Wir sind die Letzten: Max Horkheimer als „letzter Bürger“ … und die „Letzte Generation“

Ein Hinweis von Christian Modehn am 18.Dezember 2022.

1. Das Vorwort:
Ein Wort geht um, mehr als ein Wort: „Die letzte Generation“. Und es erinnert daran, dass im Laufe der Geschichte schon oft Menschen sich als „die Letzten“ – angesichts großer Umbrüche und Katastrophen – bezeichnet haben. Anläßlich des Selbstverständnisses von Klimaaktivisten als „der Letzten Generation“ ist es interessant zu wissen, in welchem Sinne zuvor schon Menschen sich „als die Letzten“ verstanden haben.
Dabei wird hier der Schwerpunkt auf Äußerungen des Philosophen und Soziologen Max Horkheimer gesetzt. Aber auch auf entsprechende Stellungnahmen von Nietzsche, Karl Kraus und dem Apostel Paulus wird hingewiesen.
Die Auseinandersetzung mit dem Thema „Wir sind die Letzten“ ist nicht nur von historischem Interesse, sie betrifft das (philosophische) Selbstverständnis der Menschen insgesamt. Wer würde leugnen, dass er/sie angesichts der kulturellen, sozialen, politischen, religiösen Umbrüche und tiefgreifenden Veränderungen heute nicht auch das Gefühl hat, irgendwie zu einer „letzten Generation“ zu gehören?

2. Horkheimer, der letzte Bürger
Vor 80 Jahren nannte sich der Philosoph Max Horkheimer im Exil, im schönen Los Angeles, Kalifornien, einen der „letzten Bürger“. Horkheimer war seit 1929 Direktor des „Instituts für Sozialforschung“ in Frankfurt am Mai. Er selbst wie andere Mitarbeiter mussten vor den Nazis flüchten, 1934 fanden er und sein Institut Zuflucht in den USA.
Horkheimer verstand sich als einen der letzten „Bürger“,besser gesagt „Großbürger“ der alten kapitalistischen Welt.
Max Horkheimer (geboren 1895, gestorben 1973) war Sohn eines Kunstbaumwoll-Fabrikanten. Als junger Mann machte aber nicht die vom Vater vorgesehene Karriere als Unternehmer, sondern er wurde Philosoph, Soziologe und … gläubiger Sozialist, gut vertraut mit dem Werk von Karl Marx und dem Sozialismus in gläubiger Haltung verpflichtet.
Horkheimer war selbstkritisch genug, er wusste: Wie sehr er auch „marxistisch ausgebildet sein mag und wegen dieser Ausbildung die Diktatur des Proletariates gutheißen mag, so war er doch nicht für die Diktatur des Proletariates zu gebrauchen“, schreibt Martin Mittelmeier in seiner neuen Studie „Freiheit und Finsternis. Wie die `Dialektik der Aufklärung´ zum Jahrhundertbuch wurde“ (2022, Siedler Verlag). Horkheimer war 1941 von New York nach Kalifornien umgezogen, sein neues Zuhause war eine sehr hübsche Villa in Pacific Palisades bei Los Angeles (Mittelmeier S.34), er wohnte in der Nachbarschaft von Thomas Mann…
Warum, das ist die Frage, meinte Horkheimer, als der Zweite Weltkrieg tobte und die Vernichtung der Juden in Europa systematisch betrieben wurde, für die künftige Revolution nicht geeignet zu sein? Weil er, so sein offenes Bekenntnis, Bürger war, zu sehr wohl Bürger war und bürgerlich dachte, bürgerlich lebte und den bürgerlichen Luxus selbst in Krisen und Kriegszeiten immer noch genoss. Man muss es wohl Horkheimer hoch anrechnen, zu dieser Form der Selbstkritik in der Lage gewesen zu sein.

3. Horkheimer als letzter Bürger darf noch genießen
Aber Horkheimer fand dann doch als Bürger, inmitten der angenehmen Umgebung Kaliforniens, eine sehr originelle Möglichkeit, seinen eigenen, durchaus ins Staunen versetzenden Beitrag zur proletarischen Revolution zu leisten. Damit sind nicht die theoretischen, philosophischen wie soziologischen Studien (oft gemeinsam mit Theodor W. Adorno) unmittelbar gemeint. Horkheimer entdeckte, dass er als der wahrscheinlich „letzter Bürger“ vor der sozialistischen Revolution die Aufgabe habe, das für ihn übliche großbürgerliche Leben geradezu fortzusetzen. Nicht Verzichten aufs Bürgerliche, sondern Fortsetzung der bürgerlichen Privilegien war seine Maxime. Er redete sich dabei einerseits die Hoffnung ein: Sein materiell gut ausgestattetes Leben in Kalifornien könne – nach der sozialistischen Revolution – auch für die jetzt materiell Leidenden, die Proletarier, Realität werden. Andererseits sah Horkheimer die historische Bedeutung seines privilegierten Lebens in Kalifornien auch in der Rolle eines „Statthalter des guten Lebens“, wie Mittelmeier schreibt (S. 36). Er fühlte sich als „Statthalter“ des guten Lebens, oder man könnte auch sagen, er lebte stellvertretend wohlhabend für die vielen anderen, denen es nicht gut ging. Wenigstens einigen wenigen mit großbürgerlicher Herkunft darf es, geschichtsphilosophisch betrachtet, gut gehen, sie bewahren dann auch die Erinnerung an das materiell gute Leben einst im Kapitalismus.
Horkheimer sah sich auch als die letzte großbürgerliche Figur, die voller Trauer schon ahnt, dass den armen Proletariern dieses Luxus-Leben dereinst nicht vergönnt sein wird.
Als dieser „letzte Mensch“ des Großbürgertums freute er sich, mit eingestanden Gewissensbissen zwar, in letzter Minute „vor dem erwarteten Untergang des Kapitalismus“ genussfähig geblieben zu sein: Wenigstens er, sozusagen als Symbolfigur des Übergangs von der alten kapitalistischen Welt zum Sozialismus, durfte noch materiellen Luxus genießen. Ohne Ironie sah sich Horkheimer in dieser Rolle! In den „Nachgelassenen (post mortem) veröffentlichten Schriften“ (Band 12, S.231 in Horkheimer „Gesammelte Schriften“, Fischer Verlag) beschreibt er schon 1935 seine Haltung, die auch im kalifornischen Exil gilt: :
„Es macht einen Unterschied im Hass gegen diese kapitalistische Welt aus, ob man ihre Früchte vom Genuss oder nur vom Zusehen kennt. Zorn, Hohn und laute Verachtung gegen die Freuden einer raffinierten Zivilisation sind etwas anderes als die Trauer dessen, der sie genossen hat und die andern davon ausgeschlossen sieht. Diese letzten Bürger sind genussfähig, ihr Materialismus ist ganz ehrlich, sie schmähen das gute Leben nicht. Sie verstehen etwas vom Feuer guten Weins und vom Reiz einer gepflegten Frau …“.

4. Abstrakte Solidarität
Eine verstörende Aussage, leider nicht von brillanter Deutlichkeit: Welche „Lehre“ ließe sich aus diesem Bekenntnis des „letzten Bürgers ziehen? Vor der großen politischen Wende haben einige wenige das Recht, genussvoll und materiell gut abgesichert zu leben, obwohl der 2. Weltkrieg längst viele hunderttausend Tote „produziert“ und in den KZs das europäische Judentum ausgelöscht wird von den Nazis. Horkheimer hat wohl ein schlechtes Gewissen dabei, aber er ändert sein gutes Leben nicht. Das Teilen, die Solidarität mit den Unterdrückten und Leidenden, etwa mit den Arbeitern in den USA, kommt ihm offenbar nicht in den Sinn. Seine politische Hoffnung auf ein gutes (materiell gutes) Leben auch für die Proletarier, bleibt abstrakt. Abstrakt bleibt auch der Glaube Horkheimers an die Revolution und die Wohltaten der Revolution. Dies ist Ausdruck seines tiefen, aber abstrakten Gefühls für universelle Gerechtigkeit, das er schon als reicher Fabrikantensohn empfand.

5. Hannah Arendt kritisiert Horkheimer
Martin Mittelmeier weist in seiner Studie darauf hin, dass das gute genussvolle, bürgerlich gediegene Leben Horkheimers in Kalifornien von keiner geringeren als Hannah Arendt kritisiert wurde. „Sie haben immer noch Geld, aber sie sind mehr und mehr der Meinung, dass sie sich damit einen ruhigen Lebensabend sicher müssen“ (S. 35).

6. Klima-Aktivisten der “letzten Generation” sind echte Demokraten!
Die Klimaaktivisten jetzt, Dezember 2022, fordern mit ihren provozierenden, bewusst störenden Aktionen (Sich-Festkleben auf Straßen und Flughäfen usw.), dass endlich die deutsche Regierung alles tut, die von ihr selbst gesetzlich formulierte Verpflichtung Wirklichkeit werden zu lassen: Deutschland bis 2045 klimaneutral zu gestalten. Von diesem als Gesetz formulierten Ziel, beschlossen im Jahr 2021 noch von der Merkel-Regierung, ist Deutschland weit entfernt. Weil die Klimakatastrophe weiter „Fahrt aufnimmt“, handeln diese jungen Leute als die „letzte Generation“. Sie wird kaum mehr menschenwürdig leben können, das gilt noch viel mehr für Menschen in der sogenannten südlichen, armen Welt… Und diese jungen Aktivisten wissen: Die Älteren bzw. die Alten bestimmen Politik und Ökonomie, sie sind in ihrer Sturheit ihrerseits auch die letzte Generation. Nämlich die letzte Generation derer, die es sich bei der Klimakatastrophe relativ gut gehen lassen, die „das gute Leben nicht schmähen“, wie Horkheimer selbstkritisch sagte. Diese alten und wohlhabenden Leute in der reichen Welt lassen sehenden Auges den „Karren gegen die Wand laufen“, tun nur halbherzig etwas, um diese Welt auch den jungen Generationen lebenswert zu lassen.
Schlimmer noch: Viele von diesen Alten, im Klimaschutz Unentschlossenen, besonders in Kreisen der CDU und FDP, betrachten diese jungen Aktivisten der „letzten Generation“ als Verbrecher. Wer sich auf der Straße festklebt, wird selbst von Bischöfen (wie in Berlin Stäblein, ev., und Koch, kath.) mit dem Urteil des „Rechtsbruchs“ diffamiert. Als würde nicht eine Katastrophe ungewöhnliche Mittel erfordern. Die Mehrheit der Menschen folgt den üblen Verleumdungen der rechten Presse, diese Mehrheit sollte dankbar sein für diesen Weckruf der Verzweifelten, die nicht nur an der Klimakatastrophe verzweifeln, sondern auch an der Tatsache, dass die Bundes-Regierung ihr Klima-Schutzgesetz vom August 2021 vergessen hat (siehe: https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/klimaschutz/klimaschutzgesetz-2021-1913672). Die Autorin und Wirtschaftswissenschaftlerin Ulrike Herrmann hat recht: „Die Klima-Aktivisten verstoßen gegen Gesetze, um darauf hinzuweisen, dass täglich Gesetze gebrochen werden – und zwar durch den den Staat. Die Letzte Generation sieht sich als Retterin der Demokratie. Sie will erreichen, dass demokratisch gewählte Volksvertreter demokratisch erlassene Gesetze umsetzen“ (TAZ., 17.Dezember 2022, Seite 2).
Und es ist ein Skandal, wenn manche Leute die Gefahr, die von den wirklich gewaltbereiten gemein gefährlichen rechtsextremen Reichsbürgern und der AFD ausgeht, mit der Präsenz der Letzten Generation vergleichen. „Der Staat ist inkonsequent, indem er Klimagesetze erlässt, an die er sich den nicht hält“. Das ist der Skandal, auf den auch die „Letzte Generation“ mit Nachdruck hinweist. Ulrike Herrmann schreibt weiterhin treffend: „Die Letzte Generation sind die echten Demokraten und sie glauben an den Staat“ (TAZ, 17.12.2022, S 2.).

7. Max Horkheimer klebt sich fest?
Wie hätte sich Horkheimer als einer der „letzten Bürger“ zu der „Letzten Generation“ verhalten? Dies ist eine spekulative Frage. Möglicherweise, wenn man die allgemeine Ängstlichkeit und den nur theoretischen Mut Horkheimers bedenkt: Er hätte als der „letzte der gut lebenden Groß-Bürger“ sicher nicht leidenschaftlich die jungen Leute der LetztenGeneration unterstützt und verteidigt, er hätte sich auf Frankfurts Strafen nicht festgeklebt, vielleicht hätte er wenigstens gegen die üble Verleumdung von Rechts und der Springer-Presse laut protestiert… Ein Horkheimer, der sich auf der Autobahn festklebt, ist aber undenkbar. Ein anderer, an den wir aus aktuellem Anlass denken müssen, Heinrich Böll, der Literaturnobelpreisträger vor 50 Jahren, 1972, hätte dies sicher getan. Er war nicht nur ein Theoretiker. Er war zum Beispiel aktiv bei der Mutlangen Blockade 1983 dabei.

8. Nietzsches “letzte Menschen”
Auch Friedrich Nietzsche spricht in seinem Werk „Also sprach Zarathustra“ (1883) von den „letzten Menschen“. Sie stehen am Übergang zu einer neuen Menschheitskultur, die vom Übermenschen bestimmt sein wird. Er wird der schöpferische, ingesamt freie und herrschende Mensch sein, er wird den Nihilismus überwinden. Die „letzten Menschen“ sind als Menschen auch moralisch betrachtet „die Letzten“, weil sie sich als brave Bürger einschließen in ihre kleine Welt, die sich mit metaphysischen Sicherheiten aus Angst umgibt. Diese „Letzten“ sind lethargisch, müde, abseits jeder Kreativität. „Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit“, schreibt Nietzsche.

9. “Die letzten Tage der Menschheit”
Auch auf Karl Kraus und sein großes Opus „Die letzten Tage der Menschheit“ soll hingewiesen werden. 1922 wurde diese Tragödie publiziert, sie „spielt“ im 1. Weltkrieg und zeigt, dass die letzten Menschen im Krieg und schon vor dem Krieg vor allem die verlogenen und gedankenlosen Bürger sind, zumal die Journalisten. Sie sind zu nichts anderem imstande, als dumme Sprüche zu verbreiten. Dummheit und Gedankenlosigkeit führen in den Krieg, bestimmen den Krieg, zerstören die Vernunft. Die „Letzten“ das sind die moralisch gesehen „letzten Bürger“ der so genannten „Intelligenz“. Diese letzten Menschen bewertet Karl Kraus als Verbrecher.

10. Paulus lebt im Schatten der Wiederkunft Jesu Christi als letzter Mensch, aber auch als einer der ersten Christen.
Ein letzte Hinweis auf den Apostel Paulus. Er war geprägt vom Glauben der ersten Gemeinde: Sie erwartete die Wiederkunft Jesu Christi alsbald, offenbar auch noch in der eigenen Gegenwart. Wie sollen sich Menschen auf dieses große Ereignis der Wiederkunft einstellen, wie sollen sie noch leben, das sind Fragen mit denen sich Paulus etwa in seinem Ersten Thessalonicher Brief (verfasst im Jahre 50) oder im Ersten Brief an die Korinther (verfasst im Jahre 53) befasst. Jesus von Nazareth war etwa im Jahr 33 am Kreuz elend gestorben.
Paulus nannte im Jahre 50 (die Gemeinde in Thessalonich „die Lebenden, die noch übrig geblieben sind“ (1 Thess, 4,17), Damit will er sagen: Es sind die noch auf Erden Weilenden, die :„übrig gelblieben sind“ vor der alsbald erwarteten Wiederkunft Jesu Christi…
Angesichts der grundstürzenden Veränderung der Welt durch die Wiederkunft Jesu Christi empfiehlt Paulus der Gemeinde in Korinth zu leben, als lebte man schon nicht mehr nach den Üblichkeiten der Welt: „Wer eine Frau hat, soll sich verhalten, als habe er keine. Wer die Welt nützt, soll so tun, als nütze er sie nicht (1 Kor. 7,29). Alles Weitermachen wie bisher, könnte man sagen, aber mit dem inneren Abstand, alles Weltliche nicht mehr ernst nehmen, „so tun als ob“, möchte man sagen: Das ist die Lehre des Apostels Paulus für die „letzte Generation“ in Korinth und Thessalonich. Das Wesentliche kommt später, sollte erwartet und innerlich vorbereitet werden. Das war ja einst (für manche Wissende heute immer noch) der Sinn des „Advent“.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin