“Wer das Richtige zu spät macht, tut das Falsche”

„Wer das Richtige zu spät tut, tut das Falsche“
Philosophisches Wort zur Woche

Manche LeserInnen haben uns gefragt: Wo bleibt eigentlich die regelmäßige Lieferung von : „Das Philosophische Wort zur Woche“? Einer meinte gar, was gibt es Schöneres, als kurze Sätze mit großem Inhalt hin und her zu wälzen?“ Unruhe und Bewegung, nicht Müdigkeit und Stillstand sind die Ziele der „Philosophischen Worte zur Woche“.
Jetzt startet wieder diese Reihe, unregelmäßige Lieferungen sind versprochen, aber nicht angestrebt.
Zu Beginn des neuen Jahres ist es nahe liegend, sich auf die Vielfalt der Zeiterfahrungen einzustellen. Handeln wir zu spät, kommen wir zu früh, leben wir in der Gegenwart?
Der Philosoph Peter Sloterdijk schreibt in „Die Zeit“, Ausgabe vom 5. Januar 2011 auf S. 43 im Rahmen eines sehr lesenswerten Beitrags über den großen SPD Politiker Hermann Scheer (gestorben 2010):
„Alle Politik ist Zeitpolitik. Sie ist nun in erster Linie der Vollzug der Unterscheidung zwischen =rechtzeitig= und =zu spät=. Wer zu spät siegt, hat auch verloren. Wer das Richtige zu spät tut, tut doch das Falsche. Es ist die grausame Ironie dieser Übergangszeit, dass es lange weniger schlimm kommt als angekündigt, bis es schlimmer kommt als befürchtet“.
Beispiele aus Gesellschaft und Religionen kann jeder selbst finden, z.B. die jahrzehntelange Ignoranz der katholischen Kirche gegenüber den pädophilen Verbrechen ist eine aktuelle Erfahrung…
Peter Sloterdijk zitiert in seinem Beitrag auch Hermann Scheer: “Wie haltet ihr das aus, untätig zu bleiben und die Politik für die Gesellschaft anderen zu überlassen, von denen ihr den Eindruck habt, dass sie nicht das Notwendige und Richtige tun?“
„Empört euch“, „Indignez vous“, ist heute einer der meist gelesenen Texte in Frankreich heute, verfasst von dem Co – Autor der Menschenrechtserklärung, Stéphane Hessel. Diese Empörung, hätte sie Hermann Scheer noch initiieren können, hat sie in Deutschland auch einen Platz wie in Frankreich? Wer schreibt den ersten „Indignez vous“ Text in Deutschland, Empörung über Staat, Gesellschaft, Kirchen…Die Empörung muss erst mal ausgelebt werden, dann gilt es vernünftige Schritte zu planen…Empörung ohne Vernunft ist nur schrill, meinen wir. Darüber wird in Frankreich anlässlich von Hessels Pamphlet unseres Erachtens zu wenig diskutiert.
Zurück zur Zeiterfahrung:
Zu spät handeln ist falsch, es kommt darauf an, den „Moment“ zu erfassen. Aber auch zu früh handeln ist falsch. „Wer zu früh kommt, den bestraft das Leben“. Über diese noch wenig realisierte Erkenntnis beim nächsten Mal.

Das letzte wichtige Buch von Hermann Scheer hat den Titel: “Der energethische Imperativ”. Kunstmann Verlag, München, 270 Seiten, 19,90 €.

Die Idee und der Titel „Philosophisches Wort zur Woche“ sind urheberrechtlich geschützt. Copyright Christian Modehn.

Die unbekannte Dimension der Vernunft

Philosophisches Wort zur Woche ....
durchaus passend zur philosophischen Gestaltung der Weihnachtszeit, die ja als Zeit der Kindheit, der Nostalgie, der „verlorenen Heimat“, der Naivität beschrieben wird.

Eine unbekannte Dimension der Vernunft: die Naivität erkennen und annehmen.

„Die Vernunft kann nicht anders als ergründen, erklären, interpretieren, d.h. in die Vielfalt Einheit, ins Disparate Zusammenhang, Ordnung, Sinn bringen. Das tut die Vernunft selbst dann noch, wenn sie behauptet, dass alles sinnlos sei. Ihr Tun dementiert dann ihren Inhalt. Ihr Bedürfnis nach Konsistenz, nach Auflösung von Ungereimtheiten, nach Überwindung von Widersprüchen ist von Metaphysik nicht keimfrei sauber zu bekommen.
Metaphysik ragt ins alltägliche Tun der menschlichen Vernunft hinein. Metaphysik hat eine Naturbasis, die Kreatur weiß nichts davon. Der Zusammenhang zwischen Triebleben und Ewigkeit ist ihr verborgen, aber das Seufzen der Kreatur stellt den Zusammenhang her. Vernunft, die diesen Zusammenhang ignoriert, statt ihm Sprache zu verleihen, ist weder über die Natur noch über sich selbst genügend aufgeklärt.

Das Bedürfnis nach Konsistenz, nach Stimmigkeit, ist insgeheim das Bedürfnis nach einer heilen Welt. Ohne dieses Bedürfnis zu haben, kann Vernunft nicht rückhaltlos aufklären: über die Welt wie über sich selbst.

Ohne die blauäugige, durch nichts verbürgte Hoffnung, dass noch nicht aller Tage Abend sei, kann die Vernunft den gegenwärtigen Weltzustand nicht auf den Begriff bringen.

…Den religiösen Kinderwunsch noch in seinen verstohlensten Formen als unausrottbares Moment des Denkens aufzuspüren und in Vernunft zu übersetzen: das ist Aufklärung. Der Versuch, der Vernunft alle Naivität ohne Rest auszutreiben, treibt die Vernunft selbst aus“.

Der Philosoph Christoph Türcke, in seinem sehr empfehlenswerten Buch „Kassensturz. Zur Lage der Theologie“. Fischer Taschenbuch, 1992, S 139 f.. Der Beitrag hat den Titel: „Naivität“.