Von der Herrschaft des Scheins und der Lüge
Hinweise zu einem philosophischen Salon in der Weinhandlung „Sinnesfreude“ am 11.12.2015
Von Christian Modehn
Diese Hinweise bieten einige zentrale Aspekte meines Vortrags und der Diskussion. Das Thema „Leben wir in einer sich totalisierenden Schein-Welt“ bedarf noch weiterer Überlegungen.
Kürzlich sprachen Herr Baumeister, Leiter des schönen und empfehlenswerten Weingeschäftes „Sinnesfreude“ (Jonasstr. 32) und ich über ein neues gemeinsames Salon-Projekt. Und da fiel uns das Thema „Der reine Wein“ ein. Im Mittelalter schon galt die Forderung „Wir wollen uns reinen, d.h. unverfälschten Wein einschenken“, d.h. wir wollen uns nicht permanent belügen und etwas vorgaukeln. „Legt die Lüge ab und redet die Wahrheit“, sagte in diesem Sinne der im Mittelalter noch geschätzte Apostel, genannt Paulus, im Epheserbrief des NT. Aber das nur am Rande.
Es gibt jetzt immer mehr Winzer, die, wie sie sagen, authentischen Wein produzieren, also nicht nur ökologisch sauberen, sondern auch nach alten Gebräuchen hinsichtlich der Platzierung der Weinstöcke, der handverlesenen Ernte usw.; sie produzieren reinen Wein von außergewöhnlichem Geschmack. Herr Baumeister ließ uns probieren, diesen reinen Wein aus dem Friaul.
Beginnen wir also mit der Frage nach dem “echten” Wein: Was ist mit den Leuten, die im Supermarkt eine Flasche mit der Etikette „Chablis“ oder „Chateau Neuf du Pape“ für etwa 4 oder 5 Euro kaufen. Wir wissen, dass die genannten französischen Weinregionen als die besten gelten. Und im Ernst kann man eigentlich keine dort produzierte Flasche unter 18 Euro kaufen. Natürlich muss man auch dort den „großen Namen“ mitbezahlen…
Was ist aber los, wenn diese Leute mit ihrem 5 Euro-Chablis glücklich sind? Wenn sie glauben, es wäre tatsächlich ein Wein aus Chablis, es würde also kein Etikettenschwindel vorliegen? Diese Konsumenten, so werden Menschen in der Konsum/Geschäftswelt fixiert, werden wohl so lange Chablis für 5 Euro weiter trinken, als er ihnen schmeckt, vielleicht können sie gar keinen Vergleich mit echtem Chablis herstellen bzw. ihn sich finanziell nicht leisten. Und vor allem: So lange sie morgens, nach einer Flasche Supermarktwein, nicht mit Kopfschmerzen aufwachen, werden sie bei ihrem preiswerten Komsum, Genuss (?), bleiben.
Wenn sie aber erfahren, dass der billige “Chablis” ein Verschnitt von anderen sauren Landweinen ist, werden sie sich betrogen fühlen und sich vielleicht anderem Wein zuwenden. Und den Betrüger des sauren „Chablis“ am liebsten bestrafen. Aber die Mixer und Panscher kennt fast niemand. Vielleicht der Großhändler? Also: Der Wein kam aus anderen Regionen, hatte bestenfalls Landwein Niveau, und wurde nur in der Nähe von Chablis abgefüllt… Den Täter, moralisch gesprochen: den Lügner, kann man also kaum greifen, zumindest nicht als kleiner und dumm gemachter Konsument…
Erst die Krise führt uns aus einer Scheinwelt heraus, lässt uns ahnen, dass es eine andere, wahre Welt eigentlich geben sollte.
Diese Art von Betrug und Erzeugung von Scheinwelten durch die Manipulation der großen Unternehmen ist nahezu uferlos. Solange der Konsum billig sein soll und als Wegwerfware produziert wird, werden wir dem Echten nicht mehr begegnen. Aber der Zweifel ist da: Die schöne Hose soll also „made in Italy“ sein? Das glaubt keiner mehr! Tatsächlich wurde sie z.B. in Bangladesh auf ausbeuterische Art unter kriminellen Methoden mit der miesesten Bezahlung zusammen geschneidert und in Italien mit dem Gütesiegel versehen. Jeder und jede kann da weitere Beispiele aus seinem Erleben finden.
Interessant ist ja, dass der Schein des Authentischen, des Echten, von den lügnerischen Produzenten unbedingt gewahrt werden soll. „Chablis“ muss auf der billigen Fusel-Flasche verstehen. Eine Flasche mit dem Etikett „Eine Mixtur von Landweinen aus Böhmen, Ungarn und Rumänien“ (nichts gegen diese Länder!) würde wohl niemand kaufen. Oder doch? Und eine Hose, eine Bluse, was auch immer, mit dem Vermerk „Made in Bangladesh“ würde man auch so schnell kein Mensch kaufen. Da steckt zudem ein gewisser Rassismus dahinter: Kann aus diesem „armen“ Land des Elends Gutes kommen? Oder ein ethisches Bewusstsein meldet sich zaghaft, aber folgenlos: „Mein Gott, da werden ja Frauen ausgebeutet….“ Das heißt: Die Authentizität, das Wahre, wird als Bezugspunkt von Produzenten und Konsumenten als Ideal vorausgesetzt. Sie, die Betrüger, und wir, die Konsumenten, wollen eigentlich das Wahre und Echte, heißt die philosophische Erkenntnis. Wir können uns nur nicht an das Wahre und Echte in der Lebenspraxis halten, weil wir alles möglichst billig wollen, bequem, vielleicht wollen wir sogar belogen werden? In jedem Fall ist Authentizität, wenn man das schwierige Wort verwenden will, nicht der oberste und erste absolut zu respektierende „Wert“ für die meisten. Sondern Sparsamkeit und Bequemlichkeit….
Philosophisch könnte man ja die gesamte uns begegnende Wirklichkeit als Erscheinung, als Phänomen, ansprechen. Da zeigen sich die Dinge, die Phänomene nun genannt, von sich aus, so wie sie sind. Und wir können mit kritischer Reflexion diese echte Erscheinung als solche auch annähernd erkennen, zumindest den schön genannten Schein als Lüge entlarven.
Aus den Phänomen, den Erscheinungen, kann schnell der Schein werden, der so genannte schöne Schein, der von Menschen in Gang gesetzte manipulative Eingriff in die Gestalt der Erscheinungen, der “Dinge”. Dann wird daraus der Schein, die Lüge. Diese aber erkennt man nicht sofort, weil man ja ohne eine elementare Form von Glauben nicht leben kann, etwa, indem man sich sagt: „So wird es schon sein, was der oder die da sagt“. Oder: „Diese Flasche wird schon Chablis sein“ usw. Wenn wir prinzipiell jede Äußerung, jede „Erscheinung“, exakt auf die Echtheit hin überprüfen würden, dann könnten wir gar nicht mehr leben, wir hätten nur noch damit zu tun, unsere Skepsis zu falsifizieren usw. Wir müssen also förmlich auch in der Konsumwelt an die Konsumwelt „glauben“, d.h. ihr vertrauen.
Dieses Verhalten prägt uns aber auf Dauer,verdirbt förmlich den Charakter, man macht es sich in der Scheinwelt bequem: Ich will hier an Thomas Bernhard erinnern:, an seinen großen Roman „Holzfällen“ von 1984. Der Ich-Erzähler schildert darin seine Eindrücke von einem Abendessen in Wien, bei einem Ehepaar, mit dem er einst befreundet war, den „Auersperger”. Er beschreibt, wie verlogen, wie nicht-authentisch, die Gastgeber sind: „Den Anschein von allem haben sich diese Leute immer gegeben, wirklich gewesen sind sie nichts. Diese Leute haben keine Existenz, sondern nur eine nachempfundene Existenz“. Aber die Kritik richtet sich nicht nur gegen die Gastgeber. Der Icherzähler ist selbstkritisch genug, er sagt von sich selbst: „Ich habe allen alles immer nur vorgespielt, ich habe mein ganzes Leben nur gespielt und vorgespielt, sagte ich mir auf dem Ohrensessel, ich lebe kein tatsächliches, kein wirkliches, ich lebe und existiere nur ein vorgespieltes Leben, ich habe immer nur ein vorgespieltes Leben gehabt, niemals ein tatsächliches, wirkliches, sagte ich mir, und ich trieb diese Vorstellung soweit, dass ich schließlich an diese Vorstellung glaubte“ (zit. aus „Thomas Bernhard, Eine Biografie. Von Manfred Mittermayer, Wien-Salzburg 2015, Seite 372 f.). Einen Menschen erwähnt Thomas Bernhard als einen authentischen, wahrhaftigen Menschen, die Dichterin Ingeborg Bachmann: „In jeder Zeile, die sie schreibt, ist sie ganz, ist alles aus ihr“ (ebd. S. 409).
Das ist wieder die Sehnsucht: Ein authentischer Mensch möchte ich eigentlich sein…Kann ich aber in dieser mich selbst schon völlig umfassenden Scheinwelt selbst noch ein echter Mensch sein? Wo udn wer ist eigentlich mein Selbst? Wer bin ich eigentlich bei der Vielzahl der Funktionen und Rollen, die ich im Laufe eines Tages spiele und wohl auch spielen muss. Ist meine eigene Mitte nur noch das Bewusstsein, dass ich viele Rollen spiele und diese jeweiligen Rollen transzendiere? Wie sähe unsere Gesellschaft aus, wenn jeder dem anderen seinen subjektiven Eindruck von der Wahrheit des anderen direkt sagen würde? Könnten wir das ertragen? Gäbe es dann Gewalt-Exzesse als Ausdruck des Beleidigtseins oder wäre man einander dankbar, dass die Lügerei mit Notlügen und das Schöngetue und die Ausreden usw. ein Ende haben? Andererseits: Kann meine Meinung über eine Person ja auch nach einem Monat wieder eine andere Meinung sein? Wie geht man dann gesprächsweise mit der neuen „Wahrheit“ um? Ist, anders gesagt, nicht auch die Lügerei, das Schöngetue, die Ausrede, eine Rettung vor allzu viel Verwirrung?
Philosophen waren da anderer Meinung. Im Christentum, etwa durch Augustinus, galt die Überzeugung: Lüge ist in jedem Fall böse. Die Begründung ist metaphysisch: Denn Gott hat bekanntlich die Welt allein durch sein Wort geschaffen. So schafft die Lüge als Wort auch eine gewisse neue Welt, die Welt der Lüge. Da werden plötzlich neue Zusammenhänge gestiftet, alte Überzeugungen geraten in Unordnung usw. Bekanntlich wird der Teufel der Fürst der Lüge genannt. In der Lüge findet also eine Art neue Weltschöpfung durch Menschen statt. Und das ist eine Lästerung Gottes.
Erst bei dem mittelalterlichen Theologen Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert gab es dann eine größere Toleranz für die Lüge: Es wurden Abstufungen der Lüge eingeführt.
Selbst die Notlüge wollte Kant in seiner Ethik nicht zulassen. Er konnte die Lüge auch als Ausnahme nicht gelten lassen. Denn wenn sie möglicherweise üblich wird, dann gerät alles Wirkliche ins Wanken. Denn es kann ja sein, dass ich mit meiner Notlüge einen anderen Menschen schütze, der es nicht verdient hat und der selbst mich noch belügt. Allerdings sah Kant nicht, dass es wirklich schützenswerte Personen gibt, die nur durch Notlügen gerettet werden. Aber Kant bleibt dabei: Nur die absolute Abwehr der Lüge schafft ein menschliches Klima der Wahrhaftigkeit und des Echten.
Anders dachte der Philosoph Friedrich Nietzsche, auch das kann hier wieder angedeutet werden: Er neigte dazu, die gesamte Wirklichkeitserfahrung als Schein und als Lüge zu interpretieren. Nietzsche hat gegen die übliche Wahrheitserkenntnis (=Phänomene als solche erkennen) gekämpft, er sagte: „Es ist nicht mehr als ein moralisches Vorurteil, dass Wahrheit mehr ist als Schein“ (Nietzsche Handbuch S. 258). Alle unsere Erkenntnisse sind für ihn auf Schein bezogen. Schein ist das Lebendige überhaupt. (Aber er behauptet diesen Satz dann doch als Wahrheit und gerät damit in einen Selbstwiderspruch).
Nietzsches Philosophie ist der Versuch, die umfassende Kritik als Zweifel auch auf die Vernunft anzuwenden. Was die Vernunft zeigt, das Gute und das Wahre etwa, ist für ihn nur eine Form der Lüge, des Falschen. Es gibt eigentlich nur Irrtümer, nur Lügen, „die Irrtümlichkeit der Welt ist das Sicherste und Festeste“ (in Nietzsche Handbuch S. 258). Man handelt moralisch, sagt also die übliche Wahrheit, nicht etwa, weil es die Vernunft gebietet, sondern weil es bequemer ist, sich dieser Wahrheit als der allgemein vorherrschenden Lüge anzuschließen. Der grundlegende Impuls alles Menschlichen ist für Nietzsche die eigene Machterweiterung. Jede moralische Handlung folgt entweder der Gewohnheit oder der Berechnung, „davon selbst etwas in Besitz zu nehmen“. Eine private Lüge auf Dauer zu verteidigen, erfordert zu viel Aufwand. „Wir lieben die Wahrheit also nur, weil wir für die Lüge zu träge sind“. Wer eine Lüge erfindet, muss zu ihrer Plausibilität 20 andere dazu erfinden). (vgl. Volker Gerhardt, Friedrich Nietzsche, 1992, S. 125, und Nietzshce, „Menschliches Allzumenschliches, Nr. 54)..
Aber indem Nietzsche doch noch von Schein als solchem sprechen konnte, wurde doch deutlich, dass auch er in seiner Vernunft über die angeblich absolute Scheinwelt hinausgelangt war. Eine totale Bindung in einer Schein-Welt gibt es also nicht.
Das ist auch politisch von höchster Bedeutung. Wir leben in einer Welt, selbst in den so genannten Demokratien des Westens, in denen der schöne Schein uns von allen Seiten, durch die Medien, eingeredet wird. Das ist eine Tatsache, die evident ist, auch wenn sie jetzt von rechtsextremen Kreisen aus ganz anderen Motiven hoch gepuscht wird. Wenn die US-Amerikaner etwa Libyen von der Diktatur befreien wollten, sagten sie das nach außen, zum Schein: Der Diktator muss weg. Entscheidend war die (falsche) Erwartung, danach ganz leicht an das libysche Erdöl „heranzukommen“. Warum hat denn der George W. Bush den Irak-Krieg gegen alle Vernunft und gegen alle internationalen Verabredungen angefangen? Weil er …. ja weil er das Öl und den Einfluss in der Nachbarschaft vom Iran haben wollte. Dies alles ist tausendfach von den seriösesten Politologen beschrieben worden: In jedem Fall: Auch die “Demokratien” erzeugen allzu oft und aus diplomatischen Gründen immer mehr den schönen Schein und versuchen die Bürger für blöd zu erklären. Was ihnen sehr oft ja gelingt.
Aber immer wieder passiert es or allem unter extremen Bedingungen, dass die Bürger genug vom lügenhaften Verhalten der Herrscher haben. Sie wollten „In der Wahrheit leben“, wie ein Buch des großen Intellektuellen, des tschechischen Politikers Vaclav Havel, heißt. Diese Menschen in Prag hatten genug von den staatlichen Lügen der Kommunisten, von dem Gerede vom Sieg und vom Glanz des Sozialismus. Sie durchschauten diese perfide Welt des Scheins. Die Lügner-Politiker, die sich Sozialisten nannten, mussten also entfernt werden, durch die samtene Revolution in Prag gelang es. Havel wurde zu einem der Initiatoren der „Charta 77“: Und „Havel wurde zu einem ihrer Sprecher. Das Dokument forderte die Einhaltung der Menschenrechte und der bürgerlichen Grundfreiheiten. Die Charta 77 pochte dabei lediglich darauf, die geltenden Gesetze zu respektieren. Die Unterzeichner nahmen die Regierenden beim Wort und entlarvten so das formale Rechtssystem als bloßen Schein. Sie demaskierten den Unrechtsstaat. Sie zeigten mit dem ausgestreckten Finger auf des Kaisers neue Kleider und riefen: „Der Kaiser ist nackt.“ (So ein Radiobeitrag des Tschechischen Maria Hammerich-Maier. http://www.radio.cz/de/rubrik/geschichte/des-kaisers-neue-kleider-vaclav-havel-und-das-leben-in-wahrheit)
Wer gegen den schönen falschen Schein politisch kämpft, macht sich das Leben schwer: „Hunderte Bürger unterzeichneten die „Charta 77“. Sie nahmen dafür den Verlust des Arbeitsplatzes in Kauf, wurden schikaniert, ihre Familien verfolgt. Václav Havel verbrachte über vier Jahre hinter Gittern. Ein greifbarer Erfolg der Charta 77 war nicht in Sicht, doch die Bürgerrechtler gaben sich nicht geschlagen“. (ebd.)
So bleibt in jedem Fall die Sehnsucht nach der wahren Erscheinung, der Befreiung von falschem Schein, diese Sehnsucht ist nicht klein zu kriegen.
Alle politischen, ökonomischen und aus Verbraucherkreisen stammenden Widerstandsbewegungen leben von der Erkenntnis: Der Schein beherrscht uns, er ist Lüge. „Wir wollen die wahre Erscheinung. Das Echte“. Man analysiere unter dieser Rücksicht die Reden von Politikern, etwa die Reden der rechtsextremen Marine Le Pen, wie sie von Frankreich, Nation, von Wiederherstellung der Identität, von Republik usw. spricht. Ich will hier auf den ungewöhnlich großen Wahlerfolg der Partei Front National in diesen Tagen hinweisen. In der Pariser Tageszeitung Le Monde, Ausgabe vom 9. Dezember 2015, Seite 16, heißt es: „Von einer Wahl zur anderen hatte die Partei Front National Erfolg mit ihrer „Aktion Verschleierung, Tarnung“, camouflage“ heißt es im Text. Diese Strategie hat das Ziel, sich als normalisierte Partei darzustellen, verjüngt lächelnd… als Partei mit einem extremistischen Programm“. Die meisten Menschen können diesen schönen Schein nicht ertragen.
Man könnte auch von Religionen und kirchlichen Institutionen sprechen, die auch den schönen Schein erzeugen, etwa heilige Menschen als Vorbilder hinstellen, wie etwa im Falle des angeblich stigmatisierten Paters Pio in Italien. Oder denken wir daran, wie noch Papst Johannes Paul II. den pädophilen Verbrecher und Erbschleicher und Drogenkonsumenten, den Ordensgründer Pater Marcial Maciel, als Vorbild der Jugend öffentlich lobte und pries. Oder man denke an den Luxus so vieler Kardinäle im Vatikan, die so gern über Bescheidenheit predigen und sogar noch um Spenden bitten für den Vatikan („Peterspfennig), man denke also all diese religiösen Scheinwelten, an die sich Gott sei Dank immer weniger halten, sie wurden jetzt wieder von dem großartigen Journalisten Gianluigi Nuzzi dokumentiert: Nur mit Skepsis und mit kritischem Bewusstsein kann ein frommer Mensch heute noch den falschen Schein in den Religionen und großen machtvollen Kirchen-Bürokratien von den wenigen echten Lehren unterscheiden! Und sich seine eigene, einfache Spiritualität förmlich zusammenfügen.
Das Thema wird noch brisanter: Es geht um den immer stärkeren Trend, echte Erscheinung und falschen Schein zu verwischen, frisierte Fiktion und Realität ins Schwimmen zu bringen, Nebel zu erzeugen. Wir wissen alle, dass für Kinder und Jugendliche die brutalen Computer-Spiele eine enorme Attraktivität haben. In dem Computerspiel „Gran Theft Auto“ kann der imaginäre Beifahrer eines Autos, also das Kind, „einfach so“ reihenweise die Leute am Straßenrand abknallen. Das ist eine imaginäre Welt, in der es Spaß macht, von einem gemütlichen Stuhl aus per Computer die halbe Welt zu erschießen. Nach diesen beliebten Spiele-Vorlagen inszeniert der Islamische Staat seine technisch gutgemachten Terror-Videos, die per Internet verbreitet sind. Wer diese realen IS-Videos anschaut, so versichern uns kompetente Medienwissenschaftler, der glaubt sich in der Spielwelt, der Scheinwelt, von „Grand Theft Auto“ zu befinden. Tatsächlich aber sieht er Bilder aus der realen Welt, der echten Erscheinungen, Phänomene, in Syrien und anderswo. Man betrachtet Enthauptungen, und weiß nicht: Ist das jetzt spielerische Scheinwelt oder ist es der raffiniert technisch gemachte IS-Werbe-Film. Die Exekutionen des IS aus diesen Propaganda-Filmen sehen nicht real aus, heißt es in einem Bericht des „Tagesspiegel“ vom 8. Dez. 2015, Seite 3, sondern man glaubt in einem spielerischen Film zu sein. Wer das spielerische Töten mag, ist wohl auch motiviert, die Seite zu wechseln, und das reale Töten aufseiten des IS zu praktizieren. Das sind die grausamen Konsequenzen, wenn Scheinbares und Erscheinung, also Realität, in einander fließend übergehen. Wie durch Gewöhnung an den schönen spielerischen Schein auch die Bereitschaft wächst, die Tötungen real zu vollziehen. Denn die Werbefilme des IS zeigen etwa Mörder, die sich eine kleine Kamera vor den Bauch schallen und ihr Abschlachten life drehen und dann ins Netz stellen, zum Nachspielen förmlich. Die gängige Qualifizierung dieser widerwärtigen Mordfilme, ob spielerisch oder real, ist COOL.
Die Klarheit wiederzugewinnen, was ist Erscheinung, also Realität, und was ist Schein, was ist Machwerk, also Lüge: Das ist der Sinn unserer Veranstaltung. Objektiv gesehen, ist der angeblich schöne Schein nicht wahr, auch wenn er sich schön frisiert. Wir müssen zur skeptischen Haltung finden und uns untereinander in der Skepsis, jeder von anderen Einsichten aus, bestärken, nicht auf die Lügen reinzufallen und selbst das Schönreden und Lügen zu beenden.
Aber aus dieser Doppelstruktur von Erscheinung und Schein werden wir uns als einzelne nie ganz befreien können. Ich deutete an, dass wir manchmal förmlich gezwungen sind, im Schein zu leben oder scheinbar zu leben. Retten und helfen kann dann nur allein das Wissen, dass wir im Scheinbaren uns aufhalten … um dann zur Erscheinung, als der Realität, wieder zurückzukommen.
Andererseits: Wir können nie total „ganz“ und eindeutig leben. Aber wir sollten danach streben, da ist ja unsere tiefe Sehnsucht nach einem echten Leben. Aber es gilt, diese existentiale Doppelbödigkeit anzuerkennen, dies ist auch eine Form, gegen den Wahrheitswahn vorzugehen als Form des Fundamentalismus. Der da meint, immer und überall richtig zu handeln, voll in „der“ Wahrheit zu sein.
Darum ist der Spruch von Adorno auch problematisch, ich möchte sagen, falsch, wenn er sagt: „Es gibt kein wahres Leben im falschen“. Es gibt so viele wahre Menschen, die in einem falschen System doch wahr geblieben sind, etwa Vaclav Havel. Und es gibt so viele Menschen, die lieber reinen Wein trinken als gepanschten, weil sie die kritische Unterscheidungsgabe bewahrt haben und lieber weniger echten Wein trinken als oft den preiswerten schlechten Wein.
Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.