Die notwendige Verweltlichung des Christentums.

Eine aktuelle Erkenntnis des Philosophen G. W. F. Hegel.
Ein Hinweis von Christian Modehn.

Dieser Beitrag zeigt:
Das Christentum nur als spirituelle Religion, unter Führung des Klerus, zu verstehen und zu gestalten, ist für Hegel nur das „halbe Christentum“. Für ihn steht fest: Die zentrale der Idee der universalen christlichen Freiheit (modern: der Menschenrechte) muss sich in Staat und Gesellschaft realisieren, dies ist genauso wichtig wie alles Innerliche, Spirituelle, Kirchliche.
Die drängende Frage ist: Hat das Christentum Frieden und Gerechtigkeit gebracht in seiner 2000 Jahre dauernden Geschichte? Global beantwortet: Eher nicht. Denn das Christentum ist meist eine Ansammlung spiritueller, dogmatischer, moralischer Gemeinden geblieben. Die Idee der universalen Freiheit und Gerechtigkeit hat sich nicht durchgesetzt. Um so dringender, an einen Vorschlag Hegels zu erinnern. Es geht ihm um die notwendigen„Verweltlichung des Christentums“.

Dazu einige Vorbemerkungen:

1. Zunächst eine Erinnerung an die gegenwärtige Krise des Katholizismus in Europa, den USA und Lateinamerika. Die Statistiken der Religionssoziologen sind eindeutig: Der dortige Katholizismus wird alsbald nur noch als ein institutionell bestehendes Gerüst, man könnte sagen, Skelett vorhanden sein, wenn auch finanziell noch sehr gut ausgestattet. Der tausendfache und noch längst nicht umfassend erforschte sexuelle Missbrauch durch Priester, Ordensleute und verantwortliche Laien erdrückt wie eine riesige Lawine das Leben und Überleben dieser Kirche. Auch deswegen steigt die Zahl der „Unkirchlichen“ und „aus der Kirche Ausgetretenen“ kontinuierlich. Diese „ehemaligen“ (?) Katholiken verstehen sich wahrscheinlich nicht immer als Atheisten. Sie wurden vielmehr von der Kirchenleitung aus der Kirche vertrieben. Manche sagen, sie sind religiös heimatlos geworden. Gibt es neue Möglichkeiten eines spirituellen, eines umfassend christlichen Engagements? Hegels Antwort: Es ist die Teilnahme an der „Einfügung“ der Idee universaler Freiheit in die Welt…

2. Zu diesem Niedergang des Katholizismus gehört, dass in einigen Ländern noch so genannte „synodale Wege oder synodale Prozessen“ unternommen wurden, um Reformen in der Lehre und den Kirchengesetzen einzuklagen, im Vatikan, beim Papst natürlich, also oft bei Kleriker-Bürokraten, die sich traditionell gegen Reformvorschläge einer Kirche eines Landes wehren. Dass diese so genannten „Synoden“ (sie beraten nur, dürfen aber nichts entscheiden!) in den letzten Jahren in vielen Ländern, wie Holland, der Schweiz, der Bundesrepublik, also seit 1967, nichts an tiefgreifenden Reformen für die Kirche dieser Länder bewirkt haben, ist eine Tatsache. Insofern sind die heutigen Sitzungen und Debatten in synodalen Prozessen wie damals schon eher eine Art Freizeitbeschäftigung oder auch Beschäftigungstherapie für frustrierte Laien und Priester der Basis. Und Rom freut sich, dass noch Leben da ist…

3. Wie kann in der Situation noch das Wesentliche des Christentums im Rahmen der katholischen Kirche gerettet werden? Mit dieser Frage sind wir genau bei Hegel, dessen gesamte Philosophie vom religionsphilosophischen Thema geprägt ist. Darin stimmen wesentliche Hegel-Forscher überein, wie Michael Theunissen oder Walter Jaeschke. Hegel wollte zu seiner Zeit begrifflich klare Aussagen zu dem Thema machen, weil ein Christentum bloß des Gefühls sich im Protestantismus breit machte und im Katholizismus eine Ende der autoritären Klerus-Herrschaft nicht absehbar war. Hegel zeigt in seinem Werk, dass er als Philosoph das Christentum sehr gut verstanden hatte: Seine Erkenntnisse entwickelt er ausführlich in seinen vier, unterschiedlich akzentuierten Berliner „Vorlesungen über die „Philosophie der Religion“ (1821, wichtig dann: 1824, 1827 und 1831).

4. Zum Wesen des Christentums gehört für Hegel: Gott ist Geist. Und der Mensch ist Teilhaber dieses einen göttlichen Geistes, er bezieht sich auf Gott in einem Verhältnis der Freiheit, d.h. der Mensch ist in der Beziehung zu Gott auch bei sich selbst! Und diese Überwindung des „Fremden“ und Entfremdenden auch Gott gegenüber ist wesentlich Freiheit.
Diese Erkenntnis von der Freiheit ist die Grundlehre des Christentums, sie muss um der Freiheit der Menschen will auch als gesetzlich gefasste Freiheit in Gesellschaft und Staat greifbar werden.

5. Diese Freiheit ist Zentrum der Botschaft Jesu Christi vom Reich Gottes: Und es ist der Philosoph Hegel, der diese zentrale Botschaft der Religion in die Begriffe der Philosophie, also ins Denken, überführt, Hegel sagt „aufhebt“.
Das Reich Gottes wird repräsentiert in der Gestalt Jesu Christi, dessen zentrale Lehre sich in den Begriffen Freiheit, Gerechtigkeit, Sittlichkeit zusammenfassen lässt. Und Hegel zeigt in seinen religionsphilosophischen Vorlesungen: „In der Religion des Christentums an sich ist das (nur) Herz versöhnt“, (S. 330 in den „Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Band II, Suhrkamp 1969). Es gibt also, in der Geschichte Jesu Christi sichtbar, bereits eine spirituelle, geistige Versöhnung von Gott und Welt/Mensch, also die spirituelle „Erlösung“. Sie ist „an sich“ schon Gegenwart, sie muss nur noch gestaltet, „hineingebildet werden in die Welt“, wie Hegel sagt.
Diese Erlösung ist dann die Gegenwart des Reiches Gottes in Staat und Gesellschaft, eigentlich haben dafür die Gemeinde, die Kirchen, einzutreten. Aber aufgrund der Begrenztheit ihrer Theologien können Kirchen diese Vermittlung nicht leisten, also die „Hineinbildung“ der Ideen des Reiches Gottes in die Welt. Die Gemeinde/Kirche würde zudem der Versuchung unterliegen, sich gegenüber Staat und Gesellschaft als „Herrscherin“ zu etablieren, wie einst im Mittelalter. Weil die Kirchengemeinde in der Begrenztheit theologischer Begriffe lebt, wird die Philosophie wichtig: Sie kann als Philosophie, die die Wirklichkeit in allgemeine und für alle nachvollziehbare Begriffe fasst, auch diese Lehren vom Reich Gottes der Welt vermitteln. Sie kann in weltlicher Sprache helfen, diese Lehren sozusagen zu säkularisieren und in Gesetze zu überführen.
Anders gesagt: Die politische Wirklichkeit in Staaten und Gesellschaft muss von den sich stets weiter entwickelnden Weisungen der universalen Menschenrechte bestimmt sein, und dabei ist die an keine Konfession gebundene Philosophie behilflich, wenn sie säkular die Lehre der christlichen Freiheit darstellt.

6. Das Reich Gottes muss also aus dem Herzen in die Gesellschaft/den Staat treten und dessen Struktur und Gesetze bestimmen. Die Gemeinde als Ort der Frömmigkeit und der Gottesdienste (Kultus sagt Hegel) bleibt aber bestehen. Die Kirche muss aber anerkennen: Das aktive Gestalten der Freiheit in der Welt in Staat und Gesellschaft, ist genauso wie das Spirituelle der zentraler Auftrag der Kirche. Mit der Verwirklichung der Grundideen des Reiches Gottes als humaner Freiheit, kann man auch von einem Ende der (alten, bloß innerlich-frommen) Religion des Christentums sprechen.
(Siehe auch in Fußnote 1 eine etwas ausführlichere Vertiefung).

7. Hegel kann also von einem Ende der bloß spirituellen christlichen Religion sprechen, weil seine Philosophie in der Lage ist, die wesentlichen Inhalte dieser Religion begrifflich für alle Menschen nachvollziehbar zu bewahren und denken.
Der in der Philosophie bewahrte, „aufgehobene“ Geist des Christentums darf sich für Hegel nicht in der Philosophie „verstecken“. Er muss sich äußern, d.h.für Hegel: Ent-äußern in die Welt. Der Hegel-Spezialist Prof. Walter Jaeschke schreibt in seinem empfehlenswerten „Hegel Handbuch“ (Metzler-Verlag, 2016, S. 436): In Hegels religionsphilosophischen Vorlesungen in Berlin „tritt seit dem zweiten Kolleg der Entwurf einer progressiven Realisierung des geistigen Gehalts der Religion, also seiner Ein-Bildung (d.i. Verwirklichung, CM) in die Weltlichkeit“.
Der geistige „Gehalt“, die „Substanz“ des Christentums, muss in die Wirklichkeit von Staat und Gesellschaft hineingestaltet, Hegel sagt „eingebildet“, werden. Hegels Schüler C.L. Michelet übersetzt diesen Begriff der „Einbildung“ treffend mit „Verweltlichung“, also als Welt – Werdung des Christentums. Und der Hegelianer R.Rothe nennt dann 1837 diese Verweltlichung im Sinne von Welt-Werdung die „Säkularisierung“ des Christentums. „Säkularisierung ist allerdings hier nicht als Entfremdung oder als Entwendung religiöser Substanz gedacht, sondern als ihr Eingehen in die Weltlichkeit und ihr Aufgehen in dieser Weltlichkeit“( Jaeschke, a.a.O, S. 437).

8. Folgt man diesen Erkenntnissen Hegels, dann bleibt für die Kirchen heute auch der wichtigste Auftrag, die Idee der universalen Freiheit und damit die Idee der Menschenrechte in der Welt, der Gesellschaft, dem Staat zu fördern. Das allein ist der zentrale Auftrag der Kirche in der Moderne: Die Menschenrechte in der Welt, in den Gesellschaften, den Staaten, zu pflegen, zu fördern, zum Ausdruck zu bringen. Auf die aktuelle Situation 2022 bezogen: Vielleicht könnten sich in diesem Projekt auch Menschen wiederfinden, die aus der Kirche ausgetreten sind, um sozusagen eine weite säkulare Ökumene zu bilden. Dies ist schon ein Hinweis auf die aktuelle Bedeutung der Erkenntnisse Hegels.

9. Der Impuls, die universale Freiheit, die Geltung der Menschenrechte, in der Welt durchzusetzen, hat leider keinen Vorrang unter den religiösen und kirchlichen Aktivitäten. Die lateinamerikanische Befreiungstheologie hat diesem „Politischwerden“ des Christentums entsprechen wollen, sie wurde aber weitgehend von konservativen Kirchenführern unterdrückt, gerade weil die Befreiungstheologie angeblich nicht dogmatisch korrekt und fromm genug sei…Dabei ist allen kritisch gebildeten Theologen klar: Wer nach dem Kern des Evangeliums fragt, lese in dem Zusammenhang die Bergpredigt Jesu oder seine „Endzeitreden“. Mit anderen Worten: Schon Jesus von Nazareth war ein heftiger Kritiker der Religion, wenn sie nur den Kultus liebt, aber nicht die Humanität an die erste Stelle stellt. Feierliche Gottesdienste, Kultus usw., klerikale Gesetze haben im Sinne Jesu von Nazareth nur Sinn in ihrer Hinordnung auf das auch politisch zu verstehende Reich Gottes.

10. Verweltlichung des Christentums und Bonhoeffer.
In seinen Briefen aus dem Gefängnis Tegel (unter dem Titel „Widerstand und Ergebung“ post mortem veröffentlicht) hat der protestantische Theologe Dietrich Bonhoeffer (geboren am 4.2.1906 in Breslau, als expliziter Feind der Nazis hingerichtet im KZ Flossenbürg am 9.4.1945) einige Einsichten mitgeteilt zur Zukunft des Christentums. Ich sehe darin gewisse Verbindungen zu Hegels Einsicht von der Verweltlichung des Christentums.
Dietrich Bonhoeffer sah schon um 1943 deutlich, wie die alte, vertraute dogmatisch geprägte Gestalt der Kirche in Europa zusammenbricht, verschwindet, weil sie in ihrer Sprache und frommen Praxis die Menschen nicht (mehr) bewegt. Bonhoeffer sprach deswegen davon, ein religionsloses Christentum zu denken und zu entwerfen. Und dieses Projekt berührt die Erkenntnis Hegels zur „Verweltlichung“ bzw. „Säkularisierung“ des Christentums.
Bonhoeffer schreibt: „Unser Verhältnis zu Gott ist kein ,religiöses‘ zu einem denkbar höchsten, mächtigsten, besten Wesen – dies ist keine echte Transzendenz –, sondern unser Verhältnis zu Gott ist ein neues Leben im ,Dasein-für-andere’“ („Widerstand und Ergebung“, DBW8, Gütersloh 1998, 558). „Worauf es im letzten ankommt: Es ist das Beten und TUN DES GERECHTEN“ (WE 157). Noch einmal: „Unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: Im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen“. Bonhoeffer lobt die Weisheit des Alten Testaments „Ist nicht die Gerechtigkeit und das Reich Gottes auf Erden der Mittelpunkt von allem ? (WE 144).
Mit dem „Tun des Gerechten“ ist genau die Forderung Hegels gemeint: Die universale Freiheit und die Menschenrechte in der Welt durchzusetzen. Und was könnte man als Hegelianer unter Beten verstehen? Dieses ist ein Geschehen der inneren geistigen Verbindung mit der Weisheit der Bibel.

11. Franz Rosenzweig und das Ende der Religion.
„Religionsloses Christentum“: Mit dieser These nähert sich Bonhoeffer auch einem Gedanken des jüdischen Philosophen Franz Rosenzweig: „Die Sonderstellung von Judentum und Christentum besteht gerade darin, dass sie, sogar wenn sie Religion geworden sind, in sich selber die Antriebe finden, sich von dieser Religionshaftigkeit zu befreien und (…) wieder in das offene Feld der Wirklichkeit zurückzufinden“ (Rosenzweig: Das neue Denken, Gesammelte Schriften III, Den Haag 1984, 154).

12.
Das Christentum und die Kirchen können in Europa überleben…… wenn sie religionslos werden.
Das ist Hegels Überzeugung: Wenn das Christentum also das klare begriffliche Verstehen (und nicht nur die Liturgien, Gebete etc.) pflegt und Philosophie respektiert, um die gesellschaftliche Freiheits-Praxis zu fördern, hat es noch eine Chance, auch heute inspirierend zu sein. Dann könnten viele Energien frei gesetzt werden, um Krieg und Nationalismus zu überwinden und das Hungersterben von Millionen Mitmenschen weltweit zu beenden…

Fussnote 1:
Hegels Rede vom „Ende der Religion“ ist eingebunden in seine Philosophie. Und diese ist bestimmt von der dialektischen Entwicklung des absoluten Geistes, also dessen, was Hegel der christlichen Tradition folgend, Gott nennt, Und dieser eine Geist (in Gott wie auf eigene Weise in den Menschen) drückt sich in Hegels Philosophie aus: Der absolute Geist wird erkennbar, besser „erkennt sich selbst“ in der Kunst, dann in der Religion und als Höhepunkt am deutlichsten und begrifflich im Denken der Philosophie. Sie ist die „Spitze“ in der Entwicklung des absoluten Geistes. Die Rede vom Ende der Religion ist also darauf bezogen, dass die Religion, sozusagen als noch unreife Stufe des absoluten Geistes, selbst nicht zu den klaren Begriffen findet, die in der Philosophie (Hegels) erreicht werden. Das bedeutet für Hegel aber nicht, dass Kunst und Religion faktisch nicht mehr weiter bestehen. Sie leben weiter, auch im Umgang der Menschen mit den Künsten und Religionen. Aber, und dieses Aber ist entscheidend: Die Religion bzw. das Christentum, also die Kirchen in Europa, sind nicht auf der Höhe der Entwicklung des sich selbst verstehenden absoluten Geistes, wenn sie die kritische Philosophie scheuen oder verachten (wie Muther). Denn Gott wird für Hegel treffend und “adäquat“ nur in der Philosophie, (seiner) Philosophie, begrifflich im Denken erschlossen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.