“Sinnvertrauen wecken”: Über religiöse Rede

“Sinnvertrauen wecken”: Über religiöse Rede

Das 15. Interview mit Prof. Wilhelm Gräb (im August 2013) in der Reihe “Fundamental Vernünftig”

Die Fragen stellte Christian Modehn

Sie haben gerade ein Buch geschrieben, das sich mit der religiösen Rede, vor allem der Predigt, befasst. Worin sehen Sie heute die wich-tigste Forderung an einen Prediger, eine Pastorin oder einen Pfarrer, etwa in einer europäischen Großstadt, z.B. in Berlin?

Von der kirchlichen Predigt, sonntags oder bei alltäglichen Gelegen-heiten, im Gottesdienst oder in der urbanen Welt der Medien wird immer noch viel erwartet. Die Erwartung ist die, religiös angespro-chen zu werden, bewegend, tröstlich, ermutigend. Das ist es deshalb auch, was von Prediger und Predigerinnen zu fordern ist: Existenziell sollte ihre Predigt sein, den Glauben und die Botschaft ins Leben zie-hen, um das Sinnvertrauen der Menschen zu stärken.

Aus welcher Position heraus sollte ein Prediger heute sprechen: als Wissender, als Spezialist oder als Fragender, als Suchender wie die Gemeinde der Zuhörenden?

Wer predigt sollte sich auf die Religion verstehen. Wer sich auf die Religion, also auf des Menschen Verhältnis zum Göttlichen versteht, der aber bleibt ein Suchender und Fragender, da der Glaube kein Wis-sen ist und nie zu einem solchen werden kann. Das Wissen ist immer Wissen von dem, was es gibt. Der Glaube ist auf das gerichtet, was uns in all unserem Wissen von dem, was es gibt, stärkt, uns überhaupt im tätigen Vollzug unseres Lebens trägt. Der religiöse Glaube gibt uns das Gefühl, dass das Leben seinen Sinn in sich selbst trägt. Doch dar-in, wie das Leben so geht und es um unser immer fragmentarisches Wissen bestellt ist, zeigt sich unser aller Angewiesenheit auf die zum Glauben ermutigende und das religiöse Gefühl stärkende Rede.

Wer religiös spricht, und das ist es, was die Predigt tun sollte, redet nicht über die Religion oder die Religionen, nicht über die religiösen Institutionen, nicht über die Kirche. Wer religiös spricht, redet aus Re-ligion, aus religiöser Überzeugung, weil sie ihm selbst wichtig ist – was aber gerade nicht heißt, dass er keine Fragen an den eigenen Glauben mehr hätte, schon gar nicht, dass er nicht ein Suchender blie-be, um die rechten Worten ringend, immer wieder zweifelnd, ob der Glaube nicht doch ins Leere geht. Dennoch, nur der, dem die religiöse Sinngrundierung des Lebens selbst immer wieder aufleuchtet, will von ihr zu anderen sprechen. Er muss sehen, wie das gehen kann, ohne aufdringlich zu werden. Wie die Balance zu finden ist, von Nähe und Distanz. Wie kann ich, der ich aus Religion reden möchte, dies so tun, dass andere sich über sich selbst und ihr Sinnvertrauen verständigt finden, in ihm gestärkt und zu neuem Lebensmut befähigt? Auf diese Fragen habe ich in meinem Buch, das zum religiös inspirierten Predi-gen anleiten möchte, nach Antworten gesucht.

Sollte in christlichen Gottesdiensten immer die Möglichkeit gegeben werden, auf die Rede, die Predigt, zu reagieren? So dass aus dem Monolog ein vielfältiger Dialog wird?

Die kirchliche Predigt ist in der Tat viel zu sehr zum geradezu zwang-haft verordneten Element kirchlicher Rituale geworden, zu denen die meisten Menschen aber keinen Zugang mehr finden. Die Predigt steht unter enorm hochgeschraubten liturgischen, dogmatischen, biblisch-exegetischen und professionstheologischen Voraussetzungen, die es selbst den Freunden der Religion schwer machen, ihr zu folgen. Sie hat sich weithin auch selbst damit abgefunden, nur noch diejenigen anzusprechen, die die kirchliche Zeichensprache verstehen, mit der Liturgie des Gottesdienstes etwas anfangen können, den hohen An-spruch, dass hier „Gottes Wort“ verkündigt wird, akzeptieren, gar selbst formulieren?

Damit hat sie sich von ihrem Anspruch, öffentliche religiöse Rede zu sein, mehr oder weniger verabschiedet. Ich meine jedoch, die Kultur der Gegenwart gibt Hinweise genug, dass es berechtigt ist, diesen An-spruch aufrecht zu erhalten. Nicht weil davon der Fortbestand der Kir-che und der durch sie ins Predigtamt Berufenen abhängt, sondern weil den Menschen die Religion, die lebenswichtig ist und doch immer nur durch Ansprache in einem Menschen entsteht, verlorenginge.

Ob die Menschen, die eine Predigt hören, dann auch sofort selbst zu Wort kommen, ist m.E. nicht so entscheidend. Es hat auch Vorteile, einmal zuhören, der Entfaltung eines religiös erbaulichen Gedankens folgen zu können und in eine dem Ganzen gemäße Gestimmtheit sich versetzt zu finden. Der Dialog kann auch ein impliziter sein. Das zu leisten wird damit allerdings auch wieder zur Forderung an die Predi-ger und Predigerinnen.

Viele Prediger selbst verwechseln Rede/Predigt mit einem bloß sub-jektiven Zeugnisgeben. Gibt es Forderungen nach „rationaler“ Kon-trolle und Nachvollziehbarkeit der Argumente für Prediger?

Die Predigt steht und fällt damit, dass sie ihre Botschaft auf einleuch-tende, überzeugende und somit argumentativ durchsichtige Weise ent-faltet. Deshalb muss sie erfahrungsnah sein, und vor allem dialogisch. D.h. eben keineswegs, dass sie immer ein Gespräch eröffnen müsste. Eine der Form nach monologische Rede kann auch indirekt einen Dia-log mit den Hörenden führen, ihre potentiellen Einwände ansprechen und Argumente aufbieten für die Behauptungen, die sie aufstellt. Dass etwas in der Bibel steht, ist kein Argument. Entscheidend ist die sub-jektiv plausible Nachvollziehbarkeit.

Ist die Rede heute das wichtigste „Instrument“, um in der Gesellschaft von Religion zu sprechen? Welche anderen Möglichkeiten würden Sie vielleicht stärken oder bevorzugen?

Zunächst und vor allem möchte ich sagen, dass ich die Predigt, wenn es ihr gelingt, zur religiös erbaulichen Rede zu werden, tatsächlich immer noch für das wichtigste Instrument halte, um auf eine der Reli-gion gemäße Weise von Religion zu sprechen.

Um diese These zu bekräftigen möchte ich einen nicht aus der Kirche, sondern aus der Kultur der Gegenwart stammenden Hinweis geben. Verweisen möchte ich auf das Buch des französischen Sozialphiloso-phen Bruno Latour: Jubilieren. Über religiöse Rede. (2011) Dieses Buch führt emphatisch Klage darüber, dass der Gesellschaft und dem einzelnen Menschen etwas Lebensnotwendiges fehlen würde, wenn die religiöse Rede verstummte oder, da sie ja im kirchlichen Ritual fortwährend ergeht, ihre Heil bringende Kraft verlöre. Was dann feh-len würde, sind „Worte, die wieder aufrichten“, die „Leben spenden“, Worte, die heilsam sind. Das Schlimme für Latour ist: Auch die Kir-che versteht sich nicht mehr auf die religiöse Rede. Sie hält „die Reli-gion für gewunden, für verschlungen, ganz als müsse sie uns über ei-nen schmalen, fallengespickten Pfad zu dunklen und fernen Geheim-nissen führen.“ In entfernte Gegenwelten hat die Kirche die Religion entrückt und „die Worte, die Leben spenden sollen, werden (sc. in der Kirche) in einer fremden Sprache ausgesprochen, die sich an histo-risch, räumlich, kulturell entfernte Menschen richtet.“
Dennoch, daran hält Latour fest, die Kirche, sie hat sie, „die Worte, die Leben spenden“, aber sie findet die Sprache nicht mehr, nicht den richtigen Tonfall, nicht die richtige Tonart. Das Sprechen ist das Prob-lem, das Aussprechen. Mehr will der sich zu seinem Atheismus be-kennende, aber um die Religion besorgte Sozialphilosoph deshalb mit seinem Buch über die religiöse Rede gar nicht. Vom religiösen Redner sagt er: „Er will bloß dem religiösen Ausdruck wieder Bewegungs-freiheit verschaffen, diesem so einzigartigen Brauch, der im Lauf der Geschichte Wort und Sprache gewann und der ihm heute so entsetz-lich gehemmt vorkommt … nur eine Ausdrucksform aus ihrer Ver-kapselung lösen, die, einst so frei und erfinderisch, fruchtbar und heil-bringend, heute auf seiner Zunge zerfällt, wenn er ihren Schwung, ih-ren Rhythmus, ihre Artikulation wieder aufnehmen will.“

Den religiösen Ausdruck, die Sprache der Religion zu finden, ist keine bloße Formsache. An der religiösen Rede hängt die Wahrheit der Re-ligion. Und die Wahrheit der Religion ist keine beiläufige Angelegen-heit, mit der lediglich diejenigen noch beschäftigt sind, die sich in der Liturgie der Kirche auskennen. Die Wahrheit der Religion ist, dass sie uns den Sinn für den Sinn unseres Daseins in dieser Welt eingibt. Sie lässt uns den Schmerz empfinden über das, was fehlt, sie stärkt aber auch unendlich die Hoffnung aufs Gelingen. Damit diese lebensnot-wendige Wahrheit der Religion allgemein zugänglich bleibt, muss sie öffentlich ausgesprochen werden. Es gilt, „die passenden, genauen, präzisen Worte zu finden, um die Rede heilbringend zu machen, um gut (sic!) über die Gegenwart zu reden.“

Wie kann an öffentlichen Orten, etwa Kneipen, Cafés, Galerien, Kinos, Museen, von Gott heute gesprochen werden?

Eine Predigt, die die religiösen, aufs Ganze gehenden Sinnfragen des Lebens anspricht, die Dinge, die uns Angst machen, die Erfahrungen, in denen das Vertrauen uns weitergeholfen hat, die Ziele, für die ein-zusetzen sich lohnt, stellt einen jeweils konkret ins Leben greifenden Akt der Lebensdeutung dar. Sie ist immer noch eine hervorragende Gelegenheit, redend zur Ausführung zu bringen, was uns zutiefst an-geht, im Leben erhält und unseren Blick nach vorne hin öffnet. In ih-rer Form ist sie an die Kirche gebunden. Der Sache nach freilich ist sie viel zu wichtig, um nicht überall dort auch zu geschehen, wo Men-schen die Begegnung mit sich selbst und untereinander erleben kön-nen.

Im Oktober erscheint dieses Buch, das der Predigt die Öffentlichkeit der existentiell relevanten religiösen Rede zurückgeben möchte, im Verlag Vandenhoeck&Ruprecht:

Wilhelm Gräb
Predigtlehre. Über religiöse Rede
Göttingen 2013

coopyright: wilhelm gräb und religionsphilosophischer salon berlin

Nietzsche – gefährlich anregend. Ein Vortrag im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon

Nietzsches Philosophie – gefährlich anregend

Von Christian Modehn, Berlin, veröffentlicht am 23.9.2012, anlässlich der Sitzung des religionsphilosophischen Salons, auf vielfachen Wunsch publiziert.

PS: Es handelt sich um ein einführendes, zur Diskussion führendes Statement.

Der Titel deutet bereits das Spannungsverhältnis an, dem man sich stellen muss, wenn man sich mit Nietzsches Philosophie befasst. Er selbst hat sein eigenes Denken gefährlich genannt, weil es in die Weite einer neuen Kultur führen soll, was einen Bruch mit der vertrauten alten Kultur bedeutet.

In seinem relativ frühen Text „Fröhliche Wissenschaft“ (von 1881) gibt Nietzsche selbst die Losung aus, „gefährlich zu leben“. Gerade in dieser Infragestellung unserer bisherigen kulturellen Selbstverständlichkeiten ist Nietzsche anregend – und aufregend. Sein Denken kann niemanden unbewegt lassen.

Warum gerade jetzt eine Auseinandersetzung mit Nietzsches Philosophie? Vielleicht, weil viele seiner Analysen und Prognosen heute von vielen als zutreffend erlebt werden. Sie sind entschieden von einer radikalen, das bisherige christliche System vernichtenden Religionskritik geprägt und von dem äußerst eindringlichen Vorschlag, sich neu religiös zu orientieren. Das gilt es wahrzunehmen, ohne gleich zuzustimmen!

Die entscheidende Perspektive heißt bei Nietzsche: Gott ist tot. Da muss man genau hinhören: Er sagt in diesem Satz, der seiner Analyse seiner Gegenwart entspringt, dass Gott tot ist. Das ist etwas anderes als zu sagen: Gott gibt es nicht; oder: Gott existiert nicht. Wer sagt: Gott ist tot, und er sagt auch: Er war mal lebendig. Nun ist er tot, ein bestimmter Gott ist nicht mehr am Leben.

Da sind wir schon beim aktuellen Bezug: Jeder sieht in Westeuropa und unter allen gebildeten Menschen weltweit: Dass der alte bekannte überlieferte und eingeprägte Gott der Christen, etwa die Trinität oder Jesus als „Lamm Gottes, das die Sünden der Welt hinweg nimmt“, ist nicht mehr nachvollziehbar lebendig, wird nicht mehr innerlich verehrt und akzeptiert. Der alte dogmatische Glaube ist tot. Jeder macht sich seine persönliche „Glaubensmelange“… Das ist eine Tatsache, und war wohl früher schon eine Tatsache. Welcher bayerische Bauer glaubte im 17 Jahrhundert z.B. dogmatisch korrekt, etwa, laut Glaubensbekenntnis, dass der Heilige Geist von Vater und Sohn ausgeht?

Man werfe heute nur ein Blick in die Kirchen am Sonntag: Der Gottesdienstbesuch lässt in ganz Europa ständig nach; in manchen Ländern geht er gegen Null; die dort verbreiteten Gotteslehren und oft auch in eins mit Morallehren sind nicht mehr nachvollziehbar. Das Mönchsleben und die Orden sterben aus; große Begeisterung, Pfarrer zu werden, ist kaum zu spüren, viele theologische Fakultäten stehen etwa in Deutschland vor der Schließung. Was Nietzsche empört, ist, dass alle so weiter machen und weiter leben wie bisher, als sei dieser Gott gerade nicht tot. Sie flüchten in den Schein und den Selbstbetrug.

Aber dieser verstorbene Gott war früher sozusagen der oberste Garant einer Werte – Ordnung: „Für Gott und Vaterland“, man erinnert sich an den Spruch; Gott ist die oberste Wahrheit; alles Erkennen geschieht in göttlichem Licht; Gott ist der Schöpfer der Welt usw.

Wenn dieser Gott der obersten Werte und vertrauten Weltbilder tot ist: Dann bricht eine Welt zusammen. Dann wird den Menschen der Boden entzogen.

Das Schwierige im Umgang mit Nietzsches Texten ist nur: Es sind in den umfangreichen Büchern viele, meist kurze knappe Texte hintereinander gestellt, es sind meist keine systematischen Abhandlungen, zumindest im Spätwerk (ab 1880) ist das so. Da sollte man nie isolierte Aphorismen für die ganze Wahrheit von Nietzsche Aussagen nehmen.

Friedrich Nietzsche (1844 bis 1900) ist zweifellos einer der ungewöhnlichsten Philosophen. Er schreibt in einer Sprache, die musikalisch – poetisch ist, keineswegs abstrakt und nur in Theorien – versponnen. Nietzsche ist heute einer der am meisten gelesenen und philosophisch bearbeiteten Denker. Er wurde rezipiert von Künstlern, wie Picasso, Kandinsky, Klee, Schriftstellern wie Rilke, George, Thomas Mann, Proust; Richard Strauss („Also sprach Zarathustra“) Gustav Mahler…

In Deutschland begann die gründliche kritische Nietzsche Forschung erst in den sechziger Jahren.

Nietzsche spricht als persönlich Erschütterter und Leidender. Seine Texte sind mit dem eigenen Leben verbunden, sind niemals Erkenntnisse, die am „grünen Tisch“ entstanden sind oder sich lediglich als Beiträge akademischer Debatten oder gar als „Glasperlenspiel“ verstehen. Wichtig ist der extrem hohe Anspruch seines Denkens, das sich besonders in der späten Phase, vor der Umnachtung im Januar 1889, als prophetische Stimme, als Weisung und radikale Lebenserneuerung präsentiert. Das ist in dieser, man möchte sagen, „missionarischen Sendung“ durchaus selten innerhalb der Philosophiegeschichte.

Nietzsche will mehr sein als ein Philosoph, er will als Ausnahmeexistenz des Umstürzlers und Neues Stiftenden ein Beispiel geben. Er möchte eine neue Renaissance einleiten, Geburtshelfer einer neuen Kultur sein. Dabei kommt es gerade in den letzten Jahren zu einer extremen Stilisierung des eigenen Daseins und Denkens. Er will aus seinem Leben ein Kunstwerk machen. Er schreibt Worte, die Taten sein wollen. Er will ein Philosoph „mit dem Hammer“ sein: D.h. wohl: Es ist der „Hammer“ gemeint, mit dem der Arzt den Körper des Patienten abklopft, so will Nietzsche sinnlich wahrnehmen, hören, was unter „uns“ geistig – religiös krank ist.

Ich will kurz einen, vielleicht das Wesentliche treffenden biographischen Hinweis geben: Hier kommt es nur darauf an, zentrale menschliche Lebens – Erfahrungen Friedrich Nietzsches zu erwähnen, die unmittelbar für sein Denken und Schreiben wichtig wurden: Vor allem ist da zu nennen der schmerzvolle Tod seines Vaters im Alter von 36 Jahren, ihn erlebte Friedrich Nietzsche als 5 Jähriger. Sein Vater war evangelischer Pfarrer, er stammte aus einem alten „Pfarrergeschlecht“, in der Familie gab es schon in der 5. Generation Pastore. Zuhause wurde auf strenge Befolgung der kirchlichen Lehren geachtet.

Friedrich Nietzsche wandte sich angesichts des Leidens und frühen Sterbens seines Vaters an Gott, betend und bittend; aber ohne göttliche Antwort blieben seine Bitten.

Kein Gott antwortet: Nietzsche lernt daraus: Gott erhört uns nicht; die Frommen verehren eine Art Phantom, ein illusorisches Himmelswesen, unerreichbar und tyrannisch. Dieser Glaube, sagt Nietzsche später, führt die Menschen dazu, das Beste ihrer Ideen und Energien an einen illusorischen Himmel zu verschleudern … anstatt „fröhlich“ auf Erden zu leben. Es kommt für Nietzsche entschieden darauf an, dass die Menschen die Freude am Lebendigen bewahren, dass sie sich am Genuss der Sinne erfreuen, dass sie Stärke erleben…Bleibt der Erde treu, heißt dann sein Prinzip.

Ich will hier nur kurz erwähnen, dass Nietzsche in Basel schon als hochbegabter junger Mann – ohne Promotion, ohne Habilitation – Professor für Altphilologie wird. Aber in den Baseler Jahren wird schon die Philosophie für ihn immer wichtiger: Er gibt die Professur auf und lebt fortan ziemlich bescheiden als freier Philosoph und – kaum erfolgreicher – Schriftsteller bis zu seinem geistigen und körperlichen Zusammenbruch Anfang 1889. Nietzsche ist 1900 gestorben, seit 1889 von seiner Mutter in Naumburg liebevoll versorgt, ab 1897 von seiner Schwester Elisabeth in Weimar betreut, die sich – als Antisemitin schlimmster Art – erdreistete, unveröffentlichte Texte ihres Bruders nach eigenem ideologischen Gusto zu veröffentlichen (etwa: „Der Wille zur Macht“). Sie hat auch dafür gesorgt, dass von Nietzsche ein paar Sprüche durch die Stammtisch Gesellschaften geisterten und geistern. Etwa: Nietzsche propagiere den Machtmenschen, den Übermenschen, die blonde Rasse usw, Dinge, die im Faschismus aufgegriffen wurden. Erst die kritischen Gesamtausgaben von Colli und Molinari ab 1960 haben eine ernsthafte differenzierte Nietzsche Lektüre möglich gemacht.

Nietzsche hat eher „anti – systematische“ Werke hinterlassen, aber er hatte systematische Absichten, schreibt der Philosoph Volker Gerhardt.

Ein Wort zur „Methode im Denken Nietzsches:

Wichtig ist das radikale Hinterfragen und Bezweifeln der überlieferten kulturellen und religiösen Traditionen. Er fragt, was ist das VERBORGENE in dem, was sich kulturell zeigt. Der Verdacht spielt bei ihm eine große Rolle, ihn interessiert der Schleier, der sich über die Wahrheit legt, die Rolle des Unbewussten wird von Nietzsche klar gesehen. Nietzsche als Psychologe wäre ein Thema!

Also: Hinter dem, was sich öffentlich als gut zeigt, kann etwas anderes, etwas Böses lauern. Der Schein trügt, ist seine Devise. Und hinter dem, was wir als Böse hingestellt bekommen, kann sich gerade das Gute und das Wahre verbergen. Wir müssen also immer skeptisch bleiben, nicht auf alle Sprüche aller möglichen Herrschaften reinfallen. Wir müssen damit rechnen, so Nietzsche, dass uns auch in den entscheidenden Begriffen und Dogmen, wie Gott z.B., nur Masken begegnen.

In Nietzsches späterem Werk, also etwa seit 1880, kehren bestimmte Themen und Motive immer wieder, z.T. mit unterschiedlicher Schärfe und Intensität.

Ich will versuchen, eine Art kleinen systematischen Durchblick zu bieten:

Stichwort Nihilismus: Da zeigt sich Nietzsche als der große Analytiker der Gegenwart und als „Wahrsagevogel – Geist“, wie er sich selbst nannte.

Er sieht einerseits die große Öde, das nur glitzernde Phantom, den routinierten und öden „Kulturbetrieb“, wie Adorno später sagt.

Die alten Werte werden nicht mehr als solche respektiert. Sie werden zwar pro forma mit dem Anspruch der absoluten Wahrheit verkündet, aber, so Nietzsche, diese absolut geltenden Wahrheiten gelten eigentlich nicht mehr. Die meisten wissen längst: Alles Erkennen ist perspektivisch, also ausschnitthaft. Es gibt keine rund herum absolut wahre Erkenntnis des „Dinges an sich“.

Aber die alte Welt der Kultur und Religion redet uns ein, wir müssten absoluten Werten folgen, diese Einrede ist obsolet geworden. Diese Bindung an die alten Werte wird passiv hingenommen, der oberste Wert, Gott und Christus, werden als Aufforderung verstanden, das Leiden hinzunehmen, alles zu ertragen.

Aber Nietzsche fragt: Woher kommt der Nihilismus. Es sind die Priesterklassen und Asketen, die ihre Werte verbreitet haben, Werte des Jenseits, die mit dem Leben nichts zu tun haben. Den dort gepredigten passiven Nihilismus will Nietzsche überwinden.

Aber zuvor, damit zusammen hängend, muss erkannt werden:

Gott ist tot: ist das entscheidende Stichwort. Aber alle tun so, als sei er nicht tot.

In der „Fröhlichen Wissenschaft“ kündigt der tolle Mensch den Tod Gottes an. Wichtig ist zu sehen, dass der Tod Gottes nicht als bedauernswertes, zwar als überwältigend erschütterndes Ereignis gesehen wird, sondern im letzten als große Befreiung. Später auch, in seinem Zarathustra Buch, wird der Tod Gottes als das zentrale Ereignis beschrieben. Jedenfalls liegt da kein Plädoyer pauschal für den Atheismus vor, eher die Aufforderung der Suche nach einem neuen Gott, von dem schon der junge Nietzsche sprach.

Differenzierter sollte man sehen: Jesus bejaht Nietzsche als die vorbildliche menschliche Gestalt und die menschliche Lehre des Jesus von Nazareth. Jesus habe ein Nein gesprochen gegen alles, was Priester und Theologen sagten. Er hat zum Widerstand aufgerufen, die kleinen Leute sollten widerstehen…

Nietzsche sieht den Ursprung der Verfälschung der Jesus – Lehre mit Paulus beginnen. Durch die Lehre von der Auferstehung verschiebe sich das Interesse am Dasein ins Jenseits, in weite Fernen.

Nietzsche sieht die Kirche wegen dieser monströsen dogmatischen Lehren, so wörtlich, als Irrenhaus.

Er spricht davon, dass die „Kirchen zum Grab Gottes“ werden, eine sehr hellsichtige Analyse, wenn man bedenkt, wie heute viele (katholische) Kirchenmitglieder, „eigentlich“ durchaus gläubig, durch die Verbrechen der Kircheninstitutionen, der Päpste, der Priester usw. usw., zu Atheisten werden.

12.

Nietzsche sieht sich als Überwinder des Nihilismus.
Er ist alles andere als ein nihilistischer Denker, der sozusagen in das Nichts verliebt ist. Nietzsche macht konkrete Vorschläge, wie denn eine neue Kultur und eine neue Religion aussehen könnte: Dabei sieht er sich wie einen Narren, der Unbequemes sagt, wie ein Hanswurst, sagt er wörtlich, wie einen tollen Mensch. Insgesamt aber sieht sich Nietzsche als FREIER GEIST und befreiter Geist (von der alten Religion).

Aber zunächst noch: Es gilt, nach dem Tode Gottes neue Tafeln, so wörtlich, neue Gebote also, zu setzen. Die andere Möglichkeit wäre, im Alten zu verharren und beim „letzten Menschen“ zu bleiben. Der Begriff der letzte Mensch ist sehr vieldeutig, es ist auch der „letzte“ im moralischen und zeitlichen Sinne. Diese Menschen folgen noch dem untertänigen Geist der alten Sklavenmoral. Sie ersetzen Gott durch neue Idole, für Nietzsche sind das Demokratie, Fortschritt, Wissenschaft.

Der erste Vorschlag: der Mensch muss den Menschen überwinden und zum Übermenschen werden.
„Tot sind alle Götter, nun wollen wir, dass der Übermensch lebe“. (Zarathustra). Der Übermensch ist ein belasteter und oft missverstandener Ausdruck. Mit dem Übermenschen meint Nietzsche entschieden den Menschen, der sich von dem immer wieder aufgedrängten und eingeübten Selbsthass der alten religiösen Kultur befreit hat, der sich nicht mehr untertänig verhält, sondern stolz ist auf sein Leben. Und der dieses Leben als einen Prozess der ständigen Steigerung versteht. Der Übermensch lebt das Leben auf immer tiefere Erfahrungen hin. Der sich ständig überschreitet und wächst.

Da spielt die aktuelle Diskussion hinein, es herrschen die Slogans: Mach aus deinem eigenen Leben ein Kunstwerk. Werde schöpferisch. Höre auf mit der verordneten Selbstverarmung. Deine Tugenden sollen Selbstaufwertung und Selbstüberbietung sein. Hört auf mit der von den Religionen diktierten Selbstverschwendung. Und hört auf mit der Idee der Gleichheit aller Menschen. Das ist die hoch problematische Seite an diesem Begriff, wie ihn Nietzsche vorträgt.

Mit Nietzsche wird ein „Gegenevangelium“ formuliert, wie der katholische Theologe Eugen Biser sagt. Nietzsche will lehren, dass nach dem Tode Gottes die Menschen und die Welt den Platz Gottes einnehmen müssen. Es gilt, sich in einer irdischen Welt einzurichten und umfassend Freude am Leben zu haben. Es wird eine Alternative zur bisherigen Welt geplant. Das Leben ist der Höchstwert als nur menschliches Leben. Dabei sollen nach Nietzsche, und das macht ihn problematisch, die Starken als die Herrscher, entscheidend den Ton angeben. „Wie kann der Übermensch Ja sagen zum umfassenden Leben und gleichzeitig die anderen, die Schwachen, verachten?“, darauf macht der Philosoph Schönherr Mann aufmerksam. Dennoch bleibt die Auseinandersetzung mit der Frage wichtig: Wie können Menschen sich selbst überschreiten und alle positiven Kräfte in sich entwickeln.

Dahinter steht der Begriff „Der Wille zur Macht“. Dieses Thema hat Nietzsche selbst nicht vollständig ausführen können. Aber deutlich wird: Die neue Macht der neuen Welt können nicht die einstigen Sklaven, die Unterlegenen, die kleinen Leute übernehmen. Die sind ohnehin von Ressentiments, von Neid, geprägt, aber Nietzsche sah, wie der gelebte Wille zur Macht tatsächlich auch zu einem großen Durcheinander verschiedener Willen führen kann. Darauf hat er keine Antwort gegeben. Aber für ihn hat alles Lebendige in sich den Willen zur Macht, zur Steigerung und Gestaltung.

Darum sein Vorschlag für eine neue Sinnorientierung: Die ewige Wiederkunft des Gleichen. Dies ist eine heroische Haltung, die Annahme des unausweichlichen Schicksals. Da tritt Nietzsche wie ein Stifter eines neuen Glaubens auf. Ewige Wiederkunft: Da ließe sich auch an das Nirwana des Buddhismus denken. Aber im Buddhismus gibt es einmal den Ausstieg aus dem Kreislauf, eben den definitiven Schritt ins Nirwana.

Das ist bei Nietzsche nicht gemeint. Das ist der Versuch, die lineare Geschichte aufzugeben, also die Idee einer unbekannten Zukunft vor uns aufzugeben, zugunsten eines Kreises, der Wiederkehr der bekannten irdischen Welt. Diese Vorstellung hat Nietzsche selbst für die schwerste unter allen Erkenntnissen gehalten; sie setzt auch den einzelnen ein in die Wiederkunft des schon einmal Erlebten. Das wird von Nietzsche durchaus als Last angesehen, wer will schon alles Leid, das er einmal durchmachte noch einmal und noch einmal später erleben? Aber diese heroische Annahme der Wiederkunft lobte Nietzsche als amor fati. Was sich ständig wiederholt, hat einen zwanghaften Charakter, ohne Ziel und ohne Ende dreht sich die Welt. Ob das eine bessere Lösung ist als die klassische Lehre von der himmlischen und zukünftigen Erlösung ist eine andere Frage!

Das Buch „Der Antichrist“ ist die heftigste Anklage und Verurteilung des Christentums. In einer scharfen Tonart geschrieben! Es geht ihm, wie Eugen Biser sagt, um einen Vernichtungsschlag“. Luther habe bloß den Papst kritisiert, jetzt kommt es darauf an, das Christentum und die Kirche zu vernichten. (§ 57, Antichrist). „Ich heiße das Christentum den einen großen Fluch, die ein große innerlichste Verdorbenheit, den einen großen Instinkt der Rache, dem kein Mittel giftig. Heimlich, unterirdisch, klein genug ist, ein Schandfleck der Menschheit“.(§ 62)

Sein letztes, aber erst nach seinem geistigen Zusammenbruch veröffentlichtes Bekenntnisbuch autobiografischen Charakters heißt Ecce Homo, ein biblischer Titel. Darin erklärt er sich selbst zur Person, an der sich das Schicksal der Menschheit entscheidet. Er sieht sich als dionysischer Erlöser. Er leidet, aber nimmt alles an als eine amor fati, als eine Liebe und Annahme des Schicksals.

Nietzsche verstand sich selbst als Experimentalphilosoph, und das ist seine bleibende Leistung: Neuland zu betreten

Aber es ist verfehlt, Nietzsches Schriften unmittelbar für eine Lebens- Orientierung zu halten, dafür ist seine Konzeption einer neuen Kultur und neuen Religion mit einem neuen Gott noch viel zu abhängig von dem, was er selbst überwinden will. Er verharrt innerhalb der Dialektik „Gott – Nicht Gott“ auf der Stufe der bloßen Negation. Wichtiger wäre eine neue Position, eine neue Synthese, sozusagen als das Dritte jenseits von klassischem Theismus und Atheismus. Vielleicht wäre dies die Mystik.

Was bleibt nach Nietzsche für ein Denken des Unendlichen, des Ewigen? Das menschliche Leben ist Geheimnis. Das Leben, auch das leibliche, soziale und sinnliche und erotische, gilt es in höchstem Maße zu schützen und zu pflegen und zu lieben. Wir können das Geheimnis des Lebens niemals umgreifen und damit niemals endgültig definieren. Wir sind sozusagen im ständigen Schwebezustand des Ungewissen. Das ist unsere Gewissheit, unser „Getragensein“. Gott ist dabei unser Symbol für dieses Schweben im Geheimnis, für dieses Ausgesetztsein dem Geheimnis gegenüber und IM Geheimnis. Wir brauchen dieses Symbol der Öffnung, der Weitung, weil wir wissen: Unsere Welt ist niemals nur irdische Welt. Der Mensch ist niemals nur Mensch, aber er wird wohl nie Übermensch. Er bleibt Mensch, ewig auf der Suche nach dem unergründlichen Geheimnis, allein und in (religiösen) Gemeinschaften, die für diese undogmatische Position Verständnis haben.

Copyright: Christian Modehn, Berlin.