Für einen Glauben in der Alltagssprache. Zur Debatte um eine esoterische oder exoterische Religiosität und Theologie

Für einen Glauben, der sich in der Alltagssprache, argumentierend, ausspricht

Ein Beitrag von Christian Modehn

Veröffentlicht in der empfehlenswerten Zeitschrift PUBLIK FORUM, Heft 21, 2014. (Probeexemplare etc.: http://www.publik-forum.de/ )

Vielen Menschen erscheint der christliche Glaube als mysteriöse Geheimlehre. Doch um »verborgene«, also esoterische Wahrheiten geht es dabei nicht. Nötig sind verständliche Argumente – sonst verspielen die Kirchen ihre Zukunf.t

Gott lässt sich nicht definieren. Er ist wesentlich Geheimnis. Darin sind sich Christen einig. Aber bei diesem kleinsten gemeinsamen Nenner halten sich die besonders Frommen nicht lange auf: Wer meint, nicht nur berufen, sondern auserwählt zu sein, glaubt dennoch, in die Tiefen der geheimnisvollen Gottheit schauen zu können. Andere empfangen Privatoffenbarungen und veröffentlichen Schriften für Eingeweihte. Auch Mystiker suchen, wie ihr Name sagt, die »verborgene«, die »innere« Wahrheit. Die Mystik hat privat ihr gutes Recht. Aber kann sie Sache aller sein? Schon seit der frühen Kirche gibt es Einzelne und Gruppen, die sich für besonders erleuchtet halten und von den anderen Christen abgrenzen. Sie werden in der Religionswissenschaft »Esoteriker« genannt oder Freunde des Okkulten, des Verborgenen. Sie »stoßen durch zum Kern des Wesentlichen«, wie sie gerne sagen. Wouter J. Hanegraaff, Professor für »hermetische, esoterische Philosophien« an der Universität von Amsterdam, erinnert daran, dass ältere esoterische, christlich inspirierte Gruppen bis heute neben den großen Konfessionen existieren, etwa die Rosenkreuzer oder die Kirche des Sehers Emanuel Swedenborg. Auch in den großen Kirchen sind Gruppen, die sich im Besitz esoterischer Weisheiten wähnen, bis heute vertreten, wie etwa das Engelwerk innerhalb des Katholizismus. Den Wissenden und Eingeweihten stehen die anderen, die »Exoteriker«, gegenüber. Sie bilden die große Masse der Glaubenden. Diese »normalen Frommen« halten sich an die vorgegebenen Riten und Gebote. Sie sprechen treu die kirchlichen Glaubensformeln nach, ohne dabei »verzückt« zu werden. Sie leben also in der Sicht der Esoteriker eine veräußerlichte, »flache« Frömmigkeit. Bewusste Exoteriker geben dem Verstand Raum in ihrem Glauben, respektieren die historisch-kritische Bibelforschung und fragen manchmal auch skeptisch nach, was denn genau ein Esoteriker in der »Tiefe« erlebe oder erlebt habe. Im Streit zwischen Esoterikern und Exoterikern geht es im Kern um die Frage, welche Bedeutung der Vernunft im Christentum zukommt: Lässt sich der christliche Glaube über Argumente erschließen, oder ist er eine mysteriöse Geheimlehre? Die Antwort wäre: Wer dem Christentum eine Zukunft wünscht, muss seinen exoterischen Charakter unterstützen. Denn ohne den Gebrauch der allen gemeinsamen Alltagssprache, verbunden mit theologischem Nachdenken, bleibt alles im Subjektiven und wird dann möglicherweise schnell suspekt

Das Problem ist nur: Exoteriker fühlten sich ihrer eigenen Sache nie ganz sicher. Sonst hätte die machtvolle kirchliche Hierarchie die Esoteriker nicht immer wieder ausgegrenzt oder gar ausgelöscht. So hat sich die frühe Kirche intensiv mit den von Geheimnissen »Wissenden«, den Gnostikern, auseinandergesetzt und sie als nicht authentisch jesuanisch abgelehnt. Seitdem eine populäre Esoterikwelle – auch »New Age« genannt – das kulturelle Klima mit bestimmt, sind die Kirchen verunsichert: Sie versuchen als Konkurrenz zu New Age aufzutreten und entdecken dabei etwa die »Strahlkraft der Engel«. Um den Anschluss an die spirituellen Wellness-Wellen nicht zu verpassen, bieten Klöster für teures Geld esoterische Aromatherapien oder Genesungsweisen nach Hildegard von Bingen an. Ganz selbstverständlich pflegen sie nun zuweilen die spirituellen Wurzeln der Astrologie und entdecken in den Tarot-Karten »spirituell inspirierende« Weisungen. Schnell wird man zum Irrlehrer Bei dieser eher taktischen und ökonomisch interessierten Übernahme gängiger esoterischer Praktiken verdrängen die exoterischen Christen und ihre Theologinnen und Theologen allerdings die Erkenntnis, dass ihre eigene klassisch-christliche Frömmigkeit ebenfalls immer schon esoterisch geprägt war und ist. Nur zwei von tausend Beispielen: »Im Kreuz Jesu Christi ist Heil«, heißt es. Oder: »Am dritten Tage geschah die Auferstehung Christi.« Das sind esoterische Aussagen, Aussagen über innere Erfahrungen also. Die Frage ist: Kann man diese existenziellen Erfahrungen auch exoterisch, also allgemein verständlich formulieren? Es könnte doch auch ein Christentum geben, das die überkommene esoterische Lehre nach den Grundsätzen der Vernunft reinigt und sich nur an wesentliche Einsichten hält, zum Beispiel: Gott ist Liebe; Gott ist Geheimnis; Jesus ist ein vorbildlicher Mensch … Aber wer solches sagt, gerät schnell in den Verdacht, ein Häretiker zu sein, ein Irrlehrer also. Eine moderne »liberale Theologie«, die an diesen Themen arbeitet, bleibt deswegen leider randständig. Und so sind die Kirchen hin- und hergerissen zwischen einer eher unverständlichen, esoterischen Lehre und der Aufgabe, sie vernünftig, in allgemein nachvollziehbarer Sprache auszusagen. Ein ungelöstes Problem! Es besteht seit den Anfängen der Christenheit: Zu den Erinnerungsfeiern an das letzte Abendmahl Jesu waren in der Urkirche nur Getaufte zugelassen; die anderen, die »Interessierten«, durften Bibellesung und Predigt hören, mussten dann aber den Raum verlassen. Eucharistiefeiern waren esoterische Veranstaltungen wie in einem Geheimbund. Erst als die Kirche als Staatsreligion für alle machtvoll auftrat, wurden die Eucharistiefeiern allgemein zugänglich. Die esoterische Sprache aber blieb. Auch frühchristliche Theologen bevorzugten die Zuwendung zu den »Eingeweihten«. Der Kirchenvater Cyrill von Jerusalem (313-386) schärfte seinen Gemeinden ein, nicht über alle Themen offen, also exoterisch, zu sprechen. Über die Dreifaltigkeit des einen Gottes sollte keine öffentliche Debatte stattfinden, »damit die unwissenden Heiden nicht darüber lachen«, wie der Theologe Athanasius von Alexandrien (295-373) betonte. Das Thema erschien zu anstößig. So viel Angst kannte Jesus von Nazareth nicht: In seinen sehr wahrscheinlich authentischen Gleichnisreden fällt die exoterische, die allgemein verständliche Sprache auf. Esoterisches Geheimwissen teilt er selten mit, meist nur dann, wenn er vom bevorstehenden Kommen des Reiches Gottes sprach. Jesus wollte die eigene Gotteserfahrung unter den Juden allgemein verständlich leben und aussagen – mit all den auch individuell und politisch unbequemen Konsequenzen. Sein Tod am Kreuz ist Beweis dessen, dass er sich sehr gut verständlich machte und damit den Hass der Traditionalisten und Mächtigen auf sich zog! Die schlichte, allgemein zugängliche und deswegen politisch wirksame Sprache Jesu lebt bis heute bei jenen Christen etwa in Lateinamerika fort, die das Evangelium als eine Botschaft der auch von Gott gutgeheißenen Menschenrechte verteidigen. Bischöfe wie Oscar Romero, Helder Camara oder Erwin Kräutler verkündeten und verkünden keine esoterische Geheimbotschaft, sondern ein allgemein-menschliches, ein argumentierendes Evangelium.

Aber bestimmend sind im Frömmigkeitsleben der Kirchen nach wie vor esoterische Inhalte und Praktiken. Nur so ist die offizielle Unterstützung für jene »heiligen Orte« zu verstehen, an denen Maria, die Mutter Gottes, erschienen sein soll; oder der Kult um uralte Gebeine, Reliquien genannt. In den (öffentlichen) Gottesdiensten werden noch heute Lieder gesungen, deren Inhalt sich nur eingefleischten Esoterikern erschließt, wie etwa ein Passionslied von Paul Gerhardt, in dem es in der ersten Strophe heißt: »Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld der Welt und ihrer Kinder.« Der esoterische Glaube einer frommen protestantischen Seele aus dem Jahre 1647 kann in der privaten Frömmigkeit durchaus einen Platz haben, nicht aber in der Öffentlichkeit eines Gottesdienstes, an dem vielleicht auch Skeptiker oder Atheisten teilnehmen. Innige Gefühle in verständlicher Sprache Insgesamt dominiert in den christlichen Gottesdiensten bis heute die esoterische Geheimsprache. Wer versteht im offiziellen Glaubensbekenntnis die Worte über Jesus von Nazareth, Logos genannt, er sei »vom Vater gezeugt, aber nicht geschaffen«? Wer versteht im Moment des Sprechens, dass der gestorbene Jesus »in das Reich des Todes hinabgestiegen« sei? Die offizielle Theologie, die sich im Römischen Katechismus ausdrückt, ist voller esoterischer Überzeugungen, die einer historisch-kritischen Prüfung oft nicht standhalten. Die Zurückweisung des Priestertums für Frauen (»der Herr hat nur Männer zu Aposteln berufen«) ist bester Ausdruck für eine esoterische Bibeldeutung, die für den Machterhalt instrumentalisiert wird. Geheimnisvolle esoterische Lehren können als die besten Stützen der Macht gelten. Darum grenzt die Kirchenführung vielfach auch Theologinnen und Theologen aus, die den Versuch machen, die christliche Botschaft in eine exoterische Sprache, also in allgemein verständliche Begriffe und nachvollziehbare Bilder zu übersetzen. So ist zum Beispiel das umfangreiche Werk des Theologen Hans Küng zwar von seinem persönlichen Glauben getragen, aber es ist doch weitgehend exoterisch, das heißt allgemein zugänglich formuliert. Küngs Werk aber gilt in Rom weithin als suspekt, immer noch. Eine zentrale Frage lautet: Wie kann man in einer allgemein verständlichen Sprache dennoch durchaus innige, also »esoterische« Gefühle wachrufen? An dieser Aufgabe wird theologisch viel zu wenig gearbeitet. Dem niederländischen Poeten und Theologen Huub Oosterhuis ist diese Verknüpfung gelungen. Er pflegt in seinen vielen schönen Liedern die Alltagssprache, vermag aber gerade so bei modernen Menschen eine durchaus tiefe religiöse Innerlichkeit zu wecken. Man meditiere nur einmal das Lied »Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr.«

Auch der Exoteriker also kann mit seiner Spiritualität suchende, fragende, verzweifelte Menschen erreichen und in ein offenes, argumentierendes Gespräch ziehen. Nur dieser Mut, das Christliche allgemein nachvollziehbar und deswegen auch kritisierbar zu sagen, befreit die Kirchen aus der Nische der Ewiggestrigen und dem Eingeschlossensein in eine enge »unverständliche« Welt.

PS.: Dieser Beitrag in PUBIK FORUM ist ein weiterer Schritt des “Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin“, die Zusammenhänge zwischen esoterischer UND exoterischer Religiosität zu studieren und zu diskutieren.

Dass wir in unserem Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon entschieden für eine exoterische Gestalt des Christlichen und der Kirchen plädieren, hat der vorliegende Beitrag klar gemacht.

Christian Modehn.