Überzeugung de Sades, S. 279). Noch einmal: „Tugend und Laster sind lediglich eine Sache der Meinung und der Geographie“ (S. 278). Bei dieser total gewollten und behaupteten (!) Relativität gibt es also keinen verpflichtenden Grund, selbst tugendhaft zu sein, im Gegenteil: Bei dem bösen Gott und der ohnehin grausamen Natur soll der Herrenmensch bitte schön seinerseits grausam sein. Das ist seine wahre Tugend. „Juliette (die grausame Protagonistin eines der berühmten Romane) vergottet die Sünde“ (S. 282).
Dass die Welt insgesamt von Grausamkeit geprägt ist, bedarf keiner Verdeutlichung, wenn es um eine bloße Phänomenbeschreibung geht. Bei de Sade kommt eine neue Dimension hinzu: Die letztlich totale Zerstörung selbst wird als Projekt und als Ziel behauptet. Und in der grausamen Zerstörung wollen bestimmte Herrenmenschen noch ihre letzte Lust erleben. Und dieser Aspekt interessiert die Menschen. „Wie jedem großem Verbrecher gelingt es de Sade, uns durch sein Werk zu faszinieren, und es sieht nicht so aus, als würde es an Anziehungskraft verlieren“ (S. 286).
Interessant ist, dass die Philosophin Susan Neiman de Sade mutig einen „großen Verbrecher“ nennt. Dem stimmen einige französische Schriftsteller und Künstler überhaupt nicht zu. Volker Reinhardt skizziert im Schlusskapitel seiner genannten, umfangreichen Studie von 2014 einen breiten Strom von französischen Autoren (Nietzsche kannte den Marquis offenbar nicht. Volker Reinhardt weist auf durchaus inhaltlich ähnliche Perspektiven hin).
Diese französischen Schriftsteller gehören, voller Wohlwollen und Sympathie für den Marquis, zur positiven Wirkungsgeschichte des „großen Verbrechers“ (Neiman). Allein die Tatsache erweckt schon Erstaunen, dass die Werke de Sades in der berühmten „Bibiothèque de la Pléiade“ (im durchaus „berühmten“ und hochangesehenen Verlag Gallimard, Paris) vorliegt, sozusagen neben den Werken von André Malraux und Milan Kundera steht. Darf man fragen, ob dorthin de Sade gehört? Aber etliche große Autoren wie Baudelaire, Apollinaire, Bréton usw. haben de Sade als Helden der Freiheit und Emanzipation gefeiert und von dem „guten Menschen de Sade“ allen Ernstes gesprochen. Selbst Albert Camus, sonst kritisch gegenüber Gewaltideologien wie dem Stalinismus, wollte de Sade „Ehre erweisen“. Viele die sich mit diesem gewalttätigen „Philosophen“ befasst haben, sagt Volker Reinhardt (S. 392) „haben seine (de Sades) Sprache und Ideen entschärft, indem sie ihn für ihre eigenen Vorstellungswelten und Theorien vereinnahmt haben“ Reinhardt spricht sicher zu Recht bei diesen von Sympathien für de Sade dahinschmelzenden Autoren von „selektiver Lektüre und der „Kunst des zielgerichteten Weglassens“ (ebd.).
Der Historiker Volker Reinhardt hat zweifelsfrei recht, wenn er nicht als Moralapostel auftritt, sondern den Menschen de Sade und sein Werk verstehen will. Sicher sind die entsetzlichen Dimensionen, die er beschreibt, doch Teil der menschlichen Psyche. Und wer verstehen will, muss auch die historischen Umstände seiner Zeit, auch der früheren Zeit der Kirche, verstehen: Haben wir vergessen, wie der Dominikanermönch Las Casas voller Abscheu die Morde an den „Indianern“ durch die spanischen Eroberer, allesamt strenge Katholiken, beschreibt? Haben wir vergessen, wie die Opfer der Inquisition nach langem Foltern auf den Scheiterhaufen verbrannt wurden? Über erotische Empfindungen der Henker ist dabei kaum die Rede. Dies ist der Unterschied zu de Sade. Er erlebte einen Staat und eine Kirche, die voller Lüge und voller Gewalt waren. Beides hat der heranwachsende junge de Sade gesehen und gern übernommen.
Der Marquis wuchs in einer Region auf, die weitgehend noch zum Herrschaftsgebiet des Papstes gehörte, es handelte sich um das „Comtat Venaissin“, das nach dem Sieg über die ketzerischen Katharer (Albigenser, die „Reinen“) im 13. Jahrhundert dem römischen Oberhaupt zufallen war. Wie die Katharer, so Reinhardt, meinte de Sade, noch gegen die Diktatur des offiziellen Christentums, der Kirche, vorgehen zu müssen.
Der kleine Marquis Donatien Alphonse François de Sade (geboren am 2. Juni 1740) wurde vor allem von seinem Onkel, dem Weltpriester Abbé Jacques Francois de Sade, erzogen, dieser war, wie Reinhardt schreibt, „den fleischlichen Genüssen überaus zugetan“. In seinen ersten literarischen Texten verarbeitet der junge Marquis seine Erfahrungen mit dem auf Lust und Pfründen bedachten Klerus; de Sade zeigt sich, so Reinhardt, „als konsequenter Gegner des Christentums, das er als Betrug im Dienste der Mächtigen demaskieren will“ (S. 47). „Der Klerus ist für den Marquis eine gigantische Hilfstruppe der Despoten zur Verdummung und Ausbeutung der Masse, die es ihren Blutsaugern durch ihren stumpfen Abergauben nur zu leicht macht (ebd).
Die „Wurzeln“ für die spätere radikale Gottesleugnung des Marquis wurden also in praktischen Erfahrungen in der Jugend schon gelegt. „Bruder Raffael etwa, der einflussreichste unter den mörderischen Mönchen des Horror Klosters Saite Marie des Bois genießt die besondere Gunst des Papstes, damit ähnelt der Mönch von ferne dem Abbé de Sade…“(S. 49).
Später studierte der junge Marquis im hoch angesehenen und sehr teuren Jesuitenkolleg Louis le Grand in Paris, dort wurde er in die Welt des Theaters eingeführt und erlebte zum ersten Mal die Qualen christlicher Blutzeugen, der Märtyrer, aber auf der Bühne. Kaum verheiratet, in einer arrangierten Ehe, kümmert sich der Marquis um „Lust-Stützpunkte“ (S. 76) in Versailles und anderswo, wo er seine Damen zwingen will, heilige Gegenstände, Kreuze usw. zu entehren. Wenn die gekauften Damen sich weigerten, vollzog er selbst allein die Profanierungen (78). Er hatte eine tiefe „Wut darüber, (religiös) in die Irre geführt und mit der falschen Religion abgespeist worden zu sein. Damit protestierte der Marquis gegen eine Gesellschaft, die sich mit dem wirkungslosen, bedeutungslosen Gott eingerichtet hatte, sein Atheismus war auch eine „Rebellion gegen die Gesellschaft“ S. 79). Diese verlogene Gesellschaft hindert den Marquis daran, so meinte er, seine eigenen sexuellen Gelüste umfassend ungestört auszuleben.
Zur weiteren Biographie verweisen wir gern auf das Buch von Volker Reinhardt, dabei wird deutlich, wie stark der Marquis einerseits von Lügen lebte, etwa auch im Umfeld der Französischen Revolution in Paris. Er selbst wollte unbedingt durch Lügen sein eigenes Leben schützen. Den Nihilismus, den er gegenüber seinen Opfern anwandte, galt nicht für ihn selbst. Der nihilistische Denker wollte sehr gern gut leben. Das Leben war ihm doch ein positiver Wert…
Jedenfalls erobert sich de Sade seine absolute Herrschaft über die dann nur als Dinge, als Gegenstände, verstandenen Menschen.
Eine von vielen Fragen zu de Sade bleibt weiter offen: War er psychisch krank und wenn ja, was wahrscheinlich ist, wie bestimmt war die seelische Krankheit.
Fest steht: Das Leiden der sexuellen Opfer wurde von de Sade als Lustmaximierung erlebt (S. 39). Reinhardt spricht auch von einem „völligen Mangel an Empathie“ (S. 81). „De Sade nahm mit seiner üblichen Gleichgültigkeit für das Leiden der anderen den gesundheitlichen Ruin und sogar den Tod seiner Lustobjekte in Kauf“ (S. 121). Hatte sein Gehirn vielleicht bestimmte physische Schäden, aufgrund derer er sozusagen von einer moralischen Verantwortung entlastet werden könnte?
Wie weit kann das Ausleben der Lust gehen: Das ist die Kernfrage der Texte de Sades. Hintergrund für diese (kranke) Lebenspraxis ist die Überzeugung: Der Mensch ist nur Materie, sonst nichts (S. 180). Eine Überzeugung, die man auch heute oft hört. Diese Natur zwingt förmlich bestimmte Menschen dazu, Laster zu haben. Dies ist das Glaubensbekenntnis des Herrn de Sade. „Der Mensch ist ein zum Egoismus verdammtes Triebwesen“ (S. 278).
Soll dieser Egoist nur aufpassen, dass er nicht von anderen Egoisten erschlagen wird, um es einmal in einer schlichten utilitaristischen „Ethik“ zu sagen. Dass de Sades Denken auch heute nicht von gestern ist, haben diese knappen Hinweise sicher gezeigt. Über die aktuelle Gewalt in der Welt, den Städten, könnte durchaus einmal im Zusammenhang mit de Sade gesprochen werden. Warum hat P.P. Pasolini 1975 den Film „Die 120 Tage von Sodom“ realisiert? Was spürte er, wie stark war sein Wissen, dass die von de Sade beschriebene Grausamkeit heute lebt? Wie außergewöhnlich und „einmalig“ ist die von de Sade beschriebene Grausamkeit? Braucht “man” die Schilderungen solcher Monstrositäten, um an die eigenen Möglichkeiten der eigenen Verirrung erinnert zu werden? Haben diese bestialischen Schilderungen de Sades als Schilderungen dann einen gewissen Charakter der “Reinigung”? Sind etwa Menschen, die de Sade gelesen haben, dadurch bessere Menschen geworden? Darüber wurde bisher nicht berichtet.
Die Bücher von Volker Reinhardt und Susan Neiman liegen zur weiteren Diskussion vor. Über den radikalen Atheismus des Marquis wäre noch ausführlicher zu sprechen. „De Sade und die Gottesfrage heute“ wäre ein Thema auch für (christliche) Akademien. Die Frage ist: Wie kann Gott als gut bezeichnet werden in einer Welt der Grausamkeit (auch heute)? Ist Gott nun gut oder grausam? Ist er beides? Oder sind es zwei Götter? Ist die Frage nach Gott in dem Zusammenhang vielleicht gar abwegig? Aber: Diese Frage bewegt die Menschen seit Urzeiten. Sie könnte doch wieder einmal gestellt werden, ohne dogmatische Scheuklappen oder vorgegebene Katechismuswahrheiten.
In unserem “Religionsphilosophischen Salon Berlin” werden wir diese Frage aufgreifen.
Copyright: Christian Modehn Berlin, Religionsphilosophischer Salon Berlin