Das neue Buch Sloterdijks zeigt: Religionen sind nichts als Machwerk der Menschen.
Ein Hinweis von Christian Modehn.
1.
Das neue Buch von Peter Sloterdijk „Den Himmel zum Sprechen bringen“ (2020) ist die Langfassung eines Beitrags für eine Festschrift zu Ehren des Ägyptologen Jan Assmann im Jahr 2018. Nun können sich die LeserInnen durch 20 Kapitel auf 344 Seiten durchbeißen. Als Leser hat man oft den Eindruck, ständig an den assoziativen Sprüngen in den Ausführungen des Autors teilzunehmen. Und man ist erstaunt, wie ausführlich Einsichten der Philosophie Platons in nahezu allen Kapiteln lang und breit ausgeführt werden, so dass manchmal der Eindruck entsteht, in ein Buch „Philosophie-Geschichte“ geraten zu sein. Und man fragt sich, wurde dieser nun sehr umfassend gewordene Beitrag für Jan Assmann doch etwas zu schnell geschrieben…
2.
Aber das Buch „Den Himmel zum Sprechen bringen“ verdient ein gewisses kritisches Interesse, weil es auch die dogmatischen Absonderlichkeiten, normativ gesprochen: die zahlreichen dogmatischen Verirrungen der Kirchen (aber auch anderer Religionen) freilegt. Diesen religionskritischen Focus wird man bei einem ersten Blick auf den Titel kaum vermuten: Manche denken dabei vielleicht an die Poesie, die Gebete, die Lyrik, die ja oftmals behaupten, den „Himmel zum Sprechen bringen“ zu können. Aber es geht Sloterdijk auch um viel Grundsätzlicheres. Und von Lyrik und Poesie im engen Sinne ist eher wenig die Rede.
3.
Entscheidend ist der Untertitel: „Über Theopoesie“. Das Wort Poesie bezieht sich hier umfassend auf das altgriechische Verb „poiein“, es bedeutet: Machen, schaffen, tun. Poiesis ist das entsprechende Substantiv. Natürlich ist zum Beispiel Lyrik „Poiesis“, von Menschen Gemachtes. Aber auch die Welt Gottes und der Götter ist nur Poesis, nur von Menschen Gemachtes, so die zentrale These Sloterdijks. Man bewegt sich also, bei Gott und den Göttern im „Bereich des Erfundenen, Ausgedachten, Übersteigerten“ (S. 63). Und weil Religion als Institution durch Mythen, Erzählungen, Reflexionen und verbale oder schriftliche Theologien konstituiert und öffentlich greifbar wird, ist Religion also auch wesentlich Poesie, d.h. Poiesis, Werk und Tat der Menschen.
Ein Urteil, das sich seit den griechischen Philosophien herumgesprochen hat und durch Feuerbach im 19. Jahrhundert sehr populär wurde und in Nietzsche einen Verteidiger fand. Sloterdijk belebt es neu.
4..
Er betont: Die Texte der Evangelien oder des Koran wurden absolut zur Geltung gebracht, sie haben dabei „ihren poetischen, d.h. fiktionalen bzw. mythischen Charakter unsichtbar gemacht“ (S. 277). Das heißt, diese heiligen Texte wurden zum Wort von Gott selbst definiert, dieses Verhalten ist also in der Sicht Sloterdijks geradezu „lügnerisch“ und es versteckt so den wahren, „bloß menschlichen“ Charakter der dann nur noch so genannten göttlichen Offenbarung, wir haben es also in Sloterdijks Sicht mit einem Betrugssystem zu tun. Die Auswirkungen sehen wir bis heute im religiösen Fundamentalismus.
5.
Wenn man nun in Sloterdijks Deutung die christliche Religion als Theo – Poesie zusammenfassend darstellen soll: Dann ist das Christentum (und damit die Kirchen) für den philosophischen Schriftsteller „erschreckend inhuman und eigentlich ein Fall für die Psychiatrie“. Das macht Sloterdijk mehrfach deutlich, etwa in seinem lobenden Hinweis auf die Erzählung von Pierre Gripari „Der kleine Jehova“, eine Erzählung, die, wie Sloterdijk schreibt, „auf engem Raum die theo-psychiatrische Verfassung des Christentums als klug lancierte Schuldgefühlsepidemie offenlegt“. (S. 88).
Das Christentum (als dogmatisches System) ist also krank, und die Kirchen und ihre Führer, die das Christentum repräsentieren, sind ebenfalls krank, wenn nicht pervers, siehe den massenhaften sexuellen Missbrauch durch Priester. Das ist der durchgehende Tenor der Ausführungen Sloterdijks. Und er bietet als Belege seitenweise Auszüge aus den offiziellen katholischen Verurteilungen so genannter Irrlehrer, die das einschlägige Sammelwerk „Denzinger“ äußerst umfangreich dokumentiert (bei Sloterdijk die Zitate auf den Seiten 128 bis 133). Dieses langatmige Dokumentieren der Verurteilungen, die inzwischen sehr bekannt sind, erinnert an den in der Hinsicht ebenso rührigen sich atheistisch nennenden Autor Karlheinz Deschner, er hat seine „Kriminalgeschichte des Christentums“ auf 10 umfangreiche Bände ausdehnen können.
Diese Krankheiten und Perversionen in den Kirchen sind – in Sloterdijks Sicht – von Theo-Poeten gemacht und belebt, vor allem auch von gebildeten Theologen und Bischöfen, wie etwa dem „Kirchenvater“ Augustinus: Sie haben in einer Herrscherposition wahnhafte Gebilde christlicher Dogmatik formuliert, diese durchgesetzt und zelebriert. Der Wortschöpfer Sloterdijk nennt frühe Theologen „Irrkirchenlehrer“ (S. 288), wenn sie als christliche Platoniker an der Vergöttlichung Jesu arbeiteten (ebd). Die Wende von Jesus von Nazareth zum Christus Imperator (etwa in Ravenna sichtbar) ist ein zentrales Thema kritischer Theologie, an das sich Sloterdijk anschließt.
6.
Über die Darstellung christlicher Dogmen und Überzeugungen durch Sloterdijk wäre ausführlich zu reden. Der gebotenen Kürze, die sich bei dieser Rezension aufdrängt, nur ein Hinweis: Wie Sloterdijk vom Glauben an die Auferstehung Jesu von Nazareth spricht, gleich im 1. Kapitel (S. 31 f) seines Buches. Die Hinweise Sloterdijks auf die von ihm studierte Literatur zu dem wahrlich äußerst umfassend erforschten Thema „Auferstehung Jesu“ ist äußerst dürftig, um nicht zu sagen für einen Autor wie Sloterdijk blamabel: Da nennt er nur ein Buch von einem gewissen Frank Morison alias Albert Henry Ross „Wer wälzte den Stein?“ (erstmals auf Englisch 1930 erschienen als Bekenntnis eines fundamentalistisch Bekehrten). Dieses Buch spielt heute in der Forschung zur Auferstehung Jesu de facto überhaupt gar keine Rolle. Und geradezu lustig ist dann Sloterdijks zweiter, wohl aber ernst gemeinter Hinweis auf den phantastischen Roman des zum literarischen Schwadronieren neigenden frommen Bestseller Autors Eric-Emmanuel Schmitt mit dem Titel „Das Evangelium nach Pilatus“. Sloterdijk bezieht sich vor allem auf das Thema „die abwesende Leiche im Grab Jesu“ am Ostermorgen und schreibt dann: „Dürfte man sagen, das Christentum beginne als Kriminalroman, in dem das negative corpus delicti in diversen Versionen wiederauftauchte, zuerst als spukender Ätherkörper am Rand von Jerusalem“, und dann springt Sloterdijk, assoziierend, in sachlich völlig unzutreffende Dimensionen, wenn er anschließend fortfährt: … „dann als Hostie, als Fronleichnamskörper und allenthalben als Kruzifixus?“ (S. 32). Der Fronleichnamskult ist bekanntlich ca. 1.300 Jahre „nach dem Entstehen des Auferstehungsglaubens entstanden. Sloterdijk spricht auch von den „40 Tagen „zwischen Ostern und Christi Himmelfahrt“ („falls es solch einen Tag gab“, schreibt er, wohl ahnend, dass man da doch sich besser an Metaphern und Bilder als an Daten halten sollte) gab es dann doch in der ersten Gemeinde, so wörtlich „Gerüchte, Delirien, Überhöhungen“ (S. 32). Da sind sie wieder, diese Sloterdijkschen Delirien, unter den Christen schon pauschal schon von Anbeginn leiden….
7.
Die Kirchengeschichte wird pauschal nichts als Heilgeschichte, sondern als Verbrecher-Geschichte von Sloterdijk bewertet. Es zeigt sich, dass Sloterdijk alles andere als ein objektiver religionswissenschaftlicher Beobachter ist, er hat durchaus seine eigene normative Meinung.
Sloterdijk warnt in seiner Schilderung der kirchlichen Verbrechen eher sanfte LeserINNen, wenn er in allen Details die Folter, verordnet von Kirchenoberen, ausführlich zu dokumentiert (S. 230 ff.). Diese LeserInnen sollten gegebenenfalls „die folgenden vier Seiten zu überblättern“ (ebd.).
8.
Sloterdijk ist bekannt für sein Ausfindigmachen entlegener Studien, seine Fußnoten sind oft eine Art Entdeckungsreise, nur der populäre und von ihm geschätzte Nietzsche wird mit einzelnen Sätzen (!) in „Den Himmel zu Sprechen bringen“ sehr oft zitiert (im Buch wird Nietzsche der vielen Erwähnungen wegen einfach nur kollegial F.N. genannt). Aber Sloterdijk verweist auf S. 129, Fußnote 137, ausnahmsweise ohne Quellenangabe auf einen Brauch in Österreich einst, „bei den in utero verstorbenen Föten diesen das geweihte Taufwasser von katholischen Hebammen per vaginam“ zuzuführen“, die Föten also per vaginam noch zu taufen. Aber diese nicht belegte Story erzählt Sloterdijk wohl nur, um dann gleich anzufügen: “Hatte Lenin doziert, die Wahrheit ist konkret, antwortet die religionsgeschichtliche Empirie: Das Delirium ist konkreter“. Das Delirium, d.h. die „geistige Verwirrung“ kennzeichnet für Sloterdijk sehr pauschal betrachtet das Christentum und den christlichen Glauben.
9.
Sloterdijk, als Zyniker bekannt, (sein erstes erfolgreiches Buch handelte von der zynischen Vernunft), gibt offen zu, auch in dem Buch „Den Himmel zum Sprechen bringen“, „ironische Züge“ (S. 141) zu verbreiten. Und diese seine Ironie deutet er – gar nicht ironisch, sondern dogmatisch argumentierend – sei „besser als das Theologie-übliche Zuviel-Sagen und letztlich-doch-alles-besser-Wissen“ (S.141). Der Philosoph Holger Freiherr von Dobstadt hat in seiner durchaus auch kritischen Sloterdijk Studie „Das Sloterdijk-Alphabet“ (Würzburg 2006) unter dem Stichwort „Ambivalenz“ (Seite 15 f) über Sloterdijks Denken geschrieben. Er spricht von dessen „doppelter Buchführung“, also: „Alles und das Gegenteil lässt sich über die Welt aussagen, alle Wahrheiten lösen sich in Perspektivik auf und seine Deskriptionen des Zynismus finden sich in seinem eigenen Bewusstsein, das er im übrigens schonungslos decouvriert“ (ebd.).
Auch in dem Buch „Den Himmel zum Sprechen bringen“ freut sich wohl Sloterdijk über seine zynischen Formulierungen zu katholischen Merkwürdigkeiten, wie dem Fegefeuer: Er beschreibt in seinem sprachschöpferischen („poetischen“) Enthusiasmus das Fegefeuer als „einen transzendenten Waschsalon“, der „die Flecken des Erdenlebens in sieben Reinigungsgängen von der Stirn der Seele tilgt“ (S. 85). Luther kämpfte also gegen Waschsalons, wie hübsch! Wie originell!
Wortschöpferisch – zynisch ist Sloterdijk auch im Fall des Wüstenmönches Antonius (ca. 251 – 356) tätig, den zölibatären Mönch nennt er angesichts der heftigen sexuellen Versuchungen „einen Patriarchen der Psychopornographie“ (245). Die LeserInnen sollen lachen und wohl denken: Bei diesen Theo – Poeten wird kein Himmel zum Sprechen gebracht, Sloterdijk verdirbt jegliche Laune, sich mit dieser üblen Theopoesie, diesem Machwerk Religion bzw. Christentum, auseinanderzusetzen.
Hinsichtlich der Verkündigung der christlichen Lehre, die in Rom tatsächlich einer Dienststelle mit dem lateinischen Titel „Propaganda fidei“ unterstellt war, geht Sloterdijk assoziativ zur kirchlichen „Öffentlichkeitsarbeit“ im allgemeinen über und schreibt nicht ohne „Thymos“, wie er wohl sagen würde, also nicht ohne Wut: “Es bleibt die Familienähnlichkeit mit römisch-katholischen, jakobinischen, Goebbelschen und leninistisch-maoistischen Prozeduren zur Konformitätserzeugung nicht zu verkennen“ (S. 202). Römisch-katholisch, Goebbels, Lenin, alles wird in einen Eintopf geworfen. Solches erzeugt bei einem noch differenzierenden Leser doch etwas „Thymos“, würde Sloterdijk sagen, also durchaus berechtigt: Wut.
Die zweifellos zu kritisierenden Reformatoren Luther und Calvin und ihre Gnaden-Erwählungslehren beschreibt er so: „Die moderne Welt (der Reformatoren, CM) war anfangs nichts anderes als ein Netzwerk von schnellen Brütern für Erwählungsideen“ (304). Und man(n) soll wohl zur Abwechslung beim Lesen ins Schmunzeln geraten, wenn Sloterdijk über die Mutter von Kaiser Konstantin schreibt: Helena sei, so wörtlich, „eine postmenopausich frömmelnde Mutter“ gewesen (S 160).
10.
An diesen Albernheiten werden sich einige LeserInnen erfreuen…Und Religionen albern finden…
Wer das Buch „Den Himmel zum Sprechen bringen“ aber ins kritische Nachdenken einbezieht, muss tiefer ansetzen. Es geht um die schwierige Frage nach dem schöpferischen, auch Religionen und religiöse Texte „schaffenden“ Menschen. Es gibt bekanntlich eine breite philosophische Tradition, die schöpferisches Tun (der Musiker, der Dichter, der religiös Kreativen) nicht einseitig nur als Tat des Menschen versteht, sondern auch als Gabe, als Geschenk, „Geschick“ „des Himmels“ bzw. des Gottes. Mit anderen Worten: Im schöpferischen Tun, auch im Schaffen von Religion, wirkt auch Göttliches mit. Dies ist eine Erkenntnis, die etwa Hegel in seinem ganzen Werk der Geist – Philosophie zentral setzte. Die Voraussetzung dafür war wohl die Erkenntnis, dass ohne eine Art “Schöpfer“ der evolutive Gesamtzusammenhang der Welt und der Menschen nicht zu verstehen ist. Kurz und gut: Hegel zeigte, dass im Menschen als Geist – Kreatur das Unendliche, das Göttliche, wie auch immer man diesen nicht definierbaren, d.h. total zu umfassenden Bereich nennt, anwesend und mit-wirksam ist im Tun und Handel der Menschen. Aber Sloterdijk weist diesen Gedanken sicherlich – wieder zynisch ? – als spinös zurück, so wie er, wenn er in dem Buch von Hegel spricht, dessen Denken verkürzt. Nur ein Beispiel: Im Zusammenhang mit dem Leiden am Karfreitag behauptet Sloterdijk, Hegel habe sozusagen nur die, so wörtlich, „hinfällige Individualität“ gesehen. Der Mensch müssen also, wieder wörtlich, „den unendlichen Schmerz über sich empfinden“ (S. 30) und dabei ausharren. Aber Sloterdijk unterlässt es, darauf hinzuweisen, dass Hegel in seiner Philosophie, auch in seiner Religionsphilosophie, bei dieser Position nicht stehen bleibt! In dem auch von Sloterdijk zitierten Band 17 der Suhrkamp-Gesamtausgabe der Hegel Werke heißt es auf S. 269: Das Subjekt sei gerade nicht hinfällig, weil es in sich die „unendliche Kraft der Einheit“ (mit Gott) weiss“. Der Mensch, das Subjekt, ist also die „unendliche Kraft der Einheit“ (von Gott und Mensch), es ist alles andere als die „hinfällige Individualität“, als die sie Sloterdijk festlegen will. Hegel denkt die innere wesentliche Einheit von Mensch und Gott, aber die schließt Sloterdijk aus. Insofern übersieht er wohl gern die Hegelsche Aussage.
11.
Der Mensch ist auch für Sloterdijk, wie so oft gesagt wird in der banal wirkenden Formulierung des „nichts anderes als“ ein von jeglichem Göttlichen getrenntes Wesen. Es ist der Mensch ohne Mysterium, dem nichts als Zynismus übrig bleibt in seiner Situation.
Der große Literaturwissenschaftler George Steiner, wahrlich alles andere als ein kirchenfrommer Theologe, vertritt in seinem Buch „Grammatik der Schöpfung“ die Erkenntnis: Es kann nur ein Miteinander von Göttlichem und Menschlichem im schöpferischen Prozess geben, also in der Poiesis. „Über die Gott-Hypothese lässt sich nicht ohne Kosten spotten“ (S. 343), sagte der umfassend gebildete George Steiner in den genannten Buch, (München 2004).
12.
Viele Hinweise Sloterdijks zu den Verirrungen der Kirche, um nur bei dieser Religion zu bleiben, sind zweifellos richtig. Dennoch muss doch der Objektivität wegen ein starres Schwarz-Weiß-Schema aufgebrochen werden. Das mit der Kolonialherrschaft verbundene Missionssystem etwa der Spanier seitdem dem 16. Jahrhundert war eine Katastrophe, eine Katastrophe, was die Lebensrechte der „indianischen“ Bevölkerung angeht. Mission als Teil der spanischen Kolonisation war insofern auch Teilnahme am Morden. Aber es muss auch der Ausnahmegestalten gedacht werden, die sich – wie begrenzt auch immer – für die Menschenrechte der „indianischen Bevölkerung“ eingesetzt haben, ich nenne nur Pater Bartolomé de Las Casas, er überzeugte sogar mit seiner humanen Botschaft den spanischen Hof, aber der konnte sich bei den selbstherrlichen Eroberern nicht durchsetzen. Deswegen wurde weiter gemordet.
Das Christentum und die Kirchen waren also nie nur ganz total schwarz-weiß malend Mörderbanden.
Was waren denn die Forscher und Mathematiker etwa unter den Jesuiten des 17. Jahrhunderts für Menschen, die tatsächlich als Wissenschaftler anerkanntermaßen Großes leisteten? Haben die „Poeten“, also etwa auch die Schöpfer von barocken Kunstwerken oder die Komponisten von Messen und Oratorien etc., nicht oft genug von sich selbst gesagt, dass inmitten des schöpferischen Prozesses doch etwas „anderes“ („Göttliches“) und Geschenktes in ihnen mit dabei tätig war? Warum hören manche Leute noch voller Begeisterung diese Musik? Sind diese musikalischen Leistungen von Bach, Mozart, Beethoven etc. Ausdruck von Wahn oder „Delirium“? Wer solches behaupten würde, wäre selbst nicht mehr ganz auf der Höhe…
13.
Sloterdijks Buch „Den Himmel zum Sprechen bringen“ ist im wesentlichen religionswissenschaftliches Feuilleton, es ist kein Buch, das auch die aktuelle Entwicklung der Religionen berücksichtigt und diese in die Analyse einbezieht. Sloterdijk sieht nicht den tiefen Wandel im Christentum. Er sieht nicht und weiß nicht oder will es nicht wissen, dass etwa in Lateinamerika viele katholische Kreise, auch Bischöfe, entschieden die Menschenrechte verteidigen, aber auch in Afrika und Asien. Da lebt eine christliche Religion, die eben kein Delirium ist. Von Theologie der Befreiung hat Sloterdijk offenbar nie etwas gehört, nichts von christlichen Friedensbewegungen, von katholischen Menschenrechtsaktivisten, die im Engagement für die Armen ihr Leben lassen. Sloterdijk hat offenbar nichts von der Diakonie oder Caritas gehört, die etwa in den Slums der USA nach wie vor Millionen Menschen mit Essen versorgen, von Suppenküchen und Kleiderkammern von Klöstern in Europa hat er nichts gehört, nichts davon, dass viele Klöster so beliebt sind, dass dort Menschen Ruhe und Meditation suchen und finden.
Damit will ich keine Apologetik betreiben, sondern nur der gebotenen Objektivität willen sagen: Selbst in Kirchen, die sich heute noch auf eine göttliche Wirklichkeit, auf ein ungreifbares und nicht machbares Lebensgeheimnis in aller Offenheit beziehen, lebt sehr viel humane und vernünftige Energie, für die Menschenrechte ALS „göttliche Gebote“ einzutreten.
14.
So bleibt nach der Lektüre die Frage: Warum wurde eigentlich dieses Buch geschrieben? Die alten Thesen von Feuerbach und Co. sind ja bekannt. In seinem 20., dem Schlusskapitel, überschrieben „Religionsfreiheit“, deutet Sloterdijk, diesmal recht knapp und kurz, an: Religion ist für ihn „Beihilfe zur Auslegung des Daseins… bis hin zur Aufhellung des Unverfügbaren und zur Domestikation des Unheimlichen“ (S. 331). Religion geht darin auf, gemachte, „poietische“ (poetische) Funktion der Menschen zu sein. Aber, damit er nur ja nicht der Religion eine allzu wichtige Rolle zuweist, betont Sloterdijk schon mehrfach zuvor: Und das ist wohl der Sinn all der über 300 Seiten des Buches: Religion ist in der säkularen Welt nichts als ein kleiner „Rest“. Ein Rest, der „nach Abzug von alldem übrigbleibt, was in die Wissenschaften und in alle nur denkbaren Bereiche von Weltgestaltung „abgewandert“ ist (S. 330). Vielleicht verschwindet beim Fortschritt der Wissenschaften etc. dann auch Religion? Die Religion ist also NOCH der verschwindend kleine Rest, der, so betont Sloterdijk, selbstverständlich frei gelebt werden kann. „Religion ist überflüssig wie Musik“, schreibt Sloterdijk tröstend all jenen, die noch diesem letzten Rest, wie er schreibt, dem letzten Rest aus den „archaischen und hochkulturellen Weltbildern“ (S. 330) anhangen. Aber wie Musik ist für Sloterdijk Religion „Luxus“ (S. 335). Aber er muss doch zugeben als ein Zitat von einem Ungenannten: “Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum“. Aber weil nun einmal Religion, so wörtlich, Luxus ist, also kein Grundnahrungsmittel für die meisten, ist ihre Leistung auch „durch weltliche Prägungen substituierbar“, wie er schreibt (S. 335). Substituierbar bedeutet bekanntlich „austauschbar“, „ersetzbar“.
Was aber kann dieser religiöse Luxus heute noch sein? Sloterdijks Antwort: Es sind die „Schriften, Gesten, Klangwelten, die noch den einzelnen unserer Tage gelegentlich helfen, sich mit aufgehobenen Formeln auf die Verlegenheit ihres einzigartigen Daseins zu beziehen“ (S. 336). Möge also der einzelne als einzelner, offenbar außerhalb jeglicher Gemeinschaft, aus den Verlegenheiten des Daseins herausfinden. Von dem „Berührtsein“ von einer außerhalb des Menschen wie gleichzeitig IN ihm unbedingt sich zeigenden „Kraft“ des Mysteriums ist keine Rede. Aber gerade davon lebt ja bekanntlich die Musik, auf die sich Sloterdijk in seinem Hinweis auf die Ähnlichkeit mit Religion bezieht. So endet also das Buch mit einer doch wieder noch viel zu kurz greifenden „Auslegung der Existenz“. Aber gerade dann hätte das Buch wichtig werden können. Alles andere ist tausendmal gesagt.
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Und was soll der Titel des Buches wohl bedeuten? Kommt irgendwann ausführlich „der Himmel zum Sprechen“? Werden also naheliegend Gedichte und Psalmen, Lieder und Gebete, selbst unter der Sloterdijkschen Prämisse, dass es Gott nicht gibt, ausführlicher und angemessener vorgestellt und interpretiert? Eher nicht! Es werden einzelne Bibel-Verse gedeutet, etwa die Hiob-Geschichte, auch Psalmen werden kurz erwähnt und sogar das Kirchenlied „Großer Gott wir loben dich“ wird „abgehandelt“. Aber im ganzen darf man von dem Buch keine ausführlichen Hinweise zur Poesie und Lyrik und Gedichten „im engeren Sinne“ erwarten.
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Wer dieses umfassende Thema vertiefen will, auch die Frage nach dem schöpferischen Miteinander und Ineinander von menschlichem und göttlichem Geist, sollte das inhaltlich viel differenziertere Buch von George Steiner lesen, “Grammatik der Schöpfung“, DTV, 2004, 351 Seiten, 12,50 Euro.
Peter Sloterdijk, Den Himmel zum Sprechen bringen. Über Theospoesie. Suhrkamp Verlag, 3. Aufl. 2020, 344 Seiten, 26 Euro.
Das Buch enthält weder ein eigentlich zu erwartendes Stichwort-Register noch eine Liste der zitierten Bücher. Das erschwert ungemein die kritische Arbeit am Text. Aber auch in den anderen Bücher Sloterdijks fehlen die für kritische Auseinandersetzungen üblichen Stichwort-Register und Listen der zitierten Bücher. Dieses Fehlen unterstreicht nur den „Feuilleton-Charakter“ der Schriften von Sloterdijk.
Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.