Ein Hinweis von Christian Modehn
Kann man Historiker „originell“ und „kreativ“ nennen? Einige gewiss. Vor allem einige in Frankreich. Zum Beispiel Alain Corbin, em. Professor der Sorbonne, Autor einiger ungewöhnlich inspirierender Bücher, die beispielhaft Mentalitätsgeschichte oder treffender noch die „Histoire de sensibilités“ erschließen, etwa „Pesthauch und Blütenduft“ oder „Die Sprache der Glocken“. Sie wurden in Deutschland oft beachtet. Nun hat Corbin ein vom Umfang her eher kleines, der Sache nach aber großes Buch veröffentlicht, das auch die Aufmerksamkeit philosophisch Interessierter verdient: “Histoire du silence“, Geschichte des Schweigens von der Renaissance bis heute“, erschienen bei Albin Michel in Paris, das Buch hat 204 Seiten, davon über 20 Seiten weiterführende Literaturhinweise. Es ist eher ein Buch zum Weiterstudieren als ein umfassendes „Studien-Buch“.
Heute, so Corbins These, ist es schwierig geworden, im Schweigen zu leben, auch „Schweigen zu vollziehen“ („faire silence“). Aber: Im Schweigen leben ist entscheidend für den Menschen: Wer nicht schweigen kann, so die These, hört auch sein Selbst nicht mehr… und „so wird auch die Struktur des Individuums selbst verändert“ (S. 11). Wir aber leben in einer lauten, schreienden Welt, Orte des Rückzugs sind rar, selbst in Gottesdiensten („Gott lebt im Schweigen“) wird permanent gesprochen, eingeredet, gesungen. Wenn von Stille die Rede, sind es immer, so wörtlich, „Momente der Stille“. Kulturen, die das ständige Musik-Geräusch lieben, den permanent vernehmbaren Salsa usw., was wollen sie musikalisch zudecken und zum Verschwinden bringen? Wäre eine interessante Frage.
Corbin wendet sich vor allem der französischen Geschichtezu und nennt historische Details: Etwa: 1883 gab es eine Kampagne gegen den Lärm der Glocken (s. 94), in Montauban durften die Bäcker hingegen des Nachts – trotz einiger Proteste – bei ihrer Arbeit laut singen (S. 95)… Der erste Weltkrieg war auch eine „akustische Hölle“. Corbin plädiert dafür, sich wieder an die vielfältigen Formen der Kulturen des Schweigens auch in der europäischen Tradition zu erinnern, „um wieder heute das Schweigen zu lernen, das heißt: man selbst zu sein. („C` est à dire à etre soi). Nur in einer Kultur, die das Schweigen pflegt, kann die Bedeutung des Wortes wahrgenommen werden. Diese Kultur gab es einmal, Corbin führt uns in dieses Thema ein, dabei breitet er, notgedrungen oft in knappen Hinweisen, ein breites literarisches Panorama aus.
Im Schweigen leben, das ermöglichen etwa auch die eingestimmten Besuche abgelegener, leerer Kirchen, Huysmans spricht davon. Bernanos kommt nicht los (obsédé) vom Schweigen der Wohnzimmer etwa in „Monsieur Ouine“. Die Provinzstädte in der „Comédie humaine“ von Balzac sind bestimmt von „Schweigen, Kälte, Passivität, Egoismus“… Hinweise, die ermuntern wieder einmal den „Curé de Tours“ zu lesen. Von Palmyra spricht Corbin, wenn er an das „Schweigen der Ruinen“ erinnert, das Chateaubriand damals dort als „Aufenthaltsort des Schweigens“ beschreibt. Heute wird man ein ganz neues trostloses Schweigen durch die Zerstörungen des sogen. Islamischen Staates besprechen müssen. Chateaubriand hat – nach Corbin – das „Schweigen der Orte“ gehört (Escorial, Soligny, Grande Trappe) und dieses Schweigen mitgeteilt.
Diese Hinweise zeigen, dass Corbin sich weit auf die Spuren des Schweigens vor allem in der französischen Literatur begibt. Religionsphilosophisch Interessierte werden sein Kapitel „Les Quetes du silence“ aufmerksam lesen; darin geht es um den (ursprünglich monastischen Kampf) gegen die Ablenkungen, um zum inneren Gebet zu finden. Corbin erwähnt unter anderen die Karthäuser-Mönche, die den ganzen Tag allein leben …. und schweigen. Gérald Chaix nennt sie deswegen die „fous de Dieu“, die Verrückten Gottes. Verrücktheit und Spiritualität wird hier in einen Zusammenhang gestellt (S. 71). Und zum Schweigen Gottes in dieser Gegenwart schreibt Corbin:“ Man hat überwiegend aufgehört sich zu fragen, ob das Schweigen eines sich verbergenden Gottes nicht doch eine Äußerung, ein „Wort“, ist!
Ein großer Schweiger, meint Corbin, sei auch der Heilige Josef gewesen, dabei hat der Autor die dürftigen Erzählungen über ihn, den Schweiger, im Neuen Testament im Blick. Nebenbei würde der Religionskritiker wohl sagen: Der heilige Josef als der so genannte „Pflegevater“ Jesu durfte auch nichts sagen, sonst hätte er vielleicht die historische Wahrheit erzählt, dass er der Vater Jesu von Nazareth und dessen Geschwister ist. Josefs Schweigen ist also ein kirchlich-dogmatisch erzwungenes Schweigen! In dem Buch wird (neben drei weiteren 7 anderen Gemälden) ein prächtiges Bild von Georges La Tour (von 1640) präsentiert: Der Heilige Josef als Tischler und das Jesus-Kind, das fast wie Mädchen erscheint: Jesus hält dem Vater eine Kerze während der Arbeit! Warum soll Josef dabei nichts gesagt haben?
Für alle an Frankreich Interessierten ist dieses Buch von Alain Corbin eine wahre Fundgrube, wenn er etwa daran erinnert, dass das Werk von Patrick Modiano vom Schweigen her sich gruppiert. Im 18. Jahrhundert wurde die „Kunst zu schweigen“ gepflegt und literarisch empfohlen als Teil einer Lebenskultur! Corbin vertritt trotz der Fülle verschiedener literarischer Bezüge und Verweise seine eigene Philosophie: Der Gedanke „arbeitet“ im Schweigen.
Ich breche diese Hinweise ab mit einem Zitat von Francois Mauriac: „Jedes große Werk entsteht im Schweigen und kehrt dorthin zurück“ (s. 122). Studieren wir also das Schweigen. Aber bitte – hoffentlich- in Stille.
Copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon Berlin