Orte der Lebenskunst: Über die Zukunft christlicher Gemeinden

Gemeinden als Orte der Lebenskunst

Zur Zeitschrift ADREM der Remonstranten

Von Christian Modehn

Die Remonstranten in den Niederlanden, diese freisinnige christliche Kirche, nennt ihre Monatszeitschrift ADREM. Dieser Titel klingt lateinisch: „Zur Sache“, heißt die Übersetzung. Es geht um die „Sache“ spirituellen Lebens im Heute … auf der Basis einer vernünftigen, kritischen, „modernen“ Theologie. Aber der Titel ADREM unterstreicht auch, dass eben REMonstranten selbst zeigen, wie sie in der Gesellschaft, die säkular ist, pluralistisch, der Globalisierung ausgesetzt usw., ihr Leben gestalten.

Das neueste Heft, 26. Jahrgang, erschienen im Juli 2015, ist im besten Sinne ein vielstimmiges Plädoyer für eine Dimension der Lebenskunst: die Einübung der Stille, die Überwindung von Stress und Hektik.

Die Philosophin Joke H. Hermsen plädiert für das „langsame Leben“, die Unterbrechung, die Pause, die Stille. Nur dann können wir das menschliche Maß wieder finden, uns befreien aus Weiterlesen ⇘

Eine große Weite des Denkens: Liberale Theologie als Impuls, vernünftig zu glauben

Große Weite des Denkens
Die liberale Theologie ermutigt die Menschen, sich die eigene religiöse Erfahrung von niemandem nehmen zu lassen, auch nicht von den Kirchen. Den Abschied von alten Dogmen eingeschlossen
Von Christian Modehn

In der empfehlenswerten Zeitschrift “Publik – Forum” erschien im Juli 2013 ein kleiner Essay, der auf die lange Zeit eher selten beachtete liberale Theologie aufmerksam machte. Dieser Beitrag ist keine theologiegeschichtliche Studie. Sondern der Versuch, angesichts der tief greifenden Umbrüche im religiösen Bewusstsein sehr vieler, vor allem nachdenklicher und kritischer Menschen darauf hinzuweisen: Es gibt eine Form der Spiritualität und des christlichen Glaubens, die sich von belastenden Vorgaben der Dogmatik, der rigiden Morallehre von Dogmatikern und Herren der Kirche befreien kann. Es gibt also eine christliche Spiritualität, die wieder das Elementare pflegt und den Glaubenden wirklich alle Freiheit zutraut, die je eigene Gestalt des Glaubens zu suchen und zu leben. Nur der je – eigene Glaube, kritsich reflektiert und verantwortet, kann “authentisch” sein.
Dieser Beitrag hat unter dogmatisch orientierten (katholischen) Theologen etliche Kritik hervorgerufen, es wurde mir sogar „Beliebigkeit“ unterstellt, wobei dann der Beitrag selbst offenbar gar nicht gelesen wurde. Es gibt aber auch sehr viele ermunternde Stellungnahmen, sie machen deutlich: Die Sehnsucht nach einer liberalen Glaubensform ist auch in Deutschland da, die Glaubenden wollen nicht länger alte Formeln nachsprechen, sie wollen argumentativ verstehen, wie das Göttliche sich in ihnen selbst zeigt, sie wollen auch im Denken und Fühlen frei sein, wenn sie glauben.
Leider ist es so, dass dieser Sehnsucht nach liberal – theologischen Überzeugungen und liberal – christlichen Glaubensgemeinschaften und Kirchen in Deutschland keine kirchliche Realität entspricht. Die Kirchen sind hierzulande immer noch offiziell darauf bedacht, lieber die Dogmen von Chalzedon und Ephesus ( 4. bzw 5. Jh. ) hoch zu halten und einzuschärfen und einzupauken (nur Platoniker verstehen sie), als das Wesentliche des christlichen Glaubens freizulegen und es modern, in neuen Worten gewagt und experimentell und vielleicht auch in neuen Bekenntnissen zu formulieren. Dass diese rigide dogmatische Haltung Menschen aus den Kirchen treibt, hat sich inzwischen wohl etwas herumgesprochen.

Ich biete hier zum Nachlesen den TEXT Liberale Theologie als Glaubenshilfe:

Nicht Gehorsam, schon gar nicht Unterwürfigkeit, sondern Freiheit und Selbstbestimmung – das sind wichtige Tugenden heutiger Christen. Kein kirchenamtlicher Eingriff, keine inhaltlichen Vorgaben von oben werden diesen Wandel der Mentalität beseitigen können. Die Religiosität hat sich heute individualisiert. Damit verändert sich zugleich die gesamte religiöse Landschaft.

Wenn Christen heute ihren subjektiven Glauben absolut wichtig nehmen, dann verdanken sie diese Einsicht einer theologischen Grundhaltung, von der öffentlich bislang eher wenig die Rede ist: der liberalen Theologie. Sie inspiriert die Geister, ohne viel von sich zu reden. »Die liberale Theologie ist eine Emanzipationsbewegung, die sich gleichermaßen auf kirchliches Dogma wie auf kirchliche Institutionen bezieht. Beide werden als Machtinstrumente wahrgenommen, die die religiöse Autonomie des Einzelnen behindern«, schreibt Miriam Rose, evangelische Theologieprofessorin an der Universität Jena.

Im 19. Jahrhundert prägten dogmatisch-strenge Obrigkeiten und ihre Hof-Theologen den eher diffamierend gemeinten Titel »liberale Theologie«, um die religiöse Selbstbestimmung des Einzelnen anzuprangern. Für den unendlichen Wert der Religiosität eines jeden Menschen setzten sich im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts die »Gründerväter« dieser theologischen Haltung ein: Friedrich Schleiermacher, Adolf von Harnack oder Ernst Troeltsch.

Heute ist liberale Theologie »ein offener Begriff«, wie Miriam Rose sagt, nicht etwa eine verbrämte Ideologie à la FDP oder sogenannter neoliberaler Bewegungen. Das theologische Projekt ist eindeutig: Jeder Mensch soll sich auf dem richtigen Weg wissen, wenn er seine eigene Spiritualität entwickelt und lebt. In dieser großen Weite des Denkens kommt es nicht infrage, auf festgefügten Identitäten zu bestehen und feste Grenzen zu ziehen; denn das führt letzten Endes nur zur Gewalttätigkeit.

Für den Durchbruch liberal-theologischen Denkens sorgte ein kleines Buch, es wurde vor genau fünfzig Jahren veröffentlicht: »Honest to God« (»Gott ist anders«), so sein Titel. Es wurde millionenfach verbreitet und – wie die Diskussionen zeigten – auch gelesen. Verfasst hat es der anglikanische Bischof John A. T. Robinson (1919-1983). Er löste damit eine Art religiöses Erdbeben aus. Traditionelle Gottesbilder brachen zusammen. Es wurde Raum frei für eine neue, eine ehrliche Sprache über den Unendlichen und Ewigen.
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John A. T. Robinson zeigte im Anschluss an die Theologen Paul Tillich und Rudolf Bultmann, dass Gott nicht im Jenseits zu suchen ist. Der Ewige sei vielmehr in uns Menschen als »die Tiefe der Existenz« lebendig. Viele Menschen waren davon in ihrem eigenen religiösen Gefühl längst überzeugt; sie hatten nur nicht den Mut, es auszusprechen.

In den vergangenen fünfzig Jahren hat sich immer mehr die Einsicht verbreitet: Das dogmatisch vorgestellte Gottesbild der Kirchen darf meinem eigenen nicht widersprechen. Die religionssoziologischen Untersuchungen sind deutlich: Selbst »treue« Kirchgänger können dem Dogma von der Dreifaltigkeit Gottes oder der Lehre, Jesus sei eine Person mit zwei Naturen, einer göttlichen und einer menschlichen, nicht mehr zustimmen. Nur im Falle einer Überprüfung ihres Glaubens durch kirchliche Behörden sprechen die Verdächtigten die offiziellen Bekenntnisformeln aus dem 4. Jahrhundert brav nach.

Führt die liberale Theologie zu einem Glaubensabbruch? Zu einem Zerfall kirchlicher Glaubensgemeinschaft? Nein. Die liberale Theologie kann den christlichen Glauben als elementare Religiosität sogar retten in einer Welt untergehender Kirchlichkeit. Denn an ein Ende der Kirchenaustritte ist in Deutschland wohl nicht zu denken. In Frankreich, Spanien und Portugal »vergreist« die katholische Kirche. In Skandinavien geht fast niemand mehr sonntags zum lutherischen Gottesdienst. Trotzdem gibt es die gemeinsame spirituelle Überzeugung, dass das Göttliche – wie es die Mystik aufzeigt – eine Art »Seelenfunke« in jedem Menschen ist. Der eine erlebt Gott als inspirierende Kraft, die andere fühlt, wie die Göttin ihr nahe ist; ein anderer mit Zen-Praxis bekennt: Eigentlich sei Gott namenlos, vielleicht sogar ein »Nichts«. Und alle haben recht.

Liberale Theologinnen und Theologen unterstützen die Menschen, wenn sie sagen: »Lasst euch diese Erfahrung von niemandem nehmen, aber sprecht gemeinsam darüber.« Darum bleiben Gemeinden wichtig: als »Orte des geselligen religiösen Austauschs«, wie es Friedrich Schleiermacher ausdrückte. »Liberale Theologie drängt immer darauf, dass sich die individuelle Freiheit weder mit Beliebigkeit noch mit egoistischer Selbstverwirklichung verwechseln darf. Die Freiheit kann, wo sie sich selbst richtig versteht, nur als verantwortliche und kommunikative Freiheit gelebt werden«, sagt der Berliner liberale evangelische Theologe Wilhelm Gräb. Aber in einer »liberalen Gemeinde« kann jeder und jede gleichberechtigt den eigenen Glauben darlegen in der Gewissheit, respektiert zu werden.

In einer Gemeinde der liberal-theologischen »Remonstranten-Kirche« in Holland sprach zum Beispiel kürzlich ein neues Mitglied sein persönliches Bekenntnis aus: »Ich glaube zwar nicht an Gott, aber Jesus von Nazareth ist sehr wichtig für mich.« Die Gemeinde applaudierte und erklärte: »So wie du bist, bist du willkommen.«

Natürlich können liberale Gemeinden nicht unkritisch jegliche Überzeugung gutheißen. Zurückgewiesen werden Ansichten, die die Menschenrechte verletzen. Gefordert wird Offenheit fürs (Streit-)Gespräch. Aber wenn es zum Konflikt kommt zwischen offizieller kirchlicher Lehre und persönlicher Glaubensüberzeugung, gibt die liberale Theologie der persönlichen Einsicht den Vorzug. Darin zeigt sich ihr rebellischer Geist. Die Menschenrechtserklärungen betonen, dass die Würde der Person »unantastbar und heilig« sei. Liberale Theologinnen und Theologen übertragen diese Sicht auch auf den einzelnen Glaubenden mit seiner persönlichen Religiosität.

Der liberale Theologe Wilhelm Gräb betont: »Wenn die Menschen der Gegenwart sich in den Lebensproblemen der Alten, also der Christen von einst, nicht mehr wiedererkennen, etwa in bestimmten altkirchlichen Dogmen wie der Trinitätslehre oder der Zweinaturenlehre über Jesus Christus, dann sollten Theologie und Kirche den Glauben an diese Dogmen auch nicht mehr lehren und predigen.«

Mit anderen Worten: Haben Dogmen und Lehrsätze nicht mehr die ursprüngliche Kraft, Lebensorientierung zu bieten und wirksam mit dem Göttlichen zu verbinden, dann lassen wir sie beiseite und vertrauen auf unsere eigene religiöse Erfahrung.

Diese liberale Haltung ist keine Arroganz »wild gewordener Subjektivisten«, wie die Hüter der alten Lehre polemisieren. Es wird lediglich ernst gemacht mit der Überzeugung, dass nur das, was ich vor meinem intellektuellen Gewissen vertreten kann, mir wirklich auch im Glauben weiterhilft. Alles andere wäre ideologische Indoktrinierung.
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In den offenen Gesellschaften Europas und Amerikas folgen viele Christen einer liberal-theologischen Haltung. Sie lassen sich nicht irritieren, wenn sich in Zeiten sogenannter pastoraler Neuorientierungen und »Strukturanpassungen« die Kirchen zu bürokratischen Organisationen entwickeln und mehr auf die Techniken der Managementberatung vertrauen als auf die Freiheit des Geistes. Als selbstständig Glaubende gehen sie ihren eigenen Weg.

Die Wirklichkeit Gottes können sie auch außerhalb der Gottesdienste erfahren, zumal, wenn die Liturgie sprachlich aus der mittelalterlichen Welt stammt und rituell erstarrt ist. Musik können sie als eine Sprache Gottes erleben; längst sind in vielen Gemeinden die Kantoreien beliebter als Bibelkreise. Genauso kann das Geschenk der Gnade sich auch in der achtsamen Betrachtung von Kunst ereignen. Ein Gespräch über ein Picasso-Gemälde oder eines von Casper David Friedrich kann spirituell hilfreicher sein als eine Sonntagspredigt.

Liberale Christen, die ihre eigene Glaubenserfahrung ernst nehmen, deuten die Institution Kirche mehr als eine offene Bewegung denn als eine starre Organisation. Christ kann man auf viele Weisen sein. Wer sich zum Beispiel für die Begleitung einsamer oder kranker Menschen entscheidet, aber nicht (mehr) »zur Kirche« geht, ist selbstverständlich ein vollwertiger Christ –, wobei liberale Theologinnen und Theologen freilich an solchen Wertungen keinerlei Interesse haben.

Leider sind liberale Theologinnen und Theologen sowie liberal-theologische Gemeinden eher bescheiden organisiert. Neben den Remonstranten sind in Holland auch die Mennoniten eine ausdrücklich »freisinnige« Kirche. In Frankreich hat der liberale Protestantismus eine lange Tradition, die Gemeinde L’Oratoire du Louvre in Paris ist eines seiner Zentren. In Deutschland haben es Gemeinden schwer, sich angesichts starker Kirchenbehörden ausdrücklich zur liberalen Theologie zu bekennen. Die Remberti-Gemeinde in Bremen ist eine der wenigen.

In der römisch-katholischen Kirche ist es nahezu unmöglich, offiziell und öffentlich liberaltheologische Positionen zu vertreten. Dem Theologen Karl Rahner und seiner »transzendentalen Theologie« waren liberale Gedanken nicht fremd, etwa wenn er immer wieder betonte, die Dogmen sollten als Äußerungen der subjektiven Glaubenswelt verstanden werden. Die Chancen, als Katholik zugleich liberal zu sein, steigen, je weiter die geografische Entfernung zum Vatikan ist. Die lateinamerikanische Befreiungstheologie und ihre Spiritualität etwa kann man durchaus als Ausdruck einer liberalen Theologie bezeichnen. Denn dort sind subjektive oder regionale Äußerungsformen des Glaubens akzeptiert. So ließ der Dichterpriester Ernesto Cardenal in den 1980er-Jahren die Bauern von Solentiname in Nicaragua frei aussprechen, wie sie ihren eigenen Glauben erleben: Ostern als »Aufstand« oder die Geburt des göttlichen Kindes als Erfahrung im Heute.

Die liberale Theologie und ihre Spiritualität wird an Bedeutung gewinnen. Einfach deshalb, weil sich die Kirchen in ihren angeblich ewigen Wahrheiten immer mehr einschließen und den Glauben zu einer Frage von Moral, Macht und Herrschaft verformen. Demgegenüber, sagt der Theologe Wilhelm Gräb, atmeten die Menschen auf, wenn sie hörten: »Allein schon dein Grundvertrauen, deine Lebenszuversicht ist ein Zeichen deiner Verbundenheit mit Gott.«
Copyright:christian modehn und publik – forum.

Vielleicht hat Gott heute “neue Kleider” an. Ein freisinniger Katechismus

Ein spirituelles Buch, es nennt sich – mit etwas Ironie – Katechismus. Denn dieses Buch will nicht belehren, es will zu denken geben. Ein neues Buch freisinniger Protestanten…

Gottes „neue Kleider“?

Ein neuer Katechismus – eine Einladung, selber zu denken und den eigenen Glauben zu entwickeln

Alle 150 Abgeordneten des Niederländischen Parlaments (Tweede Kamer) erhalten dieser Tage einen Katechismus geschenkt. Ungewöhnlich, in einem säkularisierten Land wie Holland. Dabei handelt es sich nicht um den Versuch, klerikale Machtansprüche in der Politik durchzusetzen, das liegt den Autoren des ungewöhnlichen Katechismus auch völlig fern. Denn sie treten als “freisinnige, liberale Christen” entschieden für die Trennung von Kirche und Staat ein. Aber ihnen liegt daran, mit allen Menschen, auch mit Politikern, in einen partnerschaftlichen Dialog einzutreten, nicht über Dogmen, wohl aber auch ethische Orientierungs – Vorschläge!

Es ist schon komisch: Ausgerechnet in Holland erscheint dieser Tage ein neuer Katechismus. Ist das Wort „Katechismus“ nicht völlig out, völlig verbraucht, gerade in den Niederlanden, wo nur noch etwa 35 Prozent der Bevölkerung Mitglieder einer christlichen Kirche sind und die wenigsten Menschen von dogmatischen Lehren unterwiesen werden wollen? In dieser Situation muss man schon etwas Außergewöhnliches vorweisen: Der neue holländische Katechismus konnte entstehen, weil die vier freisinnigen christlichen Kirchen Hollands angesichts des zunehmenden Einflusses konservativer und reaktionärer Kirchen deutlich ihre eigene Stimme erheben, die Stimme der Freiheit, die dem Nachdenken allen Raum lässt und eben keine fertigen „ewigen“ Wahrheiten präsentiert. Es sind keine Leitungsgremien, keine Bischöfe und keine Päpste, die diesen Katechismus verfasst haben, sondern zwei Pfarrer, die im ständigen Austausch mit der Kultur der Gegenwart stehen: Christiane Berckvens – Stevelinck, Theologin der Remonstranten Kirche, und Ad Ablass, Theologe der freisinnigen Strömung innerhalb der Protestantischen Kirche (PKN) legen ein Buch vor, das in 12 Kapiteln Grundworte der menschlichen Kultur erläutert, Grundworte, die ihre Wurzeln in den biblischen Traditionen haben. Am Anfang steht die „Compassie“, das Mitleid, am Ende die dem Mitgefühl und der Empathie verwandte Liebe. Andere Themen sind Gleichheit, Verbundenheit, Versöhnung, Gerechtigkeit, Friede, Wahrheit, Freiheit, Berufung, Glaube und Gott. Das neue Buch nennt sich ausdrücklich „Katechismus des Mitleids“, ein zweifellos ungewöhnlicher, wenn nicht gar provozierender Titel. Aber er deutet das Ziel an: Die LeserInnen werden eingeladen, angesichts der humanen, ökologischen und politischen Katastrophen der Gegenwart das Mitleiden zu entwickeln, nicht nur als spirituelle Haltung, sondern vor allem als aufgeklärtes Handeln zugunsten der Leidenden. Aber dieser Appell zum Handeln ist nicht dick aufgetragen, vielmehr bieten die einzelnen Kapitel Informationen und meditative Impulse zu diesen Grundworten humaner Existenz. So ist ein Buch entstanden, das sich wohl am besten in einer eher „meditativen und behutsamen Lektüre“ erschließt. Nebenbei: Das Buch verdankt wesentliche Anregungen der britischen Philosophin und ehemaligen katholischen Nonne Karen Armstrong, die sich ausdrücklich für eine „Charta des Mitgefühls“ einsetzt. So gehört dieses Buch zu dem weltweit entstehenden Netwerk „Compassion“! Alle Kapitel des Katechismus werden „eingeleitet“ mit schönen Nachdrucken von Gemälden, Chagall ist genauso vertreten wie Rembrandt, Claudio Taddei genauso wie Caravaggio oder Ferdinand Hodler. Die eigens für das Buch gefertigten Gemälde der Künstlerin Brigida Almeida aus Utrecht beschließen jedes Kapitel. Im Text werden die Leser mit einer Fülle an Informationen aus der Literatur, dem Film, dem Theater konfrontiert, Informationen, die gleichermaßen die Schwierigkeiten wie die Chancen einer Lebenshaltung vorstellen, die sich von den 12 „Katechismus – Grundworten“ inspirieren lassen will, biblische Perspektiven sind jeweils ein Kapitel unter den anderen. Das ist der typische freisinnige Geist, dass keinem „Bibel – Fanatismus“ gehuldigt wird, sondern spirituelle Inspirationen auch im „weiten Feld“ der Religionen und Kulturen präsentiert werden. Sympathisch werden es Berliner finden, dass zum Thema Freiheit schon im Titel auf den berühmten Ausspruch John F. Kennedys verwiesen wird: „Ich bin ein Berliner“, ein Ausspruch, der heute als Bekenntnis gegen alle Formen des Totalitarismus verstanden wird. Äußerst sympathisch ist auch, dass das Kapitel über die Liebe mit einem Bild von Julius Schnorr von Carolsfeld eröffnet wird, das die beiden Liebhaber David und Jonathan zeigt., sicher ist auch die Entscheidung für dieses Bild typisch für Freisinnige in Holland: Die Remonstranten waren ja die erste Kirche weltweit, die schon 1986 homosexuelle Paare –gleich welcher Konfession- in ihren Kirchen segnete. Sympathisch ist auch, dass der ungewöhnliche, progressive katholische Theologe Karl Rahner als Verteidiger der Mystik erwähnt wird.

Dies ist wohl der entscheidende Eindruck: Dieser auch vom Layout so schöne und freundliche Katechismus der freisinnigen Christen plädiert für die Mystik, sicher für eine moderne, eine durch die Aufklärung „hindurchgegangene” Mystik: Aber doch wird aller Nachdruck gelegt auf das innere Erleben des Göttlichen, das sich im Handeln ausdrückt. In der Mystik sehen die Autoren ohnehin die Zukunft des Religiösen. Interessant könnte es sein, wie sich die freisinnigen Kirchen selbst zu Orten (multi-religiöser) Mystik entwickeln. Vielleicht ist diese Mystik das neue Profil der Freisinnigen und ihrer Gemeinden? Vielleicht können sie mit diesem Profil weitere undogmatische, aber mystisch Interessierte einladen? Die niederländischen Autoren sind jedenfalls überzeugt: Gott ist nicht tot, er zeigt heute nur neue, ungewöhnliche „Gesichter“. Er hat vielleicht neue Kleider angelegt, wie die Autoren schreiben.

“Catechismus van de compassie”. Erschienen im Verlag Skandalon, in Vught, Holland. ISBN 978-90-76564-94-4.compas

“Gott besteht nicht”. Zur Kontroverse um Pastor Klaas Hendrikse

„Gott besteht nicht“
Ist der holländische Pastor Klaas Hendrikse ein Atheist?
Von Christian Modehn

Bei der Frage nach Gott kommen die Gemüter noch immer recht heftig in Wallung. So „säkularisiert“ – oder besser so wenig säkularisiert – sind heute die meisten Menschen in Westeuropa! Jeder will seinen Glauben oder seinen Unglauben verteidigen. Und die Emotionen kochen richtig hoch, wenn sogar ein Pfarrer öffentlich von sich bekennt: „Ich bin ein Atheist“. Aber was meint er damit wirklich? Was bedeutet schon das Wort Atheist? Mit den großen Worten wie Glaube, Gott und Atheismus muss man wohl sehr achtsam und behutsam umgehen, da ist jede Nuance wichtig. Das zeigen die Diskussionen um den so genannten atheistischen Pfarrer Klaas Hendrikse aus Holland.

Middelburg ist ein hübsches Städtchen mit alten Grachtenhäusern im Südwesten der Niederlande, zur Nordsee sind es fast nur ein einige Schritte. „Unsere Stadt ist ein Erlebnis“, verkündet die Tourismusbehörde. Seit drei Jahren ist Middelburg auch wegen eines ihrer Mitbürger berühmt – oder soll man sagen berüchtigt? Denn in der dortigen „Koorkerk“, (sprich Kohr kerk) der zentral gelegenen „Chorkirche“, predigt Klaas Hendrikse. Der zweiundsechzig Jährige protestantische Pastor bezeichnet sich selbst als „Atheisten“. Sein ungewöhnliches Bekenntnis erläuterte er vor 3 Jahren in dem Buch „Glauben an einen Gott, der nicht besteht“. Und sogleich gab es in Holland ein riesiges Medienspektakel mit wütendem Aufbegehren: „Gott besteht, er existiert und er ist eine Realität“, betonen bibeltreue Christen. Und sie fordern das sofortige Predigtverbot des angeblichen Ketzers. Die Leitung der „Protestantischen Kirche der Niederlande“ nahm sich des Falls an, prüfte wochenlang, diskutierte und sondierte. Vor einigen Wochen kam sie schließlich zu dem Ergebnis: Pastor Hendrikse soll NICHT aus dem Dienst entlassen werden. Die theologische Vernunft hat sich also durchgesetzt, sagen Beobachter heute. Denn Hendrikse ist kein militanter Atheist, man muss nur seine Texte wirklich lesen und nicht übereilt polemisieren! Denn für ihn zeigt sich Gott z.B. als überraschendes Ereignis mitten im Leben. „Gott geschieht, ER ist ein Ereignis mitten im Leben“, sagt der umstrittene Pfarrer und verweist dabei auf die Geschichten der hebräischen Bibel: Dort fordert Gott die Menschen auf, den Exodus, den Aufbruch in ein neues Land zu wagen. „Wenn Menschen einander befreien, geschieht Gott“, sagt der Pastor. Wie eine unsichtbare Kraft wirke ER, belebend wie ein Hauch, inspirierend wie ein guter Gedanke. Das erinnert an mystische Traditionen, die seit Jahrhunderten versuchen, Gott nicht banal, nicht allzu menschlich, sondern stammelnd und suchend auszusagen. Und hat nicht der deutsche Theologe Dietrich Bonhoeffer seine Mitchristen provoziert, als er sagte: „Ein Gott, den =es gibt“=, den gibt es nicht“? Diese Überzeugungen sind eher selbstverständlich unter vielen holländischen Protestanten. Sie nennen sich freisinnig und liberal; mit diesen Kreisen und der Remonstranten Kirche, den Freigeistern unter den Christen, ist Pastor Hendrikse eng verbunden. Der Kampf gegen ihn ist auch eine Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Flügeln der holländischen protestantischen Kirche!
Warum also die ganze Aufregung? Der freisinnige Pastor will populäre Gottesbilder korrigieren. Der Unendliche und Ewige sollte nicht als etwas Bestehendes, Fix und Fertiges, wahrgenommen werden, meint er, nicht als eine Art himmlischer Gegenstand, über den man vieles exakt wissen könne. Diesen greifbaren und verfügbaren Gott lehnt Hendrikse ab, DESWEGEN nennt er sich Atheist.
Die Synode der Protestantischen Kirche der Niederlande will im Herbst dieses Thema erneut aufgreifen. Diese theologische Gesprächsbereitschaft ist in Holland noch selbstverständlich.
Und genau diese Offenheit fordert jetzt der ehemalige Hamburger Paul Schulz auch von der Lutherischen Kirchenleitung in Deutschland: Die hatte ihn 1979 aus dem Dienst als Pfarrer entlassen, weil er sich öffentlich zum Atheismus bekannt hatte. Bis heute ist Paul Schulz überzeugt, der Mensch sollte ohne jeglichen Gottesbezug sein Leben gestalten. Aber jetzt möchte der Hamburger Atheist doch wieder Pfarrer werden. In Klaas Hendrikse sieht er seinen Bündnispartner und im toleranten Umgang der holländischen Protestanten ein Vorbild für die Lutherische Kirche in Deutschland. Aber stimmen die Vergleiche? Zwischen Klaas Hendrikse und Paul Schulz liegen tatsächlich Welten: Der Holländer will den statischen, den „bestehenden“ Gott überwinden zugunsten einer neuen Lebendigkeit des Ewigen; Paul Schulz lehnt Gott prinzipiell ab. Vielleicht könnten die beiden einmal ihre Differenzen gemeinsam besprechen. Denn theologische Dispute lieben ja die säkularisierten Zeitgenossen noch immer.

Freisinnige Christen, Glauben ohne Dogma

Lebenswelten NDR am 5. Juli 2009 um 17.05

Glauben ohne Dogma
Die Remonstranten – eine freisinnige protestantische Kirche
Eine Reportage von Christian Modehn

Vorbemerkung:
Angesichts des zunehmenden Fundamentalismus und der machtvollen Klerikalisierung in sehr vielen großen christlichen Kirchen ist es wichtig, auf eine Kirche der ganz besonderen, der ganz anderen Art aufmerksam zu machen: DIE REMONSTRANTEN. Weiterlesen ⇘