Weisheit – biblisch und griechisch (philosophisch)

Hinweise von Christian Modehn,  geschrieben für den Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon am 24.8. 2018

Weisheit ist der Inbegriff griechischer Philosophie, die sich, wie der Name sagt, als Liebe, als Freundschaft zur Weisheit definiert. Der Weisheit strebt der Mensch nach, das ist für Aristoteles wichtig. Aber für Platon gilt: Erreichen können Menschen die Weisheit in vollem Umfang nie. Nur Gott ist weise.

In der Neuzeit wird Philosophie als Weltweisheit verstanden: Dann wird Weisheit noch einmal eingeschränkt auf Lebensweisheit. Die Philosophie entwickelt dann zwei Wege: Die der Lebenslehre verpflichtete Weisheit außerhalb der Universitäten, man denke an Montaigne und seine Essays, vielleicht auch an Blaise Pascal, an Kierkegaard oder auch an den späten Schopenhauer: „Aphorismen zur Lebensweisheit“ von 1851. Dieses Buch hat Schopenhauer populär gemacht. Die an der Universität etablierten Philosophen seit dem 18. Jahrhundert verstehen diese als Wissenschaft, oft in Konkurrenz zu anderen Wissenschaften. Der Aspekt der Lebenshilfe durch Weisheit entfällt dann meist. Auch (den späten) Wittgenstein kann man wohl eher als Weisheitslehrer ansehen.

1.Kohelet (auch genannt der „Prediger Salomo”)

Es gibt heute viele Übersetzungen ins Deutsche, man vergleiche, wie unterschiedlich die Übersetzungen gestaltet sind. Ich bevorzuge die Züricher Bibel.

Es ist erstaunlich, dass es im 3. Jahrhundert (vor Christus) in dem kleinen Tempelstaat, genannt Judaia mit der Hauptstadt Jerusalem, einen jüdischen Lehrer gab, der sich der umgebenden, allmächtig erscheinenden griechischen Kultur annäherte und von dieser kulturell vorherrschenden Kultur etwas für den eigenen Glauben lernen wollte. Die Oberschicht in Jerusalem sprach Griechisch. Das Buch Kohelet ist also ein Dokument eines gewissen Lernens einer Religion von den damaligen griechischen Popular – Philosophen aus dem Kreis der Kyniker und Skeptiker vor allem, aber auch von der Stoa und Epikur. Es gab schon vor Kohelet Weisheitslehren in der jüdischen Kultur, später dann auch in der hebräischen Bibel versammelt, wie etwa das „Buch der Sprüche“. Es enthält viele kurze Sprüche zur Alltagsgestaltung in einem bäuerlich geprägten Milieu. Es geht um Fleiß, Sparsamkeit, Redlichkeit. Alles Handeln soll auf der Gottes- Furcht gründen: Gottesfurcht ist das zentrale Ziel alles von Weisheit geprägten Denkens und Verhaltens. Also wohl Furcht vor diesem allmächtigen Gott! Wobei es interessant ist, dass der Alttestamentler Prof. Bernhard Lang darauf hinweist, dass viele Mahnungen im 22. und 3. Kapitel des „Buches der Sprüche“ Nachbildungen sind ägyptischer Lehren, etwa aus der Lehre für Amenemope, eines altägyptischen Königs. (in Die Weisheit des Alten Testaments, DTV, C. H. Beck, 2007, S. 138)

Also es gab immer schon einen gewissen Kulturaustausch und eine gewisse Lernbereitschaft zwischen der Jahwe- Religion und der „heidnischen“ Kultur, aber immer so, dass der Rahmen vom Glauben an Jahwe beherrschend bleibt, bei aller Freiheit der Lernbereitschaft. Das sieht man am Beispiel des Buches Kohelet.

Der Autor des Kohelet Buches: Kohelet ist ein „Deckname“ (wie auch der Hinweis auf König Salomo, dies soll der Aufwertung des Textes dienen). Kohelet bedeutet „Versammlungsleiter“ in einer ekklesia, wie man auf Griechisch sagt. Der Alttestamentler Norbert Lohfink schreibt: „Ekklesia bezeichnete auch philosophische Zirkel, und ein Kohelet, ein ekklesiastés, könnte dann auch Gründer und Leiter eines solchen Kreises gewesen sein“ (S. 11).

„Kohelet hat seine Lehre auf dem Marktplatz gegen Bezahlung öffentlich angeboten, das war neu in Jerusalem und hat Aufsehen erregt, von seinem Schülerkreis bekam der Marktplatz-Philosoph seinen Namen“ (Lohfink, S 12.) Nebenbei: Man bedenke, dass auch Paulus auf einem berühmten Platz sprach und mit dortigen Philosophen argumentierte, auf der Agora in Athen, und dort eine der schönsten Reden des Neuen Testaments überhaupt gehalten hat, etwa mit der Weisheit: „In Gott bewegen wir uns, leben wir und sind wir“… (Apg., Kap. 17, Verse 16 bis 34). Und noch etwas: Als Paulus in Ephesus wegen seiner Predigten dort aus der Synagoge geworfen wurde, fand er Zuflucht bei einem toleranten Philosophen (!). Paulus wohnte 2 Jahre bei ihm und lehre in seinem „Salon“, der Philosoph hatte den für ihn gar nicht zutreffenden Namen Tyrannus, Apostelgeschichte, 19, Vers 9.

Der Autor des Kohelet Buches verfasste seinen Text auf Hebräisch, aber eben in einem zeitgemäßen, umgangssprachlichen Hebräisch (gesprochen wurde Aramäisch).

Zum Buch selbst: Es wurde von vielen herrschenden Kreisen als störend wahrgenommen. Sicher auch vom Establishment im damaligen Jerusalem. Denn die großen Themen jüdischen Glaubens, der Bund Gottes mit dem Volk Israel, das Einhalten der vielen Gebote, die prophetischen Lehren, auch die heftige Gesellschaftskritik, die Psalmen, das Gebet, all das kommt im Kohelet-Buch nicht vor. Viele Leser sehen eine gewisse Eintönigkeit im Text, in dem alles darauf hinausläuft, dass das Leben der Menschen, aller Menschen, in allen nur denkbaren Zuständen, Reiche, Arme usw. letztlich zum Tod führt. Alles, aber auch alles,  ist Windhauch, es verschwindet, führt ins Nichts.

Nebenbei: Die absoluten Herrscher im ancien régime ließen die Übersetzung des Kohelet, geschaffen vom Philosophen Voltaire, verbrennen, im September 1759 in Paris: Denn in der Sicht der Zensur zersetze dieses Buch Kohelet die Grundlagen der Moral. („Récits de l Ecclesiaste et Précis du Cantique des Cantiques“1759, die Urteilsschrift vom 3.9.1759. Arrest de la cour de Paralement). Wahrscheinlich waren die damaligen Machthaber entsetzt über Kritik an der Beamtenherrschaft im Buch Kohelet, im Kapitel 5, Verse 5 ff. ist die Rede von der Ausbeutung der Armen und noch aktueller geradezu die Erkenntnis: „Ein Mächtiger deckt den anderen, hinter beiden stehen noch Mächtigere“.

Zum Zentralen Begriff Häwäl: Alles ist Häwäl. Meint Windhauch, auch etwas Windiges, etwas Nichtiges, vielleicht auch Absurdes, meint der protestantische Alttestamentler Jürgen Ebach in einem Vortrag für den Evangelischen Kirchentag 2015 in Stuttgart. Interessant wäre eine genaue Untersuchung zu dem anderen hebräischen Begriff für Geist und Wind eben für RUACH. Er wird später ein Begriff für Rettung und Heiliges…Der heilige Geist kommt in der Beschreibung des Pfingstereignisses in der Apostelgeschichte als Brausen vom Himmel wie ein gewaltiger Wind. Dadurch wurde die Gemeinde vom heiligen Geist erfüllt.

Ich will auf den allgemeinen Rahmen des Textes aufmerksam machen, der die einzelnen Verse verständlicher werden lässt. Der Autor geht als gläubiger Jude im 3. Jahrhundert zur Zeit der hellenistischen Herrschaft in Jerusalem (die Herrschaft der Ptolemäer) davon aus: Es muss förmlich in dieser Kultur der Philosophien auch eine philosophisch erscheinende Lehre aus gläubiger, jüdischer Sicht geschrieben werden.

Dennoch ist für ihn gültig, und das wird im Text deutlich:  Gott ist und bleibt im Bekenntnis der Herr der Welt, derjenige, der alles vorweg bestimmt (dies ist eine Art personaler Ausdruck für den Glauben an die Macht des Schicksals). Und dieser Gott verfügt alles im voraus, alles ist sozusagen vorherbestimmt. Die Vorstellung, Gott als den allseits liebenden Vater zu denken, kommt nicht vor.

Und das ist das Neue im ganzen Alten Testament: Weisheit im Sinne Kohelets ist mit Erkenntnis identisch. Und dieser Weise im Sinne Kohelets weiß eben: Dieser unser alles verfügende und alle schon vorher bestimmende Gott ist nicht umfassend erkennbar. Einzelne „Wesens“-Aspekte Gottes werden nicht genannt. Bei Kohelet ist Gott nur die unbekannte alles bestimmende Urmacht.

Aber auch dieses gilt für Kohelet: Gott ist der Schöpfer dieser Welt und der Menschen. Und dieser Gott „hat die Ewigkeit in das Herz der Menschen gelegt“ (…“ohne dass sie herausfinden können , was Gott von Anfang bis Ende gewirkt hat“, Kap. 3, Vers 9 ff). .

Das heißt: Gott als der Ewige hat das, was er ist, was ihn auszeichnet, nämlich der Ewige zu sein, ewig zu sein, in die innerste Mitte der Menschen gelegt. Das heißt Gott und Mensch sind letztlich verbunden und eins. Auch wenn es eine wesentliche Differenz zwischen Gott und Mensch gibt…“Gott ist im Himmel und der Menschen ist hier“, sagt Kohelet.

Aber die alte Glaubenslehre bleibt: Gott ist der Richter über Weise und Törichte. Aber mehr kann der weise Mensch nicht über Gott sagen. Gott ist nicht  zu durchschauen. Er ist ein Geheimnis für den Menschen.  Aber wäre ein durchschaubarer Gott noch Gott?

Interessant bzw. höchst ungewöhnlich sind die weisheitlichen Mahnungen Kohelets in Kap. 7, Vers. 16 (in der Lutherübersetzung) „Sei nicht allzu gerecht und allzu weise. Damit du dich nicht zugrunde richtest“ )Also sehr viel Weisheit richtet zugrunde? Vers 17: „Sei nicht allzu gottlos und sei kein Tor, damit du nicht sterbest vor deiner Zeit“. Also: Etwas gottlos, etwas religionskritisch soll der Weise durchaus sein. In der Katholische Einheitsübersetzung heißt Vers 17 viel milder und moderater: „Entferne dich nicht zu weit vom Gesetz…“ Auch die Züricher Bibel ist da radikal: „Sei nicht überfromm und gebärde dich nicht gar zu weise. Warum willst du dich zugrunde richten?“ Vers 17: „Sei auch nicht zu gottlos und sein kein Tor…“ Das muss erst noch theologisch bearbeitet werden: Ein biblischer Autor, dessen Buch als kanonische Schrift in der Bibel (Altes Testament) versammelt ist, gibt den Rat: „Sei nicht zu gottlos…“ Also: „Ein bisschen gottlos solltest du sein“ Aber was heißt ein bisschen?

Auch wenn immer wieder betont wird: Wie sinnlos, wie verhauchend und verschwindend alles ist: Dennoch wird da keine Sinnlosigkeit verbreitet, weil eben alles umrahmt und verbunden ist mit dem ewigen Gott. Der Gott Kohelets ist kein deistischer Gott, kein „Uhrmacher – Gott“ des 17. Jahrhunderts…

Zentral ist dann doch: Angesichts der totalen Windhauch- Struktur allen Lebens empfiehlt Kohelet der Jugend doch eine ausgelassene Freude am Leben, mit üppigem Essen und Trinken. Nirgendwo wird sonst in der Bibel so deutlich der üppige Lebensgenuss geradezu empfohlen, allerdings nur für die Jugend. Wo bleibt der Genuss für die Alten?

Aber diese kleinen Freuden des Lebens gönnen sich die Menschen in einem Bewusstsein, dass sie eigentlich nicht wissen, was das Ganze, was das Leben sinnvoll macht; nur der Glaube bleibt: dass Gott alles geschaffen hat und er alles vorherbestimmt. (Ob da Anklänge an Gnade und Prädestination – also bei Paulus im Römerbrief – durch scheinen, ist ein anderes Thema) „Wir sind Gottes Hand aufgehoben“: Das ist das zentrale Bekenntnis, „auch wenn wir mehr nicht wissen“.

Oft ist von Furcht Gottes“ die Rede. Dies ist eine Haltung, die im Alten Testament oft beschrieben wird, denn Jahwe hat in der Geschichte furchtbare Taten vollbracht, etwa die Ägypter vernichtet und wunderbar sein Volk erwählt und gerettet. Die Gottesfürchtigen sind die Frommen. Der Gottesfürchtige fühlt sich geborgen. Gottes Furcht ist Gehorsam gegenüber Gottes unergründlichem Willen. „Gottesfurcht ist der Weisheit Beginn“. Und ist eine Form der Unterwerfung unter die Allmacht Gottes. Gibt es im Neuen Testament noch diese Gottesfurcht?

2.Weisheit in der griechischen Philosophie. Ein knapper Hinweis fürs Weiterstudium.

Die griechische Philosophie in der Antike war in viele unterschiedliche Schulen gespalten. Wer in eine Schule eintrat, musste die Lehre des Meisters verinnerlichen, d.h. auswendig lernen, darauf weisen die Studien von Pierre Hadot immer wieder hin. Jeder Schüler einer Schule sollte die zentralen Lebensweisheiten immer „griffbereit“ für alle (schwierigen) Lebenslagen zur Verfügung haben.

Das wussten auch die frühen christlichen Theologen, indem sie den kirchlichen Glauben auch als SCHULE bezeichneten und ihn der Konkurrenz zu den anderen Schulen aussetzen. Durch die Kirchenpolitik der Kaiser setzte sich dann diese christliche Schule (eigentlich schon immer schon in sich selbst in Vielfalt) dann machtvoll durch und zerstörte die anderen philosophischen Schulen.

Ich will zu diesem komplexen Thema nur einige Hinweise geben:

Etwa in der Stoa und bei Epikur: Es geht beiden Schulen um die Erlangung der Ataraxia, der Ruhe im Leben, durch konkrete Übungen und Weisungen. Und man kann fragen: Ist diese ganze Windhauch Lehre von Kohelet nicht auch ein Einüben der Atarxia, der Unerschütterlichkeit? Ich denke, so ist es. Gerade dies hat Kohelet von den griechischen Philosophen gelernt!

Wenn man nur den Text „Selbstbetrachtungen“ (am Ende seines Lebens, um 172 nach Chr. geschrieben)   von Marc Aurel betrachtet, gibt es durchaus inhaltliche Anklänge an Kohelet: Etwa im 6. Buch, Nr. 15: Da ist vom ständigen Werden und Vergehen die Rede, also gewissermaßen vom Windhauch. „In diesem Strom kann man keinen festen Fuß fassen..“

Und doch ist Marc Aurel konkreter in seinen Hinweisen zum Umgang mit dieser Situation, in Nr. 16 schreibt er: „Was bleibt aber wirklich Achtungswertes übrig? Ich glaube dieses: Dich nach den dir innewohnenden Fähigkeiten zu rühren (tätig zu sein) und Zweckentsprechendes zu schaffen…“   Also in einer Situation des „Windhauches“ bzw. des ständigen Fließens kann der Mensch doch etwas konkret „aus sich machen und Gutes für die Welt tun“. Irgendwie wird der Gedanke einer verbesserlichen Welt, einer Weltgestaltung durch den einzelnen, bei den Griechen besser ausgesagt. Von einem expliziten Willen zur Weltgestaltung sehe ich bei Kohelet nicht so viele Anregungen.

Angesichts der vielen belastenden Erfahrungen, in denen so vieles, wörtlich „eitel, modernd, nichtig ist“ (N. 33 im 5. Buch, gib Marc Aurel den Ratschlag: Alles, was außerhalb deiner geistigen und körperlichen Sphäre ist, „ist nicht dein und hängt nicht von dir ab“, also kümmere und sorge dich nicht darum (Nr. 33). „Bedrückend sein kann für den Menschen nicht das Vergangene und Zukünftige, sondern nur das, was ist, was jetzt ist. (N. 36 im 8. Buch).

Nebenbei: Philosophie muss von „Sophismus“ unterschieden werden: Dies nur am Rande: Sophismus kommt vom Verb sophitestai, also ausklügeln, sich etwas ausdenken, kluge Worte machen, auch als Propaganda, auch als Irreführung: “Es gibt ja sowieso keine Wahrheit“… Ein Sophist kann jede noch so abwegige Theorie logisch scheinbar begründen und verteidigen. Darum waren sie oft auch glänzende Rhetoriker. Sie sind die „Relativisten“, die Sokrates als Ethiker verschmähte… Sokrates setzte sich mit Sophisten auseinander, etwa Kritias und Alkibiades… Sophisten arbeiteten philosophisch für Geld. Philosophen taten es gratis, wie Sokrates… Sophisten sind heute wohl viele Rechtsanwälte.

3.Welche Weisheit ist hilfreicher? Kohelet oder Marc Aurel „Selbstbetrachtungen“?

Diese Frage kann jeder für sich beantworten natürlich.

Der Eindruck ist wohl gültig: Schon aufgrund seines größeren Umfangs sind die “Selbstbetrachtungen” von Marc Aurel wesentlich differenzierter und konkreter als das Buch Kohelet. Das wird etwa deutlich, wenn Kohelet der Jugend empfiehlt: „Wandle, wie es deinem Herzen gelüstet und genieße, was deine Augen schauen“ (11. Kap. Ende)

Essen und Trinken als Lust wird auch in Kap. 5 empfohlen als Gabe Gottes. Aber alles wird auf die Jugend bezogen. Aber im Unterschied etwa zu Epikur wird nicht eine Lehre des reflektierten Maßhaltens geboten! Und der junge Genießer in Jerusalem soll auch schon wissen, „dass um alle diese genussvollen Dinge wird Gott dich vor Gericht ziehen“. (Ende 11. Kap.) Der Gedanke an Gottes Gericht soll vor allzu großer Üppigkeit warnen.

Da sind mir die griechischen Philosophen sympathischer und reflektierter: Sie wollen den Genuss in seinen Exzessen dadurch eingrenzen, dass sie auf das Wohl, auch das körperliche, des Genießenden acht geben. Sie argumentieren, aber drohen nicht mit einem rächenden Gott. Etwa bei Epikur ist das deutlich. Die Bibel bietet keine argumentative Weisheitslehre zur Ataraxia, zur lernbaren Unerschütterlichkeit, oder zum Gleichmut und zur Ausgeglichenheit! Dies tun die griechischen Philosophen. „Erwache und finde dich selbst wieder“, sagt Marc Aurel, Nr. 16 in Buch 6. „Erwache zu dir selbst“: Dieses Ernstnehmen der Entwicklung des eigenen Lebens fehlt mir im Buch Kohelet.

Ich meine: Kohelet spricht von einem sehr überlegenen, endgültigen Status aus, wie in einem Blick aus der Ewigkeit heraus spricht er und muss dann, sub specie aeternitatis, fast alles auf der Welt und im begrenzten Leben des Menschen, eben NICHTIG zu finden. Er sieht in dieser Sicht von oben alle Menschen eingesperrt in ein Leben zwischen (eigentlich abzulehnender) Geburt und dem Versinken in ein Nichts im Tod. Diese Beurteilung alles Lebendigen und Konkreten aus der Ewigkeit heraus ist problematisch: Dieser Standpunkt ist nur in der HINSICHT des Überblicks auf das gesamte Leben formal gültig. Es fehlt „trotzdem“ die Lust, Details zu entwickeln.

Ich finde die Aussage in Kohelet auch falsch: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“. Natürlich, alle Menschen sterben. Dennoch gibt es auch positive Entwicklungen, vielleicht sogar doch Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit. Dass heute sehr viele Menschen die universal geltenden Menschenrechte richtig finden, ist ein Fortschritt, selbst wenn sich sogar demokratische Politiker aus Egoismus etc nicht daran halten.

Ich finde die Aussage Kohelet falsch: Je mehr Wissen, desto mehr Schmerz.

Heute gar nicht annehmbar ist das Denken, auch der Krieg habe seine Zeit, also seinen Kairos. Gewöhnung an den Krieg als etwas weisheitlich Normalem ist grundlegend falsch.

Ende von Kap. 3 dieser furchtbare Satz: Der Mensch hat vor dem Tier keinen Vorzug.

Kurz und gut: Man lese manchmal das Buch Kohelet, kehre dann aber zum eigenständigen, umfassend slebstkritischen Denken der Philosophie zurück.

Wie viel seelisches (Un)Heil dieses Buch Kohelet unter den Frommen angerichtet im Laufe der Jahrhunderte der immer wiederholten Lesung im Gottesdienst und der privaten Lektüre, wäre eine interessante Studie.

Für Kohelet endet offenbar das menschliche Leben mi dem Tod. In der christlichen Tradition hingegen haben sich, den Evangelien folgend, Vorstellungen von der Auferstehung durchgesetzt, als Formen des Ewigen im Menschen. LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Literaturhinweis:

Norbert Lohfink, Kohelet, Ein Kommentar, Echter Verlag, 3. Aufl. 1986, 86 Seiten. Antiquarisch preiswert zu haben!

Die Weisheit des Alten Testaments. DTV und C.H. Beck Verlag, 2007 (hg. Bernhard Lang) . 6 Euro.  Aus der empfehlenswerten preiswerten Kleinen Bibliothek der Weltweisheit. Nebenbei: Dort auch von Baltasar Gracian, Handorakel und Kunst der Weltklugheit.

Zur griechischen Weisheit der Philosophen:Sie die wichtigen Werke des Philosophen Pierre Hadot. Sieh den Link zu einem Beitrag von Christian Modehn