Die Kraft des Vergebens. Eva Kor vergibt dem SS Arzt Mengele

Im “Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon” berichten auch KorrespondenTinnen über Erfahrungen, Begegnungen, Einsichten. Diesmal Monika Herrmann, Berlin, über eine Begegnung mit der Jüdin Eva Kor. Ihre Botschaft: Verzeihen ist eine Fähigkeit, die den Menschen befreit; er kann sich aus den angeblich ewigen negativen Gefühlen aus Haß und Verachtung lösen. Der dunkle Horizont im Leben lichtet sich im Akt der Vergebung, er ist ein Zeichen der Größe.

Vergebung bedeutet Freiheit
Über den Mut einer ungewöhnlichen Frau berichtet Monika Herrmann, Berlin, zuerst veröffentlicht am 17.9.2010

Eva Kor ist am 4. Juli 2019 gestorben. Eine großartige Frau. Ein Mensch, der vergeben kann (ohne dabei zu vergessen). Vor fast 10 Jahren veröffentlichten wir einen Beitrag von Monika Herrmann, als Erinnerung an Eva Kor.

Dass sie müde ist, lässt Eva Mozes Kor sich nicht anmerken. Die 76-jährige alte Dame mit der blond gefärbten Kurzhaarfrisur sitzt in der Berliner Martha-Kirche und erzählt ihre Geschichte: Rund 100 Zuhörer sind gekommen. Es ist die Geschichte eines Holocaust-Opfers, das seinen Peinigern vergeben hat.
Eva war ein kleines jüdisches Mädchen als sie und ihre Zwillingsschwester Miriam für so genannte Rassen-Experimente von Josef Mengele missbraucht wurden, von jenem SS-Arzt, der im Auftrag der Nationalsozialisten Menschenversuche an KZ-Insassen durchführte. Eva ist eines seiner Opfer; aber sie hat ihre Opferrolle verlassen. „Ich habe Mengele und all den anderen Nazis vergeben“, erklärt sie an diesem Abend in der Kreuzberger Kirche. Kann man das überhaupt?, fragen sich viele Zuhörer? Muss man nicht Menschen wie Mengele hassen? Und zwar für immer?
Seit rund 50 Jahren lebt Eva Mozes Kor in den USA. Aber Deutschland, das Land der Täter, ist immer wieder Ziel ihrer Reisen. Auch Berlin besucht sie dann. „Ich liebe diese Stadt, die Menschen sind sehr nett“, sagt sie höflich. Manchmal, wenn ihr beim Reden der Ärmel des hellblauen Kostüms ein wenig nach oben rutscht, wird die Häftlingsnummer sichtbar, die sie in Auschwitz eintätoviert bekam: A-7063 steht da noch immer lesbar auf ihrem rechten Arm.
Eva und Miriam werden 1934 im rumänischen Portz in einer jüdischen Familie geboren. Als 10-jährige werden sie mit ihren Eltern und den älteren Schwestern in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert. „Als wir aus dem Waggon getrieben wurden, sah ich den grauen Himmel und den Stacheldraht. Miriam und ich wurden dann sofort von der übrigen Familie getrennt. Wir haben uns nie wieder gesehen“, erzählt Eva Kor. Die kleinen Mädchen begreifen erst allmählich, dass sie gebraucht werden für medizinische Experimente, die Mengele im Rahmen seiner Rassenforschung in Auschwitz an Zwillingspaaren macht. „Miriam und ich erfuhren von Gaskammern und Krematorien, wir lebten von da an mit dem Sterben der Menschen. Wir sahen ausgemergelte Kinderleichen und schliefen zwischen Ratten und Mäusen. In diesem Moment beschloss ich, zu überleben“, erklärt die alte Dame. Mehrmals pro Woche werden sie und Miriam von Mengele und seinen Assistenten für Versuchszwecke missbraucht. Weit über tausend Zwillingspaare haben unter diesen Versuchen in Auschwitz gelitten. Sie bekommen Tropfen in die Augen und Injektionen mit der Folge von hohem Fieber, manchmal reagieren sie mit Ausschlag am ganzen Körper. Es sind Chemikalien und Krankheitserreger, deren Wirkung im Körper getestet werden soll. Manche Kinder werden dabei ohnmächtig oder sterben.
Am 29. Januar 1945 wird Auschwitz von sowjetischen Soldaten befreit. „Wir hatten überlebt und waren endlich frei“. Wenn Eva Mozes Kor heute diesen Satz sagt, schwingt ein Hauch von Stolz mit in ihrer Stimme. Und dann erklärt die alte Dame, woher sie die Kraft zum Weiterleben nahm: Dass es immer Dinge in ihrem Leben gab, die ihr wichtiger waren als die Opferrolle. Dass sie Michael Mozes geheiratet und Kinder bekommen hat. In den USA führte sie eine Immobilienfirma, auch eine Hilfsorganisation für Kinder, die den Holocaust überlebt haben, hat sie gegründet. Eigentlich das ganz normale Leben einer emanzipierten Frau, Familienmutter und Unternehmerin. Ihre Schwester Miriam lebt inzwischen in Israel. Sie leidet an ihrer schweren Nierenerkrankung. 1992 spendet Eva ihre eine ihrer Nieren, um ihr Leben zu retten. Doch Miriam stirbt. Auch Eva Mozes Kor erkrankt an Tuberlose. Sind es die Spätfolgen der Versuche in Auschwitz? Sie vermutet es und weiß, dass die damalige IG-Farben-Pharmazeutika die Giftcocktails für die Versuche geliefert hat. Deshalb verklagt Eva Mozes Kor zusammen mit anderen Opfern die Nachfolgefirma BAYER. Sie fordern eine Entschädigung, die bisher nicht gezahlt wurde.
Als Eva Mozes Kor 1993 von einem amerikanischen Filmproduzenten gefragt wird, ob sie an einer Dokumentation über die Mengele-Experimente mitwirken möchte, sagt sie zu. „Es wäre schön, wenn sie einen ehemaligen SS-Arzt mitbringen könnten“, bittet sie der Filmemacher. Eva Mozes Kor findet Hans Münch, jenen Naziarzt, der mit Mengele zusammen gearbeitet hat. Sie besucht ihn in seinem Haus in Bayern. Münch, der Nazitäter, berichtet freimütig von Gaskammern und Krematorien in Auschwitz. Er gibt zu, dass er derjenige war, der die Totenscheine im Lager unterzeichnet hat. Eva Mozes Kor ist beeindruckt von seiner Offenheit und bittet ihn, mit ihr gemeinsam nach Auschwitz zu reisen. Münch soll dort – so will sie es – öffentlich die Existenz der Vernichtungsmaschinerie der Nazis erklären. Der ehemalige Lagerarzt stimmt zu und Eva Mozes Kor bedankt sich bei ihm dafür, indem sie ihm vergibt. Ein Freund stellt ihr schließlich die Frage, ob sie bereit wäre, auch Josef Mengele zu vergeben? Eva Mozes Kor sagt, dass sie dazu innerlich sofort bereit gewesen sei. „Warum sollte ich das nicht tun“? fragt sie sich und beschließt, diesen Akt der Vergebung öffentlich und in Auschwitz zu vollziehen. „Ich fühlte, dass ich dazu die Kraft hatte“.
Es ist der 50. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz als Eva Mozes Kor, begleitet von einem Kamerateam und ihrer Familie auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslager steht. Auch der Täter Hans Münch ist gekommen und verliest seine Erklärung, die bestätigt: Ja es gab Auschwitz, lautet seine Botschaft, die Eva Mozes Kor wichtig war. „Es gab ja immer noch die vielen Holocaustleugner, die nun endlich von einem ehemaligen Täter die Wahrheit erfuhren“. Dann geht sie selbst ans Mikrophon: „Ich vergebe Josef Mengele und allen Nazis, die an der Ermordung der Juden beteiligt waren“, lautet ihre Amnestie-Deklaration. In diesem Moment sei die Bürde des Schmerzes von ihren Schultern gefallen, sagt die alte Dame. „Ich fühlte mich frei, glücklich und vor allem nicht mehr als Opfer. Ich war keine Gefangene meiner tragischen Vergangenheit mehr“.
Wenn sie heute gefragt wird, wie ihre Vergebungsbotschaft bei anderen überlebenden Juden angekommen ist, wird ihre Stimme deutlich leiser. „Ich bin sehr traurig, dass die meisten Überlebenden meine Haltung nicht teilen“, sagt sie. „Aber so einen Schritt zu tun, erfordert sehr viel Kraft und jeder muss für sich selbst entscheiden, ob er diese Kraft hat“. Die meisten der noch lebenden Opfer hätten ihre Haltung gegenüber den Nazitätern nicht geändert. „Sie denken gar nicht über eine Vergebung nach, sie hängen vielmehr an ihrem Schmerz, und schweigen lieber über ihre Leiden und ihren Hass unf geben all das weiter an die nächsten Generationen! Damit werden sie dann selbst zu Tätern. Dabei bedeutet Vergebung auch Heilung der Seele“. Eva Mozes Kor wird nicht müde, immer wieder zu betonen, dass ihr Schritt ein ganz persönlicher war und ist. Sie verschweigt auch nicht, dass es in ihrem Leben immer wieder Phasen gab, in denen sie zornig und wütend war auf alle Naziverbrecher. „Aber nur in der Vergebung, können die Opfer überhaupt weiterleben“, daran hält sie fest und stellt klar, dass ihre Art der Vergebung nicht religiös motiviert sei. „Ich bin keine fromme Jüdin“. Eva Mozes Kor will auch nicht die Erinnerung und das Vergessen verdrängen. Sie sagt, dass sie ihren Schritt der Vergebung letztendlich für die Opfer getan habe und nicht den Tätern damit helfen wollte.
Solche Sätze irritieren und provozieren auch. Und die alte Dame wird deswegen oft missverstanden, ja sogar angefeindet, sie erhält bitterböse Briefe, Anrufe und Emails. Denn die Filmdokumentation läuft immer wieder im amerikanischen und auch im israelischen Fernsehen. Gerade ist die Fassung ins Deutsche übersetzt worden. In der Kreuzberger Martha-Kirche war der Film Teil der Veranstaltung. Darin finden sich auch kritische Sätze. Die von Jana Laks beispielsweise. Sie ist auch ein überlebender „Mengele Zwilling“. Eva Mozes Kor’s Vergebungsakt bezeichnet sie als „unanständig“ und erklärt, dass man nicht etwas verzeihen könne, was Millionen Juden angetan wurde. Eva Mozes Kor hält solche Art von Kritik und Anfeindung aus. „Ich spreche für mich und nur für mich“, sagt sie immer wieder. An diesem Abend lautet ihre Botschaft: „Vergebung ist doch ganz einfach und kostet kein Geld, deshalb kann das auch jeder“.
Der Berliner Rabbiner Andreas Nachama sagt, dass eine Auschwitz-Überlebende natürlich Mengele und all den anderen Naziverbrechern vergeben könne. „Sie kann es nicht im Namen aller Opfer tun, aber wenn sie das für sich selbst so entscheidet und nur für sich spricht, ist es OK“. Der „reformierte Rabbiner“ will Eva Mozes Kor Vergebung nicht kritisieren. Auch in der Kreuzberger Martha-Kirche findet sie viel Zustimmung. Kritik gibt es an diesem Abend nicht, eher Verständnis. Schließlich spiele Vergebung auch in der Bibel eine wesentliche Rolle, meint ein Zuhörer. Eine Frau im mittleren Alter sagt, dass die Praxis der Vergebung tatsächlich ein großes Geschenk für denjenigen sei, der vergibt. Eva Mozes Kor ist in die USA zurückgekehrt. Aber sie hat versprochen wiederzukommen.
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