Wenn sich ein Künstler als Christus (ohne Maske!) wahrnimmt.
Ein Hinweis von Christian Modehn
1.
Wir sehen und betrachten James Ensor, seine Gemälde und Zeichnungen: Der Anlass: Vor 75 Jahren ( am 19. November 1949) ist der belgische Künstler, Autor eines vielfältigen und provozierenden Werkes, in seiner Heimatstadt Ostende gestorben. Geboren wurde er dort am 13. April 1860.
Als Einführung in sein Werk und Erläuterung zu seinem Leben empfehlen wir „Ensor“ von Ulrike Becks-Malorny, Taschen Verlag, 2016.
2.
Oostende, sein Heimatstadt, bietet ENDOR – Ausstellungen in der „Maison de James Ensor“ LINK
genauso auch weitere bedeutende Ausstellungen in Antwerpen, etwa im „Musée Royal des Beaux -Arts d Anvers“ LINK.
Das Museum in Anvers/Antwerpen verfügt über die wichtigste Sammlung von Ensor Werken weltweit.
3.
Ensor hat furchtbar gelitten unter der Ignoranz seiner Mitbürger gegenüber seiner Kunst. Am schlimmsten war für ihn die heftige Verachtung der Kunstkritiker.
Uns interessieren hier nur einige wichtige Aspekte im Werk Ensors. Ein Eindruck vom Gesamtwerk: „Ensors Vorliebe für die Phantasie wird in eine groteske und beklemmende Bilderwelt übersetzt. Der Künstler jongliert gleichzeitig mit erheiternden und höllischen Schöpfungen, gemäß den Erfahrungen unser sehr verrückten Träume,“ heißt es in einer Publikation des KMSKA Museums in Antwerpen.
4.
Gemälde philosophisch zu verstehen: Darum geht es uns. Voraussetzung ist das geduldige Betrachten der Bilder und Zeichnungen usw., genauso das Fragen nach der zentralen „Botschaft“, die bedeutend sein könnte für das Selbstverständnis der Menschen – auch heute. Philosophische Bildbetrachtungen kommen nicht ohne kunsthistorische Kenntnisse aus: Aber philosophische Deutungen gehen darüber hinaus, sie verstehen Gemälde als Ausdruck von unterschiedlichen Lebenserfahrungen, dabei werden sie provozieren und zu Gesprächen anstoßen. Aber das ist ja der Sinn philosophischer Bild-Betrachtungen.
5. Masken
James Ensor ist der Maler der Masken, der Künstler, der Menschen vorwiegend als Masken darstellt. Und zwar als Massenmenschen, die sich in den verrücktesten Masken verstecken. Menschen, wenn sie als Masse oder als Gruppe auftreten, benötigen Masken. Das berühmte und durchaus als ein „Hauptwerk“ geltende Gemälde „Der Einzug Christi in Brüssel im Jahre 1889“ ist dafür der beste Hinweis. Davon später.
Ensor der Menschen als Masken versteht und darstellt. Diese Option hat auch biographische Gründe: Ensor lebt als Kind und Jugendlicher bei seiner Mutter in Ostende, sie bietet in ihrem Geschäft viele Masken an und kann sie durchaus verkaufen, sie sind begehrt, zumal in Zeiten des berühmten Karnevals, eines herausragenden Ereignisses im Leben der Menschen von Ostende und der weiten Umgebung. „Ensor entwirft in seinen Bildern ein ganzes Universum verschiedener Masken…Dabei wendet er Gestaltungsweisen an, die auch die Karikaturisten benutzen: Übertreibung, Verkürzung, Verzerrung. Bei Ensor schlägt sich dies in einer Vielfalt der abstrusesten Physiognomien nieder…“(Ulrike Becks – Malorny, S. 58). So sehr also die Maskenwelt des Karnevals eine Rolle spielt für Ensors Interesse an Masken: Ihm geht es aber um Grundsätzliches und Aktuelles: Der Mensch ist Maske.
Darum ist nicht die Darstellungsform der vielen bunten Masken – Menschen in ihrer grellen farblichen Gestaltung entscheidend: Philosophisch wird erst die Erkenntnis: Menschen sind für Ensor nichts als Träger von Masken. Der Kunst -Historiker Wieland Schmied schreibt: „Hinter den Masken wird kein Leben gelebt; die Masken selbst sind die Wesen, mit denen es Ensor zu tun hat, niemand verbirgt sich hinter ihnen, hinter den Masken ist kein Gesicht“. (Wieland Schmied: „Zweihundert Jahre phantastische Malerei“, Band 1, DTV 1980, S. 217. ).
6.
Mit seiner Kunst kann Ensor seine persönliche Wut auf die ihm bekannten Maskenträger seiner Heimatstadt Ostende hinausschreien. „Die Masken gefielen mir auch, weil sie das Publikum verletzten, das mich so schlecht aufgenommen hat“, schreibt Ensor Anfang 1895, berichtet Wieland Schmied (s. 219). „Die Masken zeigen das Gefühl, an das Ensor die gefühllosen Menschen erinnern wollte“ (dort S. 221). In einer Publikation des KMSKA in Antwerpen heißt es. „Im Verlauf des 19. Jahrhunderts arbeiten viele Künstler zum Thema Masken, wie Munch oder Nolde. Aber bei ihnen bilden die Masken vor allem ein dekoratives Element oder sie sind ein Mittel, um mysteriöses Weise die Identität einer Person zu verstecken. Bei Ensor hingegen enthüllen die Masken im Gegenteil die tiefe Natur des Menschen. Und genau da geht Ensor neue, eigene Wege“. (Übersetzung: CM).
7. Christus
Ensor hat mehrfach in seinem Werk die Christus – Gestalt dargestellt, was erstaunlich ist, verstand er sich doch eher als Atheist denn als „Christus – Gläubigen“. Dennoch zeigt Ensor eine gewisse Wertschätzung Christi: In seinen Zeichnungen von 1885 tritt Christus immer in Verbindung mit dem dominierenden Licht auf. Von Christus geht strahlende Helligkeit aus, etwa in „Christus stillt den Sturm“ von 1891. Das Licht könnte als die entscheidende religiöse, sozusagen vor- konfessionelle Dimension im Werk Ensors verstanden werden.“ Das Licht gewinnt für Ensor religiöse Dimension. Seine Entdeckung ist für den Künstler eine Art `Erlösungserfahrung`“, schreibt Horst Schwebel in „Christus in der Kunst des 20. Jahrhunderts“, Freiburg 1893, S. 15-16.
Bekannt und geradezu berühmt ist wie schon erwähnt „Der Einzug Christi in Brüssel im Jahre 1889“, ein gewaltiges Werk, Öl auf Leinwand,: 252 cm mal 430 cm. Christus in der Mitte des Werkes, auf einem Esel reitend und die Menschen segnend, ist umgeben von einer wirklich massenhaften Masse von Menschen, alle sind sie Maskenträger, Christus zeigt seine Identität!Christi Gesicht erinnert stark an Ensor selbst, der sich – wie so häufig – in der Christus – Gestalt, in Christi Leidensweg, aber auch dem späteren Triumph der Auferstehung, wiederfindet und in ihm repräsentiert sieht. Es ist also der Christus – Ensor der da in Brüssel einzieht… Man wird das riesige Gemälde – auch in dem genannten Buch von Ulrike Becks – Malorny – lange Zeit betrachten, dabei auf die Transparente des dargestellten Spektakels („Vive la Sociale“) achten…
Auch in dem Gemälde „Ecce Homo“ von 1891 stellt sich Ensor als leidender Christus dar, umgeben von seinen Widersachern, den Kunstkritikern Fétis und Sulzberger. Aber der anklagende Blick zeigt einen gar nicht bescheidenen „Christus – Ensor“, er weiß, dass er der Siegreiche einst sein wird. Über den „späten Ruhm“ Ensors berichtet Ulrike Becks – Malorny auf S. 85ff.
8. Masken und Philosophen
Von Ensors Masken ausgehend kann man sich weiter die Frage aufwerfen: Wie sind Philosophen mit dem Thema Masken umgegangen? Hier kann nur auf Friedrich Nietzsche und Michel Foucault kurz hingewiesen werden.
8.1. Friedrich Nietzsche
Die Frage war für Nietzsche leitend: Warum verstellen sich Menschen, setzen sich Masken auf, leben also schließlich auch als Maske? Das wurde für Nietzsche wichtig, seit er sich mit dem „Problem des Schauspielers“ befasste. Bei Wagner hatte Nietzsche „den Hang zum Schauspielern“ entdeckt, diesen Hang „kannte er nur allzu gut an sich selbst“ („Nietzsche Handbuch“, 2000, Seite 318, Beitrag von Ingo Christians). Die Figur des Schauspielres ist bei Nietzsche also „negativ aufgeladen“ (ders. S.319). Positiver sieht Nietzsche die Vielgestaltigkeit des Menschen, weil für ihn jeder Mensch „mehrere Personen ist, die jeweils einzelne Qualitäten zusammenfassen und betonen (heute könnte man hierfür den Begriff de sozialen Rolle ins Spiel bringen); Maske ist damit für Nietzsche ein Ausdruck für die Vielgestaltigkeit und Komplexität des Menschen“ (ebd.). Schwierig wird es, wenn man die Erkenntnis ernst nimmt: Ist die Gesellschaft ausschließlich von Masken-Trägern bestimmt, gibt es dann noch „authentisches Leben“ und „authentische Äußerungen“ der einzelnen, also auch authentische und wahre sprachliche Äußerungen. Wenn alle Menschen als Maskenträger verstanden werden, verschwindet dann die Idee der Wahrheit für den einzelnen als Masken – Mensch Sprechenden? Und wie können die vom Masken- Mensch vorgebrachten Wort – Beiträge von anderen angesehen werden, sind sie nur Ausdruck einer bestimmten Wahrheit des Masken – Menschen zu einer bestimmten Zweit mit einer bestimmten Maske? Wie sind gegenteilige Äußerungen von dem selben Maskenträger zu späterer Zeit aber mit anderer Maske, zu verstehen. Man kann den Eindruck haben: Werden Menschen erst einmal prinzipiell als Masken ( – Träger) identifiziert, schwinden für alle gültige Wahrheit – Kriterien. Bei Nietzsche müsste man dann von dessen Definition der Wahrheit als einer „Funktion des Willens zur Macht“ sprechen…(zu Nietzsche siehe auch: Corinna Schubert, „Masken denken – in Masken denken“, Bielefeld, 2020).
8.2. Michel Foucault
Das Wort Maske spielt im Werk Michel Foucaults eine große Rolle. In seinem Buch „Dits et écrits I“, Gallimard S. 448 antwortet Foucault auf die Frage, was er als Philosoph als Einsicht der Psychologie wichtig fände: „Die erste Vorsichtsmaßregel (als Dozent) wäre, dass ich mir eine sehr perfekte Maske kaufen würde, die sehr weit entfernt ist von meiner normalen Physiognomie. So dass mich meine Schüler nicht erkennen. Ich würde versuchen, wie Antony Perkins in dem Film „Psychose“, auch eine ganz andere Stimme anzuwenden…“ Dabei hat Foucault das Ziel: Er will als Autor ganz hinter seinem Werk zurücktreten. Der Autor ist nicht wichtig, er trägt eine Maske, um nicht identifiziert zu werden. Das Werk zählt nicht der Autor. Kein Foucault Klischee, keine „begriffliche Einordnung“ seiner Arbeit soll als vereinzeltes Urteil gelten. Foucault will sich nicht „identifizieren“ (lassen) und verbirgt sich, versteckt sich, mit Masken. Er will kein (klassischer) Philosoph(ie-Professor) sein, aber ein philosophisch um die Wahrheit kämpfender vielseitiger Denker, also anders als die anderen und nicht zu identifizieren mit einigen Schlagworten…
(Siehe den Aufsatz „Le philosophe masqué“ von Jean Zoungrana, Philosophe, in “Le Portique“, 7/2001).
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