Konsumismus als Religion. Ein Kommentar nicht nur zum 9.November

Konsumismus als Religion: Die neuen Götter in Berlin

Ein Kommentar nicht nur zum 9. November

Von Christian Modehn

Ein Motto zu Beginn: “Jetzt kommen die Investoren, denen ist Berlin völlig egal. Weil sie die Stadt als große Spielwiese der Spekulationen sehen. Da gibt es kein Halten mehr. Wir benötigen Gesetze, die alle diese Investoren ein bißchen im Zaum halten. Man kann denen doch nicht die Stadt überlassen. Wem gehört die Stadt, das ist die Frage”. Katja Lange-Müller, Schiftstellerin, in Der Tagesspiegel, 9. November 2014, Seite 23.

An der zentralen Schnittstelle zwischen dem einstigen Ost- und West-Berlin, am Leipziger Platz, gibt es seit Ende September 2014, wie ein Stadtmagazin schreibt, „die schöne, neue Shopping-Welt: Die Mall of Berlin“. An der früheren Wall of Berlin mit ihrem Todesstreifen nun also die „innovativste“ und „superlativträchtige“, wie es heißt, Mall of Berlin. Sie umfasst 270 Geschäfte auf 76.000 Quadratmetern Verkaufsfläche, es gibt Büros und sogar Wohnungen, natürlich in der üblichen Luxusausstattung, auch ein Parkhaus und ein Motel. Die Kosten: 1 Milliarde Euro, so „TIP“ Berlin.

An Einkaufsscenters ist in Berlin seit dem Fall der Mauer wahrlich kein Mangel: Die „Potsdamer Platz Arkaden“ sind unmittelbar Nachbarn, in der Nähe das „Alexa Shopping Center“ mit bloß 57.000 Quadratmetern Verkaufsfläche; weiter entfernt das „Bikini Berlin“ oder die „Gropiuspassagen“ mit 85.000 Quadtratmetern Verkaufsfläche oder der „Boulevard Berlin“ in Steglitz mit bloß 76.000 Quadratmetern für Geschäfte und Boutiquen.

Dies ist nur eine kleine Auswahl an Centers, “Arcaden” und Kaufhäusern, die über die ganze Stadt Berlin verteilt in bester Lage und niemals zu übersehen mit ihrer dominanten Architektur eine einzige und einfache „gute Botschaft“ verbreiten: „Ihr Menschen seid in erster Linie Käufer, ihr seid wesentlich Konsumenten. Ihr braucht z.B. ständig Neues, das euch von den so genannten Modeschöpfern als der weltweite Stil des Jahres aufgedrängt und von der Werbung eingeredet wird. Fragt nicht, warum die Preise eurer Klamotten so billig sind, fragt nicht nach den Produzenten, kauft und schmeißt diesen Krempel spätestens im nächsten Mode-Jahr bitte wieder weg. Aber bleibt eurer Marke, eurer Firma, treu, sie gibt euch das Gefühl, wertvoll zu sein, einen Status zu haben. Steigt also niemals aus dem endlosen Prozess des Kaufens aus, verlasst nicht diesen Kreislauf, der euer Leben bestimmt“.

Hier wäre ein Ansatz für ein Kapitel kritischer Philosophie zum Thema „25 Jahre nach dem Mauerfall“. Eine solche Philosophie wurde noch nicht geschrieben. Anregungen gäbe es bei Pier Paolo Pasolini und seiner Konsumismuskitik, vielleicht wird sie anlässlich von seinem 40. Todestag 2015 (2. Nov.) umfassend gewürdigt.

Also: Was wurde wirklich neu gebaut im vereinten Berlin? Was fällt in die Augen, wer durch die Straßen flaniert? Kirchen, Orte der Stille, der Ruhe, der Kontemplation, wurden nicht neu errichtet, eher wurden sie verkauft wie die St. Agnes Kirche. Auch erkennbare Neubauprojekte, Tempel anderer Religionen, etwa des Buddhismus, sind nirgendwo in Sicht. Ein so genanntes Interreligiöses Zentrum (die evangelische „Petrikirche“ in Mitte) soll gebaut werden, mit sehr mäßiger muslimischer und sehr mäßiger jüdischer Beteiligung, Buddhisten sind nicht dabei, Katholiken oder Orthodoxe auch nicht, Freikirchen auch nicht. Humanisten und Atheisten (da gibt es doch auch Glaubenshaltungen!) sind nicht mit von der Partie. Das soll inter-religiös sein? Da und dort wurde in Berlin eine Moschee errichtet. Ein neues Theater wurde nicht gebaut, kleinere Kinos wurden abgerissen (wie die Kurbel), neue Kino-Komplexe gebaut. Haben diese etwa Charme? An eine Agora, als einem geräumige Platz/Ort für den Disput der Bürger, denkt offenbar niemand. Lediglich die Zahl der Galerien ist gestiegen, geht es dabei aber zuerst auch um Kommerz oder um Kunst?

Die Stadt Berlin ist – wie alle anderen Städte der reichen Welt – nach dem Mauerfall zur „Stadt des Konsums, zur Stadt der malls und Shoppinglandschaften“ geworden. „Ich shoppe, also bin ich“, heißt das Credo. Mindestens 400.000 Berliner können an dieser wunderschönen Konsumwelt nicht teilhaben, sie sind Hartz IV Empfänger und oft ziemlich arm, sie leben von Suppenküchen und nicht von den Menus in den Restaurants der Malls.

Die Konsum-Tempel sind langweilig, öde. Sie strapazieren die Seele. So waren sie wohl schon immer. Vielleicht hat man in den „goldenen Zwanzigern“ die großen Kaufhäuser von Tietz und Co. noch mit glänzenden Augen verlassen, staunend und entzückt vom unendlichen Angebot an Käuflichem. Der Charme des Neuen kann jetzt gar nicht entstehen, man glaubt dort, keine wirklichen Überraschungen mehr zu erleben, die Phantasie ist ausgelöscht bei all den Neubauten, deren Architektur man schon tausendmal gesehen hat.

Wer als Flaneur in Berlin durch die neuen shoppings malls geht, findet immer dieselben Namen multi-nationaler Ketten, kein einziges individuelles Geschäft mehr. Die kleinen Händler haben keine Chance, da machen sie den Charme einer Stadt aus: Der Verlust des Individuellen, typisches Kennzeichen der heutigen Gesellschaft, wird hier mit Händen zu greifen. In den Malls sucht man etwa kleine, private Buchhandlungen vergeblich, mit einem Buchhändler, den man kennt, mit dem an plaudert usw… Es gibt dort keinen privaten Stil, nichts „Kleines“, nichts Experimentelles.

Und so ist man hilflos in der Erkenntnis, dass es der kapitalistischen Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten gelungen ist, uns einzureden: Der Mensch ist wesentlich der Käufer, er gilt als der Bedürftige, der ständig Neues braucht, der ständig stolz auch Neues wegwirft, der also der Gierige ist. Es wird das Bild eines Menschen propagiert, der förmlich wie ein hungriges Baby ewig schreit „Haben, haben, haben“. Die dermaßen vom System total reduzierte Person stolziert also gelangweilt, eigentlich alles schon habend, nichts wirklich brauchend, durch diese malls. Und fühlt sich inmitten der Käufer allein.

Es gibt keine Institutionen mehr, die diesen trostlosen Charakter unseres fremdbestimmten Daseins auch nur ansatzweise kritisieren. Noch denkt man bei dem Thema in unseren Breiten an die Kirchen, aber die sind selbst viel zu sehr mit ihren Kirchensteuer und sonstigen Milliarden Einnahmen befasst, sie verwalten sich selbst und schweigen als Komplizen des Systems zu dieser Verblendung. Die evangelischen Kirchen kritisieren gelegentlich das System, aber ihre Stimme wird kaum gehört, ist paradoxerweise trotz/wegen ihres Reichtums zu schwach. Nur zu Weihnachten sind die Kirchen voll. Aber da ist prophetische Kritik unerwünscht, weil störend. Es könnten ja anschließend die Gottesdienstbesucher aus der Kirche austreten…

Was hat das alles mit dem 9. November zu tun, dem Durchbruch durch die Mauer, dem Abreißen der Betonwände, von betonierten Köpfe errichtet? Man wird traurig über den offenbar totalen Sieg des Konsumismus auch in dieser Stadt, die sich rühmt, irgendwann einmal, in der fernen Vergangenheit von 1989, die Freiheit als der Güter Höchstes proklamiert zu haben. „Wir sind das Volk“ von 1989 meinte „Wir sind ein freies Volk“, nicht aber “Wir wollen unbedingt ein Volk der Konsumenten werden“.

Tatsächlich siegte die Herrschaft des Geldes, auch in Berlin. Profit, nicht Freiheit und Gerechtigkeit, wurde zum obersten aller Götter erklärt, dem sich jeglicher Wunsch nach Individualität bitte schön unterzuordnen hat. Alles, was menschlich, human, notwendig wäre, was also die viel besprochene Lebens-Qualität fördern könnte, aber eben doch dem Staat Geld kostet, wird unterlassen: Orte freien Gesprächs, Orte, wo man kostenfrei sitzen, lesen, dösen, diskutieren kann ohne für Geld konsumieren zu müssen. Orte also, wo man sich mit vielen Touristen zwanglos treffen kann, um in ein freundliches Gespräch über dieses vielfältige Europa einzutreten. Wer hat denn auch im entferntesten daran gedacht, in einer Stadt mit ca. 4 Millionen ausländischen Touristen Orte der freien, „kostenlosen“ Begegnung zu schaffen? Oder auch Orte, wo nicht ganz Arme mit wirklich Armen das Brot teilen, Orte, wo man probieren kann, ob und wie jeder Mensch wirklich ein Künstler ist (Beuys), Orte, in den der Disput über die Zukunft der Stadt gepflegt wird: All das gibt es nicht, all das will man nicht vonseiten einer technokratischen Regierung.

Eigentlich wäre da, wie gesagt, auch eine Aufgabe der Kirchen, aber die sind fixiert auf Dogmen und Geld. Und tun diakonisch viel Gutes, sie tun das, was eigentlich ein Staat, der sich Sozialstaat nennt, leisten müsste. Kirchen sind doch mehr als diakonische Unternehmen, die einspringen, wenn der angeblich soziale Staat versagt.

So müssen die Bürger sich abfinden, die Rolle des konsumierenden Geldausgebers spielen zu dürfen, wenn sie die Öffentlichkeit, und dies ist wesentlich Konsum-Öffentlichkeit, betreten, in der bei allem Reden und Gerede und bei allem florierenden „Kulturbetrieb“ (Adorno) das Gespräch, der Dialog, das freie Miteinander, irgendwie schon ausgestorben zu sein scheint.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin