Jesus oder Christus? Eine Dialektik, die zu denken gibt.

Eine Dialektik, die zu denken gibt … und eine vernünftige Spiritualität fördert
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Jesus oder Christus? Ein Titel, der provozieren will, der also ein neues Nachdenken fördern möchte. Es geht um eine kritische Reflexion auf ein selbstverständlich daher gesprochenes Bekenntnis, der Einheit von Jesus (von Nazareth) und Christus in einer zusammen geschlossenen Formel „Jesus Christus“.
Dieses Thema sollte nicht nur spirituelle Menschen interessieren. Es bestimmt unsere europäische Kultur/Religions-Geschichte, es ist daher von grundlegender Bedeutung.
Es muss also diese übliche, aber oft gedankenlos gesprochene Synthese „Jesus Christus“ auseinandergenommen werden. Denn diese von den Kirchen schon in frühesten Zeiten definierte Formel „Jesus Christus“ führt letztlich, im Ganzen betrachtet, zur Bevorzugung der Christus-Gestalt und des Christus-Bildes. Dabei ist „Christus“ nur ein Titel! „Christus“ ist als solcher keine bestimmte Person, sondern ein Ehren-Titel, der dann mit der besonderen Qualität dieses Menschen Jesus von Nazareth in eins gesetzt wurde. Später hat die Kirche offiziell Jesus z.B. auch den Titel „König“ gegeben und von „Christ – König“ gesprochen. Abstrakt und nur allein für sich verwendet ist also eigentlich „Christus“ sinnvoll gar nicht sagbar. Aber das geschieht indirekt und unbewusst ständig. Damit ist eine inhaltliche Fixierung auf diesen Titel Christus
Gegeben. Und dann wird doch im zweiten Schritt ein „Christus“ auch inhaltlich konstruiert, der die unabweisbare Bindung an den einmaligen Menschen Jesus von Nazareth (und seine Lebensform, seine humane Praxis etc.) verdeckt. Dieser sozusagen dann halbierte Christus ist in der kirchlichen Dogmatik der Herrscher, der Thronende (siehe die entsprechende Ikonographie, Ravenna et.), der Gott, der logos, die Zweite Person der Trinität usw. Konsequent wird auch dies als Dogma gelehrt: Christus als Gott, man denke an die Gebete in der offiziellen Liturgie etwa der katholischen Kirche, in denen von Christus als „unserem Herrn und Gott“ immer wieder die Rede ist.
Bei der Freilegung dieser Dimension wird erneut bewusst, dass das Christentum als Christus-Religion – trotz aller internen Pluralität – eine ganz und gar eigene Religion ist, die aus dem Judentum herausgewachsen ist. Darum ist die häufige Verwendung des Begriffspaares „christlich-jüdisch“ in christlichen Kreisen eher eine Verschleierung; die tatsächliche Nähe und Verbundenheit mit der jüdischen Religion ist bei dieser Christus-Religion fraglich. Aber das ist ein Thema, das eigens diskutiert werden müsste. Jüdische Theologen sind da deutlicher, sie wissen von der tiefen Differenz von Judentum und Christentum als zwei verwandter, aber verschiedener Religionen….
Nur dies noch: Wenn Christus, sozusagen abstrakt als solcher im Mittelpunkt steht, dann wird auch aus Jesu Mutter Maria folgerichtig die „Gottes-Mutter“ oder die „Mutter Gottes“ in der dogmatischen Welt der Orthodoxie und des Katholizismus genannt. Natürlich wurde den Dogmatikern, die den Christus – Herrscher seit der frühen Kirche verteidigten, etwas blümerant zumute, wenn sie im Rahmen ihrer Definiersucht von Christus „einfach so“ als Gott und von Maria als der Gottes Mutter sprachen. Und sie haben deswegen leichte Nuancen eingeführt, etwa die Lehre von den zwei Naturen Christi, einer menschlichen und einer göttlichen usw.
Aber es ist nicht zu leugnen: Letztlich hat sich in den meisten hierarchischen Kirchen und Staatskirchen die Vorstellung von Christus durchgesetzt, also von Christus ohne Jesus von Nazareth, das gilt für die Sprache, die Liturgie, die Volksfrömmigkeit. Kunsthistoriker könnten zeigen, wie in der Darstellung Jesu Christi sehr deutlich die Christus – Gestalt herausgestellt wurde. Wenn moderne Künstler sehr deutlich die Jesus von Nazareth Person in den Mittepunkt stellten, wurden sie kirchlicherseits ignoriert oder diffamiert.
Aber ist einmal die übliche Verbindung Jesus Christus auseinander genommen, dann eröffnen sich weite und neue Perspektiven: Sie führen in die (Geschichte der) Philosophie, der Literatur, der Kunst usw. Da wird eine Bevorzugung des Menschen Jesus von Nazareth deutlich. Die kann bis heute inspirieren.
Auch die persönliche Lebensgestaltung ist davon berührt: Welches Vorbild ist maßgeblich? Klar ist auch: Über Jesus von Nazareth wissen wir historisch wirklich einiges, selbst wenn einzelne seiner Denkformen wenig inspirierend sind, wie das alsbaldige Ende der Welt und seine „Wiederkunft“. Diese Vorstellung ist nur aufgrund von Jesu Einbindung als Mensch in die damaligen religiösen Vorstellungen zu verstehen.
2.
Wer als spirituell interessierter Mensch Jesus von Nazareth als zentrale „Bezugsperson“ verteidigt, setzt auf persönliche Freiheit in seinem Glauben, auf Pluralität der Deutungen und Haltungen im Umgang mit dem Initiator des Christentums. Wer hingegen Christus gewisser Weise als Mittelpunkt sieht, bevorzugt die dogmatische Fixierung, das Starre, das Herrschende. Man denke nur an die Christus-Darstellungen der Basiliken. Oder, als Gegensatz: Man denke an die frühen Jesus Darstellungen in den Katakomben in Rom, die „Jesus als guter Hirt“ zeigen. Die Tradition der Kreuzweg-Andachten oder die Tradition der „semana santa“ in Spanien sind extrem populäre Beispiele für eine Bevorzugung Jesu im „Volk“. Und man bedenke vor allem: Die Päpste nennen sich bis heute bezeichnenderweise „Stellvertreter Christi“, dieser anspruchsvolle Hoheits – Titel wird in dieser Formulierung im offiziellen römischen Katechismus von 1993 mit Bezug auf das 2. Vatikanische Konzil bis heute verbreitet. Päpste vertreten Christus, den Herrscher, selbst wenn ein Papst Jesuit (Mitglied des Jesuitenordens) ist. Aber auch dieser Orden (der sich als einziger Männerorden in seinem Titel direkt auf Jesus bezieht und nicht bloß etwa nur auf sein heiliges „Herz“) hat im Laufe seiner Geschichte entschieden nur aufseiten der Stellvertreter Christi gestanden und die Inquisition (und die Ausarbeitung des Index der verbotenen Bücher) unterstützt. Der jesuanische Geist setzt sich erst in neuester Zeit durch, etwa in den Aktivitäten des Ordens zugunsten der Flüchtlinge…
3.
Das ist schon komisch: Ein Papst, der sich „Nachfolger des armen Jesus von Nazareth“ nennen würde, ist eigentlich undenkbar. Er müsste sofort seine Allmacht, Unfehlbarkeit, aufgeben und den Vatikan mit seinen Palästen verlassen. Und sich mit einem schlichten Anzug bekleiden. Es wäre historisch sehr reizvoll zu fragen: Inwiefern die große Hochschätzung der Päpste für den eigenen Kirchen – Staat (bis heute) auch in einer einseitigen Christus- (König) Bindung zu tun hatte und hat. Ein Papst als Stellvertreter Jesu von Nazareth, wenn denn diese Formel überhaupt noch Sinn macht, bräuchte keinen Vatikan – Staat. Wenn er sachlich kompetent wäre, würde er wohl trotzdem zur UNO oder ins Europaparlament eingeladen werden. Ob dieser Papst noch Nuntien in allen Ländern bräuchte, die sozusagen auch Spione der jeweiligen Ortskirchen arbeiten, ist noch mal eine andere Frage.
4.
Noch einmal: Es gibt die Bekenntnis-Formel „Jesus Christus“, sie ist weit verbreitet. Aber der rebellische Jesus hatte bei dieser Formel keine Chance, inhaltlich bestimmend zu werden, also nicht der Jesus als Freund der Frauen oder als Freund der Armen, auch nicht der Jesus, der mit einer Anzahl von Geschwistern bescheiden in Nazareth als Tischler lebte (übrigens ein damals hoch angesehener Beruf, der große intellektuelle Fähigkeiten verlangte.) Wer Jesus in den Mittelpunkt stellt, muss immer an Jesus als den Juden denken. An einen Lehrer und Propheten im damals schon pluralen Judentum, der tätiges Tun der Liebe, Praxis, viel wichtiger fand als das bekennende, aber gedankenlos plappernde „Herr – Herr – Sagen“, das Jesus von Nazareth verachtete.
Christus ist immer der in die griechische Philosophie eingerückte „logos“…und auch eine Art Objekt, das man katholischerseits kniend in der Hostie anbetet und diese Anbetung eines Stückchens Brot als Christus in einer goldenen Monstranz dann als wichtige Glaubenspraxis versteht. Unvorstellbar, dass man in diesen goldenen Rahmen irgendein Stückchen des armen Jesus von Nazareth, den Propheten, setzen würde.
5.
Jesus oder Christus ist also alles andere als eine harmlose Alternative: Sie berührt den Anspruch der Kirche(n), machtvoll als Institutionen zu bestehen mit einem aller heiligsten „Objekt“, Christus, das nur entfernt mit Jesus, dem aus dem Judentum stammenden Initiator der christlichen „Bewegung“, zu tun hat. Man bedenke ferner, dass die aktuellen caritativen und diakonischen Hilfen der Kirchen/Christen sich auf Ereignisse, Taten, Erzählungen Jesu von Nazareth beziehen, man denke nur an die Geschichte vom „Barmherzigen Samariter“. Auf den Christus – Imperator, Christ – König, können sich bestenfalls Imperatoren, Kaiser, Könige beziehen.
Eine „Jesus-Kirche“ wäre ganz anders als die übliche machtvoll herrschende Christus-Kirche. Das gilt natürlich nicht nur für die römisch-katholische Kirche, sondern auch für die durch und durch institutionalisierte und damit bürokratisierte evangelische Kirche in Deutschland. Man zähle einmal, wie viele Kirchenräte und Oberkirchenräte es in Deutschland gibt und frage ich, wofür so viele Leiter von Behörden gebraucht werden.Bei den Milliarden-Kirchensteuer – Aufkommen immer noch ist dies kein Wunder. Das gilt auch für die Orthodoxie, die in ihrer, so wörtlich, göttlichen Liturgie eben eine Christus-Liturgie absolviert (in unverständlichen, uralten Sprachen zudem auch die Metropoliten und Patriarchen, etwa der in Moskau, sind eher bestens finanziell ausgestattete Herrscher (und Putin-Ideologen) als Nachfolger des armen Jesus von Nazareth. Das hat in anderer Form schon Tolstoi geschrieben…
6.
Die Tradition der „Jesuaner“ ist keineswegs etwas „Sektiererisches“, abgesehen davon, dass immer die Herrschenden definieren, wer Sektierer ist und wer nicht. Niemals werden sich die machtbesessenen Verwalter der reinen Lehre selbst Sektierer nennen, obwohl sie – theoretisch wie praktisch oft – weit entfernt sind von dem, was Jesus etwa in seiner Bergpredigt lehrte. In der Hinsicht sind also diese Herren Sektierer, Abweichler. Aber das ist ein anderes Thema.
7.
Mir geht es hier vor allem nur darum, an einige Personen, Philosophen, Theologen, Literaten zu erinnern, die in dem Christus geprägten Kirchensystem immer wieder an Jesus von Nazareth erinnerten. Dieses Vorhaben ist naturgemäß umfassend und ist nur interdisziplinär zu leisten, also unter Literaturwissenschaftlern, Religionswissenschaftlern, Philosophen, spirituellen Meistern, ob auch katholische Theologen dazu gehören können, wage ich angesichts der immer noch gegebenen Gehorsams-Bindung dieser Theologen an das offizielle Lehramt zu bezweifeln.
8.
Zunächst nenne ich – vielleicht als „aufmunternden“ Impuls zum Thema – Friedrich Nietzsche, und zwar sein letztes, noch bei geistiger Gesundheit verfasstes Buch „Der Antichrist“. Das Manuskript wurde von seiner Schwester dann verfälscht herausgegeben, und erst in den neunzehnhundertfünfziger Jahren korrekt ediert.
Es fällt auf, dass Nietzsche in dem „Antichrist“ ab Kapitel 27 sehr viel Zuneigung zu Jesu von Nazareth zeigt, in früheren Werken hat sich Nietzsche nie so positiv über Jesus geäußert. „Nietzsche jahrelange Verwerfung Jesu als der Verkörperung alles Hassenswerten am Christentum zerfällt lautlos“, schreibt Heinrich Detering in seiner Studie „Der Antichrist und der Gekreuzigte“, Göttingen 2020, S. 95. Detering hat sehr ausführlich diese in weiten Kreisen eher unbekannte späte Jesus- Zuneigung Nietzsche interpretiert. Es ist immer typisch für den Umgang mit der Jesus – Gestalt, dass jeder und jede sich berechtigterweise die Freiheit, seinen/ihren Jesus zu zeichnen, oft ist dabei die Auseinandersetzung mit den Quellen im Neuen Testament gründlich oder nicht. Nietzsche jedenfalls setzt sich von dem damals populären Jesusbild des französischen Religionsphilosophen Ernest Renans ab. Nietzsche sieht Jesus als einen Menschen, der ganz in der Gegenwart, der dauernden Gegenwart, lebt, jeder Augenblick ist ihm heilig, die innere Regung für das Menschliche…Der Gedanke an die Zukunft spielt keine entscheidende Rolle in Nietzsches Jesus – Deutung. Nietzsche geht soweit, Jesus einen freien Geist zu nennen, „die höchste Auszeichnung, die Nietzsche für einen Menschen zu vergeben hat“ (Detering, S. 52). Aber: Dieser Jesus stirbt am Kreuz und mit ihm stirbt seine Botschaft, das Evangelium. Es folgt nämlich, so Nietzsche, die Kirche, die alles daransetzt, diesen „freien Geist Jesus“ auszulöschen. In dieser spirituellen Lehre danach wird Raum geschaffen für den Antichristen, der eine neue Wertordnung setzt, die leider von den humanen Impulsen Jesu nichts mehr übriglässt. Es wäre darum, Nietzsche folgend, zu diskutieren, wie gerade die Kirche als Institution nicht nur Jesus und sein Evangelium verrät und fallenlässt, sondern auch: Wie die Kirche indirekt dadurch schuld ist an der Durchsetzung des Antichristen….
9.
Genau an dieser Stelle wäre von Leo Tolstoi zu sprechen und seiner Bindung an Jesus von Nazareth, an die Vorliebe des russischen Dichters für die Bergpredigt und die heftigste Kritik an der offiziellen russisch-orthodoxen Kirche und ihrer machtvollen Hierarchie. Es ist der Jesus – Impuls, der das Werk Tolstois bestimmt. „Die kirchlichen Riten etwa die Verwandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi, wurden in Tolstois Beschreibung zur Farce, zu einer Lüge, auf der das gesamte, so wörtlich, menschenfressende System gründete . Deswegen wurde er im Jahr 1901 von dieser Kirche exkommuniziert. Tolstoi schrieb in dem Zusammenhang einen sehr viel beachteten Text: “Ich glaube, dass Gottes Wille ganz klar und verständlich ausgedrückt ist in den Lehren des Menschen Jesus, den als Gott zu betrachten und anzubeten ich für die größte Gotteslästerung halte…“ Der Kampf Tolstois gegen das verbrecherische Regime des Zaren ist bestimmt von seiner Vorliebe für den vorbildlichen Menschen Jesus von Nazareth. (https://www.grundrisse.net/grundrisse44/Anarchismus_und_Christentum.htm).
Selbst in seinen letzten Stunden wünschte Tolstoi keine Versöhnung mit dieser allmächtigen, Christus und nicht Jesus feiernden Staatskirche (Leo Tolstoi, Rowohlt Monographie, Reinbek 2010, S.111 und 136)
10.
Und dieser Jesus – Impuls bricht auf unter marxistischen Intellektuellen, etwa Karl Kautsky oder Ernst Bloch und später dann Milan Machovec oder Leszek Kolakowski bis zu den anarchistischen Philosophen wie Fürst Peter Kropotkin (1842 – 1921). „Peter Kropotkin – einer der wichtigsten Vertreter des kommunistischen Anarchismus und sicher weit davon entfernt ein christlicher Anarchist zu sein – gesteht dem Christentum zum Beispiel zu, dass es erst durch die Institutionalisierung korrumpiert worden ist, wenn er das Christentum als „die Empörung gegen das kaiserliche Rom“ beschreibt, das „durch dasselbe Rom“ besiegt wurde, indem es „dessen Maximen, Sitten und Sprache an[nahm]“ und so „römisches Recht“ wurde. Er ging sogar noch weiter und schrieb, dass es „in der christlichen Bewegung […] zweifellos ernstzunehmende anarchistische Elemente“ gegeben habe. Der „anarchistische[.] Gehalt“, den er in den „Anfängen“ des Christentums verortete, verschwand für ihn aber, als „diese Bewegung [allmählich] zu einer Kirche [entartete]“.
Diese Argumentation unterscheidet ihn von vielen christlich-anarchistischen TheoretikerInnen de facto nicht. Kropotkin war es auch, der in seinem Anarchismus-Artikel für die Encyclopædia Britannica (eleventh ed.) die frühen Hussiten, die Anabaptisten (Wiedertäufer) und den Theologen Hans Denck im positiven Sinne für erwähnenswert erachtete“.(Aus einem Beitrag von Sebastian Kalicha: https://www.grundrisse.net/grundrisse44/Anarchismus_und_Christentum.htm
11.
Von Albert Camus und Jesu wäre zu sprechen: Für Camus ist Jesus eine Art Verleiblichung des Dramas der Menschheit: „Er ist nicht der Gott – Mensch, sondern der „Mensch-Gott“, schreibt Camus. Er ist begeistert von einem Gott mit menschlichem Antlitz, ein Gott, der in Jesus sichtbar wird. In dem Roman Die Pest erscheint dieses Gesicht des Menschen-Gottes im Bild des unschuldig Leidenden, in dem Kind, das im Sterben liegt. Camus nimmt sich natürlich alle Freiheit, seinen Jesus zu zeichnen, der als Gottverlassener am Kreuz eine absurde Erfahrung macht, der sich aber vorher gegen Unrecht aufgelehnt hat.
Erst wenn Menschen frei und unzensiert ihr Jesus – Bild beschreiben können und selbstverständlich auch bei ihrer Position bleiben dürfen, wird der spirituelle Dialog reicher.
12.
Bei unserem Thema kann man auf einen Blick auf Hegel nicht verzichten: In der Philosophie seiner früheren Jahre hat er sich deutlich auf die Gestalt Jesu von Nazareth bezogen. Später, vor allem in Berlin, in den Vorlesungen über die Philosophie der Religion spricht er nur von Christus. Aber dies ist nicht die Herrscher – Gestalt, sondern die Person, die allen Menschen deutlich macht: Jeder Mensch ist mit dem göttlichen Geist begabt. Dies ist keine fromme Behauptung, sondern im Rahmen seiner Logik eine Erkenntnis, die hier nicht weiter erläutert werden kann. Wichtig ist nur: Wenn der Mensch mit göttlichem Geist ausgestattet ist, dann bedeutet dies: Göttlicher Geist ist Vernunft, und dieser verlangt die vernünftige Gestaltung der Wirklichkeit, selbstverständlich der politischen. Wenn also Hegel Christus in den Mittelpunkt stellt und diesen umfassend und adäquat nur in der Philosophie verstehen kann, dann ist damit auch ein praktisches Lebensverhältnis eröffnet, ein politisches, die Forderung zur vernünftigen Umgestaltung der Welt ist in dieser Christus – Bindung Hegels offensichtlich. Christus wird förmlich zum philosophischen Symbol einer humanen Gestaltung der Wirklichkeit. Hegel sah in diesem vernünftigen Christus-Bild eine Chance für die Moderne, weil dadurch auf religiösen Fundamentalismus verzichtet wird zugunsten der Frage: Wie kann die Wirklichkeit vernünftig (und eben nicht den Geboten einer Religion entsprechend) gestaltet werden
Nicht alle Beziehungen zu Christus sind also von dogmatischer Starre geprägt.
13.
Wo also lebt der jesuanische Geist – heute?
Ich möchte eine Dialektik vorschlagen: Der jesuanische Geist als Idee und Tat, inspiriert von der Weisheit des Propheten Jesus von Nazareth, lebt heute vor allem bei vielen Mitgliedern der NGOs, der „Ärzte ohne Grenzen“, der „Reporter ohne Grenzen“, also der Menschenrechtsbewegungen, der feministischen Bewegungen, der „friday for future“, der Anti-Atom-Bewegungen usw. In der Erinnerung lebt Jesus weiter in den „Samariter-Hilfsdiensten“, bekanntlich bezogen auf Jesu Erzählung vom „barmherzigen Samariter“.
Und Christus? Der gilt sehr viel bei den Dogmatikern, den Menschen, die (nur) schöne lateinische Liturgien lieben, aber Ungläubige verachten, Homosexuelle verfolgen (siehe Polen usw.) und Frauen keine Gleichberechtigung in der Kirche geben, weil eben „ihr“ Jesus als ihr Christus nur Männer als Apostel wollte oder: die Protestanten vom Abendmahl ausschließen usw.
Die Dialektik ist klar: Lebendigkeit, Pluralität, Kritik und Selbstkritik, letztlich demokratische Mentalität, sind bei den direkt oder anonym sich auf Jesus beziehenden Menschen zu finden. Die andere Seite der Dialektik ist klar…
Ob sich noch einmal eine wahrhafte Synthese von „Jesus (von Nazareth) Christus“ finden lässt? Ich bezweifle das. Die Wege der Dialektik haben sich getrennt. Das heißt ja nicht, dass innerhalb der „Christus“ – Kirche einige jesuanische Menschen leben. Aber sie haben keine prägende Stimme in der Institution, sie sind Außenseiter, bestenfalls geduldet. Man denke, um nur drei aktuelle Beispiele zu nennen, an Bischof Casaldaliga (Brasilien) oder Bischof Gaillot (Frankreich) oder auch an Abbé Pierre (Frankreich)…
14.
Ich bin mir bewusst, dass man heute von Jesus von Nazareth nicht naiv fundamentalistisch sprechen darf. Das will ich überhaupt nicht. Ich meine nur, dass heute durchaus einige Kennzeichen des Mannes aus Nazareth ziemlich deutlich sind. Und die allein genügen schon, eine Dialektik gegenüber dem machtvollen Herrscher Christus aufzubauen.
Dialektik strebt für Hegel bekanntlich immer zu einer Versöhnung. Diese kann nur daran bestehen: Immer genau zu sagen: Wir meinen den „Jesus von Nazareth als Christus“. Und dieser Jesus ist, noch einmal, bei aller nun einmal geschichtlichen Begrenztheit seines individuellen Lebens, nicht nur der Menschenfreund, sondern der Verteidiger der Armen, der Zukurzgekommenen, der von Gesetzen Unterdrückten. „Brüderlichkeit“, also „Geschwisterlichkeit“, ist nur mit Jesus von Nazareth erreichbar, nicht mit Christus als dem Symbol der Herrschenden. Es wäre ausführlich zu zeigen, wie etwa die ersten Revolutionäre ab 1789 in Frankreich sich auf Jesus (!) bezogen haben und welche Rolle Jesus spielte 1848 oder in der Pariser Kommune 1871.
15.
Wenn man also noch einmal die kirchlichen Welten betrachtet, dann gilt: Die übliche Formel „Jesus Christus“ weiterhin zu sprechen, reicht nicht mehr! Und diese Formel ist eine ideologische Irreführung. Meines Erachtens kommt eine wirkliche spirituelle und damit menschliche Lebendigkeit erst dann, wenn darauf verzichtet wird, an erster Stelle den Christus (das Herrschaftssymbol) zu verehren, selbst wenn dann noch das Beiwort Jesus gedankenlos mitgesagt wird.
Dieser Christus ist der Gott der Herrschenden und Dogmatiker (Päpste, Patriarchen, Metropoliten, Oberkirchenräte usw.). Christus verlangt Anbetung, Jesus humane Praxis!
16.
Jesus von Nazareth ist ein freier Geist, wie Nietzsche richtig sagte, an ihm kann man sich orientieren, wenn man auch religiös frei, vernünftig und human leben will. Und wenn man als Mensch solidarisch und mit Empathie leben will, ob man nun konfessionell ist oder nicht. Das ist „im Sinne Jesu“ wahrlich egal (vgl. Matthäus, 25, 31-46). Jesus verlangt keine Anbetung, er lehrt, so fragmentarisch auch immer seine Lehre wirkt, eine Philosophie des Lebens als der praktischen Lebensgestaltung.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Weihnachten – das Fest der (göttlichen) Unterbrechung und der Menschenrechte.

Hinweise von Christian Modehn zum religionsphilosophischen Salon am 14.12.2018

Zuerst einige Hinweise zu einer kleinen Philosophie des Festes als einer not-wendigen Unterbrechung im Leben. Dann, damit zusammenhängend und auf Weihnachten bezogen, einige Hinweise zu der Überzeugung: Gott selbst unterbricht sich. Gott wird Mensch. Zu Weihnachten gedenken/feiern Christen also den menschlichen Gott, d.h. Gott als Menschen und den Menschen, jeden Menschen, ja auch dieses in gewisser Weise, als göttlich. D.h. in säkularer Sprache: Absolut wertvoll. Von daher ist Weihnachten das Fest der universalen Menschenrechte. Selbstverständlich der ideologisch, kapitalistisch usw. NICHT missbrauchten Menschenrechte.

Ein Fest hat wesentlich den Charakter der Unterbrechung.

Wir können ein (Weihnachts-)Fest feiern, wenn wir noch in der Lage sind, ein Fest außerhalb der üblichen Gewohnheiten und Strukturen des Alltags zu gestalten und eben nicht bloß – zwangsweise, traditionsgemäß etc. – zu „begehen“. Feste als Routine werden ohne innere Bewegtheit, ohne spirituelles Berührtsein, ohne „Resonanz“ (Hartmut Rosa) bloß “abgefeiert”. Mit Gästen, die sich langweilen. Diese Feste werden ohne Vorbereitung, ohne Reflexion zuvor, ohne eine(n) „Zeremonienmeister(in)“, ohne eine kleine „Liturgie“, bloß „abgewickelt“. Ein Fest hat viel mit lebendigem Ritus, mit Hinhören und Nahesein, Überraschung, Spontaneität, mit Gemeinschaft ohne dauernde „Bla Bla“-Gespräche, zu tun, also auch mit Ausgelassensein, Tanz, Musik, Ekstase, Reflexion, Dialog und mit gemeinsam ausgehaltenen, erfreulichen Schweigen. Warum wird bei Festen nicht auch einmal gemeinsam geschwiegen? Mir scheint: Die meisten Europäer können keine Feste (mehr) in dieser Weise feiern. Weil der Alltag mit seinen Strukturen von Zeit (-„Managment“), Streß und Frust allbestimmend ist.

Für ein Fest brauchen alle Beteiligten Zeit UND inneres Offensein. Und Zeit haben heute immer weniger Menschen. Aber nur, wenn wir dieses Wichtige (Zeit) im Leben neu gestalten, wenn wir also im Fest aus der einseitig nach vorn laufenden Zeitlinie heraustreten können und wollen, wenn also eine „lange Gegenwart“, als dauernder und gewünschter langer Augenblick entsteht, dann ist ein Fest ein Ereignis des Miteinanders.

Wir können oft Feste nicht mehr feiern, weil wir sie nicht als Unterbrechung, sondern als lediglich als eine uns vorgesetzte, eine aufgesetzte kurze, zeitlich determinierte Pause verstehen. Zum Beispiel: Auch christliche Gottesdienste, die eigentlich immer ein Fest sein sollten, sind heute nur “Pausen”: Bei den Gottesdiensten schauen so viele schon auf die Uhr. Christliche Gottesdienste als gemeinsames Mahl und Miteinander des Sich-Austauschens sind weithin verschwunden. Sie wurden zur Routine. Und haben mäßigen Zuspruch: Wer will schon in seiner freien Zeit auch noch an rituellem Leerlauf teilnehmen? Die Gottesdienste in Taizé selbst z.B. werden wohl von vielen als Fest der Gemeinschaft erlebt, ohne Zeitdruck, ohne Floskeln etc. ein Ort, an dem die petsönliche Poesie, Gebet genannt, gelingen kann. Leider ersetzen diese Taizé-Feierstunden nicht die üblichen langweiligen Messen und Gottesdienste um 10 Uhr morgens…

Aus einer Pause kehrt man nur ein bisschen entspannt und etwas innerlich bewegt wieder in den alten Lebens/Arbeitsrhythmus zurück. Eine Pause ist noch keine Unterbrechung, denn diese zeigt neue Lebensmöglichkeiten. Unsere auf Fortschritt und Wachstum getrimmte Zivilisation versteht Pausen, auch den Kurz-Urlaub, nur als funktionale Formen der Rekreation, um dann in den vorgegebenen Alltags- und Arbeitsprozess „mit bester Gesundheit“ zurückzukehren. Die „Auszeit“ wird heute oft propagiert, sie steht wahrscheinlich aber auch noch im Dienst einer zu stärkenden Arbeitskraft, als Rückkehr ins alte Leben und der Wiederholung der üblichen Rhythmen und Arbeiten.

Ein Fest hingegen lässt sich nicht funktionalisieren! Es ist in sich sinnvoll und zeigt überraschende Wirkungen möglicherweise. Ein Fest dient nicht der Steigerung der Arbeitsfähigkeit. Es dient der Kommuniktionfähigkeit und Lebenslust.

Eine Unterbrechung hingegen ist also eine längere zeitliche Einheit, in der man Abstand nimmt vom üblichen Rhythmus zuvor; die Unterbrechung selbst wird als eine eigene Lebenswirklichkeit erfahren und reflektiert. Eine Unterbrechung kann eine von außen erzwungene Unterbrechung sein, etwa eine Krankheit; sie kann aber auch und dies ist wichtig, ein frei gewählter Abschied, wenigstens für kürzere Zeit, sein, Abschied vom „früheren Leben“ und früherem, für selbstverständlich gehaltenen Denken mit seinen je eigenen Werten.

Die Unterbrechung selbst ist eine eigene Zeit:

Man lässt die alte Alltagswelt hinter sich, man verabschiedet sich förmlich vom Alltag, tritt in einen freien Zeit-Raum, der voller Überraschungen sein kann und neuen Einsichten, und weiß, aus diesem freien Zeitraum, genannt Unterbrechung, tritt man ins Alltags-Leben verändert heraus: Man kehrt ja nach der Unterbrechung wieder ins Alltägliche zurück, aber in ein nun zu veränderndes Alltägliches: Denn du hast dein Leben und Denken (ein bisschen, vielleicht tiefer gehend) verändert mitten in der Unterbrechung. Du erlebst dich anders, denkst auch anders, du hast andere Werte und Ziele.

Weihnachten ist als Fest eine Unterbrechung.

Es ist ein Fest, über das christlich gebildete Menschen wissen: Gott unterbricht sich selbst. Das Fest als Unterbrechung findet sozusagen zu Weihnachten eine Art „göttliche“, absolute Bestätigung.

Die Kirchen haben auch zugelassen, dass Weihnachten wohl weltweit zum Konsumrausch wurde. Und mit Kitsch und Lametta zu einem meist banalen Weihnachtsmarkt-Unternehmen entartete. Weihnachten und Markt gehören ganz eng zusammen. Die Kirchen lassen das zu. Die Kirchen haben keine eigene Weihnachtskultur entwickelt. Sind die überfüllten, oft hektisch „abgesungenen“ Weihnachtsgottesdienste Ausdruck einer Weihnachtskultur? Ich denke: Sie sind es eher nicht.

Ich schlage als Beleg dafür, dass Gott sich selbst unterbricht, um es in einer dem Mythos entlehnten Sprache zu sagen, eine Lektüre eines Textes aus dem Neuen Testament vor. Im Philipperbrief des Apostels Paulus wird gezeigt: Die Metaphysik des herrschenden allmächtigen Gottes in einem fernen Himmel wird überwunden. Es gibt einen Gott, der sich verändert, der auf seine Macht verzichtet.

Nur als Hintergrund angedeutet: Das Neue Testament ist ein Buch voller unterschiedlicher Vorschläge zur Lebensgestaltung. Über die man selbstverständlich sich kritisch verständigen soll. Das Neue Testament ist ein Buch der Lebensweisheit, das sollte man endlich wahrnehmen, formuliert von Menschen, die ganz unter dem Eindruck einer ihnen einmalig erscheinenden Person, Jesus von Nazareth, lebten. Und die dieses innere Bewegtsein von dieser Person anderen weitergeben wollten. Dabei haben diese Autoren des Neuen Testaments auch viel Unsinn – in heutiger Sicht – gesagt, etwa zum Thema Frauen in der Kirche oder zur Homosexualität. Nicht alles ist weise im Neuen Testament, aber doch vieles. Wenn man es richtig übersetzt, auch säkular übersetzt.

Und so ist auch der jetzt folgende Text aus dem Philipperbrief des Apostels Paulus ein Vorschlag zu einem Verständnis der eigenen Existenz und der Welt: Auch ein Bibeltext hat niemals nur eine einmal autoritär festgelegte Sinnrichtung und Interpretationsmöglichkeit. Ein Text schenkt sich dem Leser zu einem je neuen und je eigenen Interpretieren. Weil der Text selbst in seiner Sprache schon eine Pluralität des Verstehens enthält. Der Philosoph Emmanel Lévinas sagt: „Biblische Texte werden gewissermaßen vom Leser fortgeschrieben. Derjenige, der geschrieben hat, hat mehr gesagt, als er selbst denken konnte. Als ob es ein Denken gäbe, das mehr zu denken vermag, als es denkt und sagt“ (In: „Aussichten des Denkens“, S. 43).

Noch einmal zum Philipperbrief, 2.Kapitel: Gott selbst, lehrt Paulus, setzt eine Unterbrechung. Und zwar radikal: Er unterbricht sich selbst. Er will für sich selbst, für sein göttliches Leben möchte man fast sagen, eine Unterbrechung, d.h: Gott selbst will Neues, Welt und Menschen Veränderndes. In dieser Sicht ist die Vorstellung nicht mehr möglich, Gott sei ewig derselbe.

Wem das Wort Gott zu abgenutzt oder zu diffus erscheinen mag: Ich könnte auch sagen: Der grundlegende und alles tragende letztlich gute Sinn zeigt sich je neu; in einer Unterbrechung offenbart sich neuer Sinn…

Ich verwende aber den Begriff Gott, weil er ein Symbol ist für eine Wirklichkeit, die in der Tradition immer wieder verwendet wurde und wird. Wir haben vielleicht kein anderes Wort zur Verfügung?

Der Theologe Paulus dachte anfangs sehr systematisch: Gott im Himmel, der Mensch auf Erden. Dieser Vorstellung des Apostels Paulus folgend schreibt Paulus im Philipperbrief das Provozierende: Der Logos wird Mensch. Das bedeutet nichts anderes: Gott selbst wird ganz menschlich. Dies ist die zentrale These. Wenn man das weltlich interpretieren will: Der grundlegende Sinn zeigt sich neu mitten in der Welt.

Der Theologe Paulus geht davon aus, dass es Gott gibt; dass er „im Himmel“ lebt; dass er als lebendiger Gott „nicht allein im Himmel ist“, sondern einen Logos, eine göttliche Weisheit, bei sich hat. Dies ist die Rede von der Prä-Existenz des göttlichen Logos in himmlischen Sphären. Das Prä, das Zuvor, bezieht sich auf seine dann Existenz eben in Himmelshöhen. Aus der göttlichen Himmelswelt tritt der Logos heraus. Wird Mensch, wird Welt. Dies ist eine Revolution der Gottes-Bilder.

Zum Kapitel 2 des Philipperbriefes des Apostels Paulus: Philippi ist eine Stadt in der Nähe von Kavala in heutigen Nordgriechenland. Diese erste christliche Gemeinde in Europa wurde von Paulus im Jahr 49 gegründet. Der kurze Text im 2. Kapitel enthält zuerst die Aufforderung an die Gemeinde, sich der Existenz-Form, also der Gesinnung Jesu von Nazareth, anzuschließen. Dies ist eine übliche Einladung an die Gemeinde, die Lebensphilosophie des Christlichen zu leben und zu vertiefen.

Noch einmal: Christlicher Glaube ist eine Lebensphilosophie, und diese gibt es nur im Plural. Und als (politische) Praxis!

Der Brief des Theologen Paulus selbst wurde etwa im Jahr 54 geschrieben, also etwa 20 Jahre nach dem Tode Jesu von Nazareth.   (https://www.bibelwissenschaft.de/bibelkunde/neues-testament/paulinische-briefe/philipper/

In der Übersetzung der Züricher Bibel heißt es: (http://www.neutestamentliches-repetitorium.de/inhalt/philipper/Paragraph8.pdf)

DER TEXT: Vers 5:  Seid so gesinnt, wie es eurem Stand in Christus Jesus entspricht:

6 Er, der doch von göttlichem Wesen war, hielt nicht wie an einer Beute daran fest, Gott gleich zu sein,

7 sondern gab es preis und nahm auf sich das Dasein eines Sklaven, wurde den Menschen ähnlich, in seiner Erscheinung wie ein Mensch.

8 Er erniedrigte sich und wurde gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.

JETZT folgt die theologische Aufwertung dieses Lebens im „Abstieg“zu einem weltlichen Leben Gottes:

9 Deshalb hat Gott ihn auch über alles erhöht und ihm den Namen verliehen, der über allen Namen ist,

10 damit im Namen Jesu sich beuge jedes Knie, all derer, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind,

11 und jede Zunge bekenne, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.

Zur Interpretation:

Paulus denkt hier an die göttliche Wirklichkeit im Himmel. Diese göttliche Wirklichkeit wurde schon in der jüdischen Weisheitsliteratur so gedacht, als wäre die Weisheit als göttliche Weisheit schon bei der Schöpfung der Welt durch Gott „dabei“.

Diese göttliche Weisheit bei/in Gott wird in der frühen christlichen Theologie als Person aufgefasst, als Christus-Gestalt. Logos bedeutet auch Vernunft und Gespräch. Wenn der Logos in die Welt kommt, sucht er – als Jesus von Nazareth/Christus – den Dialog.

Und jetzt kommt das Entscheidende: Und das führt uns zu Weihnachten: Dieser Gott als Logos tritt aus dem Himmel des Göttlichen heraus und wird ganz Mensch, eben in der uns bekannten (siehe die Mythen im Matthäus/Lukas Evangelium) Krippe im Stall zu Bethlehem. Der göttliche Logos als göttliche Weisheit wurde Mensch, und dieser Jesus von Nazareth folgte immer seinem Gewissen („hörte auf die Stimme Gottes, den Jesus Vater nannte“) und Jesus endete als Freund der Menschen, der Ausgegrenzten zumal, als radikaler Kritiker der Gesellschaft und des herrschenden Gottesbildes am Kreuz. Jesus wusste um das Risiko seiner theologisch-politische Radikalität und war zum Äußersten bereit. “Ihm liegt daran, eine neue Ordnung, eine neue „Herrschaft“ der Liebe zu verkünden, dieses Projekt ist konträr zur bestehenden Gesellschaft. „Für Jesus hat Menschlichkeit Priorität vor einer akribischen Gesetzeserfüllung“ (Jos Rosenthal, Der Prozess Jesu, 2003 S. 24.)

Und es entsteht dann die Überzeugung der Gemeinde: Dieser außer-gewöhnliche Mensch wurde dann von Gott für sein Leben „ausgezeichnet“: Gott will, so glaubt man, dass dieser Mensch Jesus ein Lebensmittelpunkt für andere sein kann. Es ist ein Vorschlag, den das Neue Testament und Paulus machen: Dieser Jesus kann für die Menschen sogar von absoluter Bedeutung werden, das meint Paulus, wenn er von „Erhöhung“ durch Gott: Vor ihm kann man niederknien, wie sagt man heute: Das ist ja zum Hinknien usw.

Das ist die Grundaussage: Wer Gott sucht, wird auf den Menschen verwiesen, auf die Menschlichkeit, wie sie Jesus von Nazareth lebte. Diese Menschlichkeit ist Liebe. Liebe zum Nächsten. Gott wird also in der Liebe entdeckt.

Dieser Text, der den Verzicht Gottes auf seine Göttlichkeit beschreibt, wird als Erniedrigung als „Kenosis“ heute auch philosophisch bedacht.

Kenosis: Auf dieses griechische Wort aus dem Philispperbrief kommt es an: es meint das Leerwerden. Die Entäußerung. Das Freiwerden. Alles dies auf Gott selbst bezogen.

Der italienische Philosoph Gianni Vattimo definiert Kenosis „als Verzicht Gottes auf die eigene souveräne Transzendenz“, in: „Die Zukunft der Religion“, S. 62). Auch in seinem Buch „Glauben-Philosophieren“ (Reclam, 1997, Seite 56) sagt Vattimo: Die Menschwerdung Gottes, also die kenosis, sei das große Paradox, das einzige Skandalon der christlichen Offenbarung. Vattimo spricht von einer „Aussetzung aller transzendenten, unverständlichen und bizarren Züge des Göttlichen“.

Der Philosoph Vattimo ist der prominente Denker eines Christentums, das als Kenosis lebt, auch einer Kirche, die als Kenosis, als Verzicht, lebt. „Ein kenotisches Christentum ist von der Liebe (caritas) bestimmt, es entsagt allen Gewaltmechanismen, auch denjenigen, die nur theoretisch eine letzte, allgemeinverbindliche Wahrheit verteidigen wollen“ (Bernd Irlenborn, „Nach dem Tod Gottes. Gianni Vattimos Entwurf eines postmodernen Christentums“ (in: Orientierung, Zürich, 2004, S. 258)

Vattimo hat sich dem christlichen Glauben wieder zugewandt, allerdings in der Gestalt der Kenosis, was ihn zum Kritiker der etablierten und dogmatischen Kirche,  des immer noch noch auf Macht und Gewalt bedachten offiziellen Katholizismus machte. Vattimo nennt sein eigenes Denken „schwaches Denken“, „schwach“, weil es nicht mehr der metaphysischen Macht der alten Gottes-Konzepte lebt. (Siehe auch sein Buch: „Jenseits des Christentums“, München 2004.). Die kenotische Kirche akzeptiert die Säkularisierung (die schwache Kirche ohne Macht) als eine Konsequenz des Glaubens, meint (nicht nur) Vattimo.

Für Vattimo ist die Interpretation der Kenosis als der zentralen Erfahrung des Christentums eine Neuentdeckung. So soll es auch sein, denn die Interpretationsgeschichte geht weiter in die Zukunft.

Weihnachten als Kenosis Fest ist von daher nicht rückwärts, in die Vergangenheit gerichtet, sondern nach vorn, zu einen Erfahrungen…

Dies ist eine Einladung einer spirituellem Lebensphilosophie: Wir sollten, wenn wir denn dem Lebensmodell folgen wollen, leer werden, uns unserer Sicherheiten entäußern. Wenn man so will: Dann werden wir heil, „glücklich“…Landen aber vielleicht wie Jesus von Nazareth am Kreuz, siehe Erzbischof Romero in El Salvador, oder Dietrich Bonhoeffer usw…

Weihnachten ist ein Fest des Leerwerdens. Des Weggebens alter Überzeugungen. Dem Befolgen des Gewissens. Der Verbundenheit mit den Menschen. Gott ist Liebe, sagt die Tradition. Die Lebensphilosophie Jesu von Nazareth, des Logos, folgt dieser Weisheit umfassend. Jesus von Nazareth wird selbst zum Symbol der Liebe. Wir können also sagen: Die Liebe ist göttlich, die Liebe ist in gewisser Weise Gott?

Diese Verse aus dem Philipperbrief wurden oft interpretiert, weil es um die Unterbrechung Gottes geht. Und die Göttlichkeit des Menschen!

Darum noch ein Hinweis auf den Philosophen und Religionskritiker Ludwig Feuerbach. Im Anschluss an die Jesus-Gestalt sagt er: „Gott ist die Liebe. Wer also den Menschen um des Menschen willen liebt, der ist Christ, der ist Christus selbst“ (zit. in Vittorio Hösle, Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie, 2013, s 172.)

Feuerbach will dem Leben und der Förderung des Lebens als solchem eine religiöse Bedeutung abgewinnen und darin folgt ihm dann Nietzsche: Er hat als heftigster Religionskritiker jedoch die Jesus-Gestalt geschätzt, wenn er sagte: Man muss sich Jesus als »wärmstes Herz« denken, als den »edelsten Menschen«. Seine Botschaft der Ganzheitlichkeit lautet, so in „Der Antichrist“: »Das wahre Leben, das ewige Leben, ist gefunden. Es wird nicht verheißen, es ist da! Es ist in Euch: Als Leben in der Liebe, in der Liebe ohne Abzug und Ausschluss, ohne Distanz.« Diese Erfahrung der innersten Nähe des Göttlichen »hat kein Gestern und kein Übermorgen, es kommt nicht in tausend Jahren. Es ist eine Erfahrung in einem Herzen, es ist überall da, es ist nirgends da …«

Gott ist Mensch. Und der Mensch, jeder Mensch, ist in gewisser Weise göttlich. Dies ist Weihnachten. Sucht Gott nicht mehr im Himmel!

Säkular verstanden: Der Mensch, jeder Mensch, ist absolut wichtig und voller einmaliger Würde. Die Pflege und Unterstützung des Menschen, jedes Menschen, der Notleidenden zumal, ist absolut wichtig. Unverzichtbarer Mittelpunkt auch aller Politik.

Weihnachten wird so zum Fest der – ideologisch von Kapitalisten usw. nicht missbrauchten – Menschenrechte. Die Aufforderung zu Weihnachten, etwas Geld für „gute Zwecke“, für die Armen usw. zu spenden, ist der hilflose Versuch, den Menschenrechten auch etwas zu entsprechen. Dabei wäre umfassende Information über den Niedergang der Menschenrechte weltweit verbunden mit politischem Engagement die treffende Antwort auf den Geist des Weihnachtsfestes. Der ewige Singsang der Kinderlieder zu Weihnachten ist nett, eine Ablenkung, vielleicht ein kurzer Ausstiegaus der banalen Alltagswelt; aber dieser Singsang ist sicher nicht die einzige Antwort auf den Gott, der Mensch ist.

Man sollte nicht in diesen Kinderliedern auf Dauer hängen bleiben. Und dann, dumm geblieben, Gott als Mann mit Bart sich denken, umgeben von hübschen Putten etc… Auch der christliche Glaube als eine Lebensphilosophie ist intellektuell anspruchsvoll. Hat nichts mit Infantilität zu tun, auch nicht zu Weihnachten. Aber leider bilden sich in der Hinsicht so wenige (Christen) Menschen weiter. Wir bedienen z.B. smartphones wie die Verrückten, wissen alles darüber…Aber wir wissen nichts von Weihnachten, wie es wirklich ist in einer reflektierten Lebensphilosophie. So bleiben viele als Erwachsene infantil, hängen den idyllischen Weihnachtsbildern Bildern der Kindheit an…Und danach geht alles weiter wie bisher. Ohne Unterbrechung. Siehe oben!

Das Spenden-Wesen zu Weihnachten als bescheidene Tat der “Gewissensberuhigung”, aber auch als politische Ablenkung zu kritisieren, ist wohl eine der schwersten, äußerst selten vollzogenen Aufgaben eines kritischen Journalismus.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin