Kierkegaard im Berliner “Haus am Waldsee”: Entweder – Oder

ENTWEDER – ODER
Kierkegaard und Künstler im Gespräch
Eine Ausstellung im Haus am Waldsee (bis 22. September 2013)
Hinweise von Christian Modehn

Ein Philosoph und zeitgenössische Künstler im Gespräch: Ein ungewöhnlicher Dialog, der jeden und jede inspiriert, egal man nun von der Kunst her das Werk Kierkegaards ( neu) liest oder nach weiterführenden Spuren aus Kierkegaards Buch „Entweder – Oder“ in den Gemälden, Installationen, Fotoarbeiten sucht. Im bekannten und geschätzten „Haus am Waldsee“ in Berlin – Zehlendorf ist zur Zeit eine Ausstellung zu sehen, die zuvor in Kopenhagen, anlässlich des 200. Geburtstages von Sören Kierkegaard (am 5. 5. 1813 geb.) gezeigt wurde: In der „Nikolaj Kunsthal“ wie im „Haus am Waldsee“ ist Solvej Helweg Ovensen als Kuratorin verantwortlich. Wir empfehlen dringend den Besuch der Ausstellung und die Lektüre des Katalogs, der u.a. auch wichtige Interviews mit dem dänischen Kierkegaard Spezialisten Peter Tudvad (Berlin) und dem Philosophen Boris Groys enthält.
Die Aktualität Kiekegaard ist offensichtlich, weil die “ästhetische Lebenshaltung” (darsgestellt in “Entweder – Oder”) heute in der westlichen Welt und wohl darüber hinaus die alles bestimmende Orientierung ist: Ichbezogenheit, Egoismus, Freude an der Sinnlichkeit als Freude (nur) an sich selbst, aber nicht an den anderen; Beliebigkeit der (ethischen) Positionen innerhalb (m)eines Lebens, Fraglichkeit der Identität, Leben nach dem Zufallsprinzip usw… Diese Themen werden in “Entweder – Oder” (und späteren Werken) angesprochen

Wir können hier nur einige Hinweise geben, die niemals den Besuch der Ausstellung ersetzen können: Es handelt sich um Arbeiten von 18 KünstlerInnen; diese Arbeiten wurden ausgewählt, weil sie eine Verbundenheit ausdrücken mit dem Denken Sören Kirkegaards, vor allem mit seinem ersten umfangreichen Buch „Entweder – Oder“. Dessen erster Teil wurde bei einem Berlin Aufenthalt geschrieben, nach der Auflösung der Verlobung mit Regine Olsen. Veröffentlicht wurde das Buch 1843 in Kopenhagen.
Der eine Teil der Ausstellung bezieht sich auf Arbeiten zum Thema ästhetischer Lebensentwurf. Der zweite Teil macht deutlich, was ethische Existenz bedeuten könnte.
Zu einigen Arbeiten zum Thema ästhetischer Lebensentwurf (bei Kierkegaard verstanden als Form des Genießens, Sich – Genießens, ja auch des „Epikuräischen“): „Da stehen überwiegend sinnliche, fiktive, spielerische, materielle, rhetorische und theatralische Gesten“, so die Kuratorin im Katalog S. 21.
Alfred Boman etwa zeigt in seinen Gemälden und Plastiken die Beliebigkeit des ästhetischen Lebensentwurfes: „Nichts ist heilig, nichts ist wahr, alles ist virtuell“. Birgit Brenner hat auf ihre umfangreiche Arbeit aus Panzerpappe geschrieben: „Irgendwann, als alles vorbei war“. Diese kulissenartige Installation lässt Gefühle wach werden nach einer verlorenen Liebe. Tom Hillewaere lässt in seiner meditativen Installation einen Gasballon mit angehängtem Filzstift schweben …und dabei Beliebiges schreiben. Alles bleibt unberechenbar, so sah Kierkegaard den Charakter des Ästhetikers; unterlegt ist diese Installation mit dem „Valse Sentimentale“ von Tschaikowsky. Um die Deutung der Identität des einzelnen bemüht sich die Arbeit Broken Mirrors von Lee Yongbaek. „Der Betrachter, der zwischen die beiden Spiegel tritt, begegnet sich selbst. Während er sich der Selbstreflexion hingibt, zerspringt das illusionistische Bild vor seinen Augen in Splitter“. Etwas provozierend sind die Arbeiten des israelischen Künstlers Tal R, er zeigt die erotischen Launen des Ästhetikers durch die unterschiedlichen Formen vieler, sich selbst ironisierender Phalloi. Kierkegaard stellte einmal die Frage: „Ist denn die Vernunft allein getauft, sind die Leidenschaften Heiden?“:
Zu einigen Arbeiten zum ethischen Lebensentwurf: Da steht das bürgerlich – korrekte Leben nach den allgemeinen Grundsätzen des Guten im Mittelpunkt des Buches von Kierkegaard. Die Künstler wenden sich moralischen, „transformationsorientierten Motiven und humanistisch betonten Ansichten“ (ebd) zu. In dem 2. Teil der Ausstellung gibt es etwa Dokumentar – Filme zur Hilfsbereitschaft der reichen Welt, wie mit den Armen in Afrika und deren Armut noch Geschäfte gemacht werden; es gibt Plakate, Interviews. Für religionsphilosophisch Interessierte ist die Installation von Kristine Roepstorff wichtig: „Vita Umbra“ (Schattenleben) nennt sie ihr mechanisches Schattenspiel: Ständig ist unser Bewusstsein in Bewegung, in Gedanken, in Assoziationen…Ein Lichtquelle erzeugt Schatten auf einer Panoramaleinwand, Bilder von Kirchen werden sichtbar; es sind die vielen Kirchen, die sich in einander verschränken und die Frage wecken: Gibt es eine richtige, wahre?

Im ganzen erinnert die Ausstellung an die zentrale Frage Kierkegaards: „Wer bin ich als einzelner? Diese Frage wird heute in ihrer wahren Tiefe gar nicht wahrgenommen, meint der dänische Philosoph und Kierkegaard Spezialist Peter Tudvad, Berlin: „Wenn man heute vom Individuum und dem Einzelnen spricht, tut man das mit verbundenen Augen, womit ich meine, dass wir uns nur rein rhetorisch zu unserer eigenen Individualität bekennen… In der Praxis orientieren wir uns daran, was der Nachbar tut, was wir in den Medien sehen, im Fernsehen, in der Werbung usw.“ (im genannten Ausstellungskatalog S. 33). Das Interview mit Peter Tudvad sollte jeder lesen, der sich neu oder wieder mit Kierkegaard befasst. Tudvad unterstreicht, dabei übernimmt Tudvad die fiktive Rolle eines heutigen Kierkegaard:“ Ich (Kierkegaard) habe mich selbst als religiösen, als einen christlichen Autor verstanden“ (S. 29). „Wir lassen heute die Leidenschaft und den Sinn für das Unendliche vermissen. Wir leben im Jetzt, nicht in dem, was ich, Kierkegaard, Augenblick genannt habe, einem Schnittpunkt zwischen dem Zeitlichen und dem Ewigen“ (32). „Wie ich (Kierkegaard) einmal schrieb, kann man den Geist eines Menschen nach seinem Willen beurteilen, einsam zu sein…immer muss heute =etwas los= sein. Und damit meine ich, dass es sich viele Menschen unmöglich machen, ihren Geist zu entwickeln“ (33).

Haus am Waldsee:
Argentinische Allee 30, 14163 Berlin
Telefon: 030 8018935.

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